ChiKung

Körpereinheit – der Einsatz der verborgenen Kraft

Körpereinheit ist eines der größten Ideale der chinesischen Kampfkünste und eine der „Großen 7“ Grundfähigkeiten des WingTsun. Wenn der gesamte Körper jede Bewegung, jeden Schlag als Einheit ausführt, wirkt die „verborgene Kraft“.

Ein außenstehender Beobachter kann die Körpereinheit in Aktion kaum wahrnehmen, da sie idealerweise aus sparsamster Abstimmung von Muskeln und Gelenken unter Beteiligung innerer Energieveränderungen besteht. Der Ausführende selbst fühlt dagegen umso besser, wenn sein ganzer Körper Bewegungen ausführt und Körpereinheit dadurch erreicht ist – und der Getroffene erst recht. Doch wie erreicht man diese Körpereinheit?

Bremse lösen
Zuerst gilt es, „die Bremse zu lösen“. Auf der Suche nach Körpereinheit ist nicht selten ein (scheinbares) Paradoxon zu beobachten: Der Fauststoß, der sich „im Arm“ besonders kräftig anfühlt, kommt beim Aufschlag nicht gerade kräftig an. Die Auflösung: Was sich in diesem Fall kräftig anfühlt, ist die Kraft, die unnütz im eigenen Körper aufgewandt wird und dort stecken bleibt, meist die Anspannung des Antagonisten (muskulären Gegenspielers).

Diese wirkt aber nur kontraproduktiv, stört die Harmonie und raubt die Effizienz. Stattdessen geht es auf dem Weg zur Körpereinheit darum, sich so effizient wie möglich in vollendeter Abstimmung/Koordination zu bewegen. In den Unterrichtselementen der Formen und der Sensomotorik lernen wir unter anderem, diese Gegenspieler auszuschalten, die einzelnen Körpersegmente in ökonomischer Weise anzusteuern und entspannt zu bewegen. Erst so lässt sich spüren, wie der ganze Körper als Einheit ein bestimmtes Ziel erreichen kann.

Körpereinheit herstellen
Die Körpereinheit kann dann durch spezifische Kräftigungsübungen gezielt gestärkt werden. Dazu steuern wir Muskeln über den vollen Umfang ihres Bewegungsspektrums unter komplettem Körpereinsatz gegen den Widerstand eines Partners an.
Wir gehen dabei Schritt für Schritt vor: Zunächst setzen wir uns eine klar definierte Aufgabe wie z.B. das Wegschieben des Partners mit einem Faust- oder Handflächenstoß, startend ganz dicht vor dem eigenen Körper. Wir versuchen dies zuerst gegen den maximalen Widerstand des Partners, der keine Bewegung zulässt. So spüren wir, „wo es fehlt“, welcher Teil der Kette am schwächsten ist.
Als nächstes gibt der Partner dosiert nach und lässt die Bewegung langsam zu. Wir fühlen dabei, wie nach und nach eine Kette von Muskeln zusammenwirkt, um die Aufgabe zu erfüllen. Das schwächste Glied der Muskelkette wird dabei zunächst besonders gestärkt, was dazu führt, dass das Gesamtkonstrukt insgesamt leistungsfähiger wird. Durch mehrfache Wiederholungen wird das Zusammenspiel immer weiter verbessert und werden alle Teile der Kette gekräftigt.

Im Unterschied zu einer Übung, in der man  auf dem Rücken liegt und durch einen Faust- oder Handflächenstoß gegen Widerstand nach oben isoliert den Trizeps kräftigt, arbeitet bei der zuvor geschilderten funktionalen oder ganzheitlichen Kräftigungsübung der gesamte Körper als Einheit mit: Die Schultermuskulatur, die Rumpfmuskulatur und auch die Beinmuskulatur werden zusammen angesteuert, um das Ziel erreichen zu können.

Selbst-Timing
Eine ganz wichtige Rolle spielt bei der Körpereinheit auch das Selbst-Timing: Wenn mehrere Körperteile sich an einer einzigen Bewegung beteiligen, ist das Ziel, dass alle gleichzeitig starten und auch gleichzeitig zum Ende kommen. Das ist insbesondere dann eine Herausforderung, wenn die einzelnen Elemente mit unterschiedlicher Geschwindigkeit ablaufen. Das Gefühl für diese Koordination der Einzelteile stärken wir mit der geschilderten Kräftigungsübung unter Einsatz des gesamten Körpers. Den letzten Feinschliff erhalten wir, indem wir die vorher definierte Aufgabe in „Echtzeit“ ohne Widerstand ablaufen lassen, also den Faust- oder Handflächenstoß gegen ein auf Schlagabstand gehaltenes Polster ausführen. Durch Rückmeldung von dem/der Partner/in können wir feststellen, welche Kraft tatsächlich „ankommt“. 

Körpereinheit verschafft also die Fähigkeit, die vorhandene Kraft unterschiedlicher Muskeln koordiniert gemeinsam einzusetzen und damit eine größere Wirkung zu erzielen, als das sonst möglich wäre. Das ist ein für alle in jeder Situation erstrebenswertes Ziel – und sei es nur, um die Anstrengung für eine gegebene Bewegung zu minimieren. Es hilft nicht nur für den Kampf: Mit Körpereinheit gelingen auch alltägliche körperliche Aufgaben ebenso wie sportliche Herausforderungen mühelos, quasi „wie von selbst“.

Text: Petra Weipert
Fotos: hm/Fotolia