Vom WT-spezifischen Gleichgewicht
Weil er über die Grundfähigkeit der WT-spezifischen Balance verfügt – die nur durch spezielle Übungen erreicht werden kann. Quasi als Nebenwirkung stellen sich sogar positive mentale Auswirkungen ein…
Physikalisch spricht man vom Gleichgewicht, wenn alle auf ein Objekt einwirkenden Kräfte sich gegenseitig aufheben. Der Grundsatz klingt simpel, ist in der Bewegungspraxis aber überaus komplex.
Statisches Gleichgewicht
Dabei kann man zunächst das Gleichgewicht einer Person isoliert für diese selbst betrachten. Dieses liegt vor, wenn u.a. der Schwerkraft die Muskelkraft entgegensteht, die das Skelett in einer aufrechten Position hält. Mit den Augen und unserem „Gleichgewichtsorgan“ (dem Vestibularapparat im Innenohr) nehmen wir unsere Position im Raum wahr, um diese Balance herzustellen.
Grundsätzlich gilt hierbei: „Leicht ist richtig.“
Ist der Körper optimal ausgerichtet, braucht die Muskulatur nur wenig Haltearbeit zu leisten. Auf der Basis des Skeletts trägt sich der Körper quasi von selbst (ähnlich Bauklötzchen, die exakt aufeinandergestapelt sind). Dies suchen wir mit dem geraden Ausrichten des Körpers am Anfang der SiuNimTau zu erreichen, wenn wir das Becken aufrichten und das Kinn zurückziehen. Im Unterschied dazu muss bei stark nach vorne gerecktem Kinn die Nackenmuskulatur erhebliche Haltearbeit leisten, um den Kopf in dieser eher ungünstigen Position zu halten – was häufig mit Nackenschmerzen quittiert wird.
Am besten sollten wir es aber natürlich gar nicht erst zu Überanstrengung oder Schmerzen kommen lassen. Eine z.B. durch sensomotorische Einzelübungen des EWTO-ChiKung geschärfte Wahrnehmung der Muskelzustände ermöglicht uns, unnötige Kraftverschwendung zu erspüren und die ungünstige Haltung durch eine ergo- und ökonomischere zu ersetzen. Ermöglicht wird dies u.a. durch die Sinneszellen der Muskulatur (Propriozeptoren), die Informationen über Spannungszustände vermitteln.
Dynamisches Gleichgewicht
In den WT-Formen üben wir Balance anfangs im stabilen Stand, die Füße relativ weit auseinander, die Knie leicht gebeugt und nach innen gerichtet. Dies ähnelt der Konstruktion des Eifelturms, die Winddruck auf den oberen Teil des Turms effizient in den Boden ableitet. Werden aus dieser Position die Arme nach vorne, zur Seite, nach hinten geschoben, wirken ähnliche Kräfte wie beim Winddruck des Turms und wir üben (normalerweise unbewusst), unsere Haltemuskulatur so anzusteuern, dass wir trotzdem stehen bleiben können.
Allerdings ist unser Gleichgewicht selbst im IRAS nicht identisch mit der starren Standfestigkeit eines Bauwerks. Schließlich sind wir als lebende Organismen stets in Bewegung. Moshé Feldenkrais betont in diesem Zusammenhang: „Das Wort Haltung suggeriert etwas Statisches, die menschliche Haltung ist jedoch ein dynamisches Gleichgewicht.“ Dies gipfelt im letzten Satz der BiuDjie darin, dass durch Bewegung des Oberkörpers und der Hüfte die Grenzen des Gleichgewichts und Möglichkeiten der Wiedergewinnung desselben ausgelotet werden. Das wird umso schwerer, je labiler die Basis ist – z.B. wenn wir in den sensomotorischen Partnerübungen des EWTO-ChiKung auf einem Bein stehen und uns ein Partner so am Arm zieht, dass wir gerade noch balancierend stehen bleiben können.
Aber auch bei einem Körper, der sich fortbewegt, kann ein Gleichgewicht von Kräften vorliegen. Solches üben wir z.B. in der ChamKiu während der Schritte und Tritte.
Dynamisches Gleichgewicht mit Fremdeinwirkung
Dies alles ist jedoch lediglich die Basis der für die Selbstverteidigung wichtigen Balance: des Gleichgewichts in einem System aus mehr als einem Körper. Großmeister Kernspecht beschreibt diesen für das WT besonders wichtigen Aspekt in seinen wissenschaftlichen Untersuchungen zu den Großen 7 als „Gleichgewicht gegen einen anderen“.
Als Vorbereitung kann u.a. der Umgang mit Kräften durch Einsatz körperfremder Gewichte dienen – wie etwa in der Langstock- oder Doppelmesserform. Bei der von uns hervorgerufenen Bewegung der Waffen und der infolgedessen auf unseren Körper einwirkenden Kräfte handelt es sich aber immer noch um vorhersehbare, da „selbst verursachte“ Kräfte. Richtig komplex (und interessant) wird es jedoch, wenn fremd verursachte Kräfte aufgehoben werden müssen, die auf uns einwirken, weil der Gegner etwa zieht oder schubst.
Um aktive Einwirkungen des Gegners ausgleichen zu können, ist Aufnehmen und Nachgeben durch Verformung des Körpers angesagt. Im Kontakt gibt uns der Tastsinn zusätzliche Informationen über unsere Position im Verhältnis zum Gegner, so dass wir die von außen zugeführte Kraft neutralisieren können. Dabei kommt es vor, dass wir uns labil in einer Position befinden, die nur durch (kurzfristigen) Einsatz von außergewöhnlicher muskulärer Haltearbeit zum eigenen Gleichgewicht erreichbar ist. Unter anderem in den sensomotorischen Partnerübungen des EWTO-ChiKung zum Ziehen und Drücken lässt sich dieses Gleichgewicht im Verhältnis zu einem anderen eingehend erspüren. Übt man das gar im Kreis mit mehreren Partnern gleichzeitig (wie z.B. letztes Jahr auf dem Internationalen Lehrgang in Hockenheim unter dem Motto „Beweglichkeit“) wird die Anforderung noch komplexer. Wie auch beim Kampf mit mehreren Gegnern ist dabei die Lernskala nach oben offen. Ein Ende ist nicht in Sicht!
Positiv lässt sich schließlich festhalten, dass durch das Training der WT-spezifischen Balance (ob allein oder mit einem Partner) automatisch auch das Gleichgewicht für den Alltag außerhalb von Selbstverteidigungssituationen geschult wird.
Das gilt zum einen körperlich: Einem geschulten WT-ler fällt es leichter als einem Couch-Potatoe, seinen Körper in herausfordernden Situationen in Balance zu halten – sei es auf der Slackline, dem Snow- oder Surfboard oder auch nur im schwankenden Bus.
Mentales Gleichgewicht
Zum anderen gilt das über die Wechselwirkung von Körper und Geist gleichfalls auf mentaler Ebene. Wie die zuvor auf physischer Ebene betrachteten einzelnen Körper oder Systeme aus mehreren Körpern sind auch das seelisches Gleichgewicht einer Person oder soziale Beziehungen mehrerer Personen (Freunde, Kollegen) mit einwirkenden Kräften (Störungen) konfrontiert. Das durch die körperlichen Übungen Verinnerlichte kann uns hierbei als Instrumentarium dienen, von uns selbst wie von anderen psychisch auf uns ausgeübten Druck zu neutralisieren und Balance zu erhalten. Genau wie bei körperlichen Kräften müssen wir die Einwirkung zunächst erkennen, ihr dann in Maßen flexibel nachgeben, letztlich aber Gleichgewicht behalten – d.h. wir selbst bleiben, ohne uns zu sehr zu „verbiegen“ oder aufzugeben. Alles in allem ist diese „innere Balance“ ein Element der „dritten Ebene des WT“ und ein überaus erstrebenswerter Effekt unserer faszinierenden Kampfkunst …
Text: Petra Weipert
Fotos: Jêrome ; fotolia; mg