Wissenswertes

Daoismus und WingTsun

Wer über das Dao spricht, kennt es nicht. Und wer es kennt, spricht nicht darüber.“ Immer wieder schön, wenn es einem so leichtgemacht wird, über ein Thema zu schreiben… Es liegt auf der Hand, dass wir hier nur Ideen vorstellen können, naheliegende Parallelen zwischen der Geisteshaltung des Daoismus und dem für WingTsun-typisch angenommenen Bewegen. Was wird dabei in einer realistischen Konfliktsituation umgesetzt? Wo beginnt die reine Kampfkunst? Diese Fragen muss jeder für sich je nach seinen Möglichkeiten, Vorlieben und Vorstellungen entscheiden.

Es gibt ganz unterschiedliche Perspektiven – sozusagen verschiedene Brillen, die wir aufsetzen, um dieses Thema zu betrachten: Wir können einerseits die Einflüsse auf den Inhalt des Kämpfens, die Theorie anschauen. Andererseits aber das gemeinsame Training oder die philosophisch zugrunde liegende Idee, die Kampfkunst sei ein Instrument, um sich persönlich zu entwickeln, beleuchten.
 

Zweikämpfen und Philosophie

Die Philosophie des Daoismus lässt sich nicht so leicht mit dem Kämpfen vereinbaren. Allgemein verabscheut der Daoismus Kriegskunst, denn sie geht entsprechend ihrer Natur gewaltsam vor und will gegen einen (gegnerischen) Willen ein Ziel erreichen. Wie lassen sich diese Widersprüche nun annähern?
Axel Binhack behauptet, es gäbe verschiedene Möglichkeiten, einen anstehenden Kampf zu begrenzen. Dabei wäre die „edelste“ Methode, den körperlichen Kampf überhaupt nicht erst stattfinden zu lassen. Am besten kennt man die Abläufe, wie sich eine Situation bis hin zum Kampf aufschaukeln kann. Ein Stichwort dazu: Ritualkampf. Weiß man, mit einem solchen Geschehen umzugehen, handelt man entsprechend zu verschiedenen Zeitpunkten (selbst)bewusst. Ein Kampf lässt sich so vermeiden. Noch besser: Man gerät gar nicht mehr in eine Konfliktsituation, indem man im Vorfeld selbstbewusst und sich seiner Wirkung bewusst auftritt.

Ist der Kampf nicht vermeidbar, geht es nicht darum, den eigenen Willen dem anderen aufzuzwingen. In erster Linie soll verhindert werden, dass der andere uns seinen Willen aufzwingen kann. Wir lassen seine Energie wie eine Art Spiegelbild auf ihn zurückprallen. Dies findet sich in der Formulierung des dreiteiligen Kampfprinzips des WingTsun wieder: „Bleib dran an dem, was kommt. Folge ihm, wenn es sich zurückzieht! Geh vor, wenn der Weg frei ist!“ Bezieht man es auf unser zugrunde liegendes Bewegen, folgt daraus: Statt gegen die Kraft des anderen zu arbeiten, begleiten wir seine Angriffe. Unser Körper passt sich an, so dass der Gegner seine Bewegung ungehindert fortsetzt. Seine Kraft/Energie nutzen wir zum einen, um uns selbst in Sicherheit zu bringen – Gestängetheorie von Prof. Kernspecht –, und andererseits, um einen gleichzeitigen (Gegen-)Angriff zu starten. Wir verwenden dabei seine Energie, die in unser „System“ einfließt, und richten sie umgehend gegen unseren Angreifer.
 

T’ai Chi, das universale Prinzip, und Dao, der Weg

Wenn der Daoist im I Ging, dem Buch der Wandlung, vom T’ai Chi spricht, so meint er nicht den gleichnamigen Stil, sondern die „Gesamtheit aller Dinge, ohne selbst ein Ding zu sein“. Nichts liegt außerhalb davon. Nach chinesischen Denken spricht auch vom Unwandelbaren, das sich unaufhörlich wandelt. Häufig werden die Begriffe T’ai Chi und Dao (Weg) gleichbedeutend verwendet. Allerdings erkennt man bereits an der wörtlichen Bedeutung, dass Dao eher den funktionalen Aspekt der Bewegung betont, während das T’ai Chi mehr statisch verstanden wird.

Wir können also sehr vereinfacht von einem statischen (T’ai Chi) und einem dynamischen (Dao) Gleichgewicht sprechen. Das I Ging spricht davon, dass das Wirken des T’ai Chi am einfachsten durch die Wandlung (I) zu beobachten ist. Durch die Wahrnehmung aller Sinne erkennen wir einen wesentlichen Zug der Natur: die fortwährende Veränderung und Wandlung. Dinge entstehen, entwickeln sich, lösen sich auf (Chuang-Tzu). Dieser Wandel ist nicht als Folge, sondern als Eigenschaft des ständigen Wechselspiels von Yin und Yang zu verstehen, die jeder Situation und jedem Stoff des Universums vorhanden ist.

Bewusstes Üben der SiuNimTau lehrt Eigenwahrnehmung

Beide Gleichgewichtsarten sind für das Praktizieren des WingTsun interessant. Ein statisches Gleichgewicht wird durch die Struktur bzw. Einheit unseres Körpers erzeugt. Wir lernen z.B. in der SiuNimTau das Stehen und das Wahrnehmen unserer nach innen gekehrten Yin- und nach außen gerichteten Yang-Anteile und wie sich Veränderungen unmittelbar auf unseren Körper – z.B. Schwerpunkt oder Füße – auswirken. Ein dynamisches Gleichgewicht müssen wir beim Bewegen bewahren, entweder allein oder mit einem Partner. Das können wir beim Ziehen und Schieben sehr gut beobachten.

Im Training erleben wir das dynamische Gleichgewicht u.a. im ChiSao-Training. Wir lernen, mit einwirkender Kraft umzugehen und gleichzeitig mit unserem Gleichgewicht und dem des Partners zu arbeiten. Nicht vorausdenken, was der Partner machen wird, sondern einen Kontaktpunkt herstellen und unmittelbar erfahren, welche Richtung, Geschwindigkeit der Angriff mit sich bringt und was dies mit unserem und seinem Körper macht.
 

Yin und Yang er-leben

GM Keith R. Kernspecht erklärt Yin und Yang

Yin stellt das aufnehmende Element – die elastische, begleitende Komponente – dar. Yang kann dagegen für den gleichzeitigen (Gegen-)Angriff stehen, in dem sich die im WingTsun bekannte Gleichzeitigkeit widerspiegelt (Timing). Im Yin ist aber auch bereits Yang enthalten und umgekehrt. Das bedeutet, ein über den Kontaktpunkt verbundener Arm, der den gegnerischen Angriff begleitet, hat in sich die Absicht jederzeit angreifen zu wollen. Genauso ist der angreifende Arm ständig in der Lage zum verbindenden, begleitenden zu werden. Aus zwei gegensätzlichen Aspekten wird einer. Es entsteht ein ständiger Wandel von Abwehr zu Angriff und umgekehrt. Wir sind allzeit bereit, uns jeder Veränderung anzupassen. Wir verlassen uns nie ganz allein auf eine Kraft.

Sein Yang (Angreifen) ergänzen wir durch unser Yin (Aufnehmen). Wir bauen damit ein dynamisches Gleichgewicht auf. Gleichzeitig nutzen wir unsere Yin-Reaktion um über unsere Struktur (statisches Gleichgewicht) eine Yang-Aktion (Angreifen) zu erzeugen.
 

Voraussetzung ist die mentale Einstellung – Wu Wei

Der Mensch neigt dazu, aufgrund seiner Erfahrungen sich Modelle der Realität zu schaffen und sie zusammen mit einem bestimmten Verhalten zu speichern. Dadurch besteht allerdings die Gefahr, dass er mit diesen geschaffenen Gewohnheiten um ihn herum im Jetzt stattfindende Prozesse bewertet. Er greift auf sein Gedächtnis zurück und gibt dem Ereignis Namen, verbunden mit Emotionen und geradezu automatisierten Verhaltensmustern. Erst im zweiten Schritt wird es ihm so richtig bewusst… Er nimmt die Situation gar nicht im Hier und Jetzt wahr, sondern erlebt sie quasi aus zweiter Hand. Dies kann gerade in Konfliktsituationen zu einem großen Problem werden. Seine Lösung passt in den meisten Fällen nicht zum Problem. Besser ist es statt sofort aktiv Widerstand zu leisten, der Idee des Wu Wei zu folgen, gelassen zu bleiben und natürlich zu reagieren.

Man muss lernen zu erkennen, wo es überhaupt notwendig ist zu handeln, einzugreifen. Lernen, das richtige Maß zu finden, um damit im Gleichgewicht zu bleiben – auch mental (Resilienz). Dazu ist es zunächst wichtig zu lernen, sich ohne Analyse zu beobachten. So stellt sich Aufmerksamkeit ein: „Befreie dich von deiner Kraft.“

WuWei heißt, nicht auf die äußeren Umstände „anzuspringen“ und über das Problem nachzugrübeln. Nicht versuchen, es zu analysieren: „Befreie dich von der Kraft des Gegners.“

Es werden auch keine außergewöhnlichen Fähigkeiten benötigt. Leider haben viele Menschen verlernt, die bereits vorhandenen zu nutzen – wie zum Beispiel präsent im Hier und Jetzt zu sein. Es reicht völlig, sich das Problem genau anzusehen, ohne darüber nachzudenken – nur mit allen Sinnen beobachten. Beobachtung ist das geistige Gegenstück zur Aufmerksamkeit. Beides übrigens keine verstandesmäßigen Vorgänge …

Sollte es notwendig sein, dass wir unmittelbar handeln müssen, bekommen wir einen klaren Handlungsimpuls und reagieren mühelos und angemessen. Man passt sich der jeweilig neuen Situation an und reagiert aus dem Moment heraus auf Grundlage der herrschenden Umstände – wie Wasser. Wasser versucht nicht, Hindernisse direkt aus dem Weg zu räumen, indem es den Druck punktuell erhöht. Es leistet keinen Widerstand, sondern umfließt sie. Es folgt jederzeit dem leichtesten Weg, jeder Lücke: „Ist die Kraft des Gegners zu groß, gib nach.“

Das daoistische Prinzip der Aktion ist Spontaneität. Ein wunderbarer Begriff, der darauf verweist, dass man sein Handeln jederzeit ändern kann. In Harmonie mit der Umgebung und seiner eigenen Natur lernt man der intuitiven Intelligenz zu vertrauen. Kein Zwang ist notwendig, sondern man lässt einfach das gegen die Natur gerichtete Handeln sein. Anders ausgedrückt: Erfolgreich dadurch sein, dass man den Erfolg nicht erzwingt. Damit erreicht man am Ende das Ideal: Siegen, ohne kämpfen zu müssen – „Nutze die Kraft des Gegners gegen ihn."

Dies meint auch Großmeister Kernspecht, wenn er sagt, dass WingTsun sein Knecht (= Erfüllungsgehilfe) sei, der perfekt geeignet ist, im gegenwärtigen Moment die richtige Lösung zu kreieren. WingTsun als System bietet dazu die optimalen Möglichkeiten. Wichtig ist, dass der Unterricht auch so aufgebaut wird, dass die Schüler diese Kompetenz und entsprechende Fähigkeiten lernen können!
 

Lern WingTsun – Lern etwas fürs Leben!

Kampfkunst geht für viele Trainierende über die Selbstverteidigung und das Kämpfen hinaus. Sie kann zu einem Lebensweg werden. Spätestens dann merkt man, dass es nicht um Techniken und Abläufe geht. Die Kampfkunst kann als Mittel verstanden werden, um andere Bereiche des Lebens besser zu verstehen, um die Persönlichkeit zu entwickeln. Das geschieht aber nicht automatisch, sondern ist ein lebenslanger Prozess der Bewusstwerdung.

Ein Vorteil kann sein, die Möglichkeit zu bekommen, ein Leben in der Mitte zu leben, ohne in eine Richtung gebunden zu sein und so jederzeit und unmittelbar in alle Richtungen agieren zu können. Anschließend findet man dann wieder in die Mitte zurück: körperlich, gesundheitlich, emotional, geistig, in der Beziehung, in der Familie – in der Gesellschaft. Wir lernen bereits im Training, ohne Ego miteinander zu üben. Wir helfen uns gegenseitig, jeden Tag ein wenig mehr Verständnis für die Zusammenhänge zu bekommen. Warum sollte diese Einstellung nach dem Verabschieden zum Abschluss des Trainings enden?

Text: Dominique Brizin
Fotos: mg