Wissenswertes

Großmeister Yip Man

Als Großmeister Yip Man am 02. Dezember 1972 in Hongkong an den Folgen von Kehlkopfkrebs im Alter von 79 Jahren starb, hinterließ er nicht nur eine trauernde Familie und eine große Anzahl von Schülern. Er hinterließ auch ein Erbe, dessen Früchte wir noch heute in Form einer Kampfkunst ernten, die sich stets der Zeit angepasst hat, ohne ihre Wurzeln zu vergessen oder zu verleugnen. Und er hinterließ eine Lebensgeschichte, wie sie eines wahren Kampfkunst-Großmeisters würdig ist. So würdig, dass im Jahr 2008 – 36 Jahre nach seinem Tod – ein großer Kinofilm aus Hongkong die Geschichte seines Lebens nacherzählt.

Yip Kai Man
Der Großmeister wurde 1893 unter dem Namen Yip Kai Man als drittes von vier Kindern geboren. Seine Eltern Yip Oi Dor und Ng Shui hatten bereits einen Jungen und ein Mädchen. Nach Kai Man wurde noch eine Tochter geboren.
Die Familie Yip war recht wohlhabend und besaß Grund und Boden. Es wäre ein Leichtes für den jungen Yip Man gewesen, das Leben eines verwöhnten Edelmannes zu führen. Doch früh entdeckte er seine Leidenschaft für die chinesische Kampfkunst, ein Hobby, das zu jener Zeit für ein Mitglied seines Standes eher ungewöhnlich war.

Schüler bei Chan Wah Shun
Als ca. 1905 der Wing-Tsun-Meister Chan Wah Shun – auch Wah, der Geldwechsler genannt – in Räumen der Familie Yip eine KungFu-Klasse eröffnete, war das Ziel für den jungen Yip klar. Er wollte Schüler des berühmten Schülers von Leung Jan, dem König des Wing-Tsun, werden. Chan Wah Shun verlangte viel Geld, um den jungen Yip zu unterrichten und dieser brauchte einige Zeit, um das Geld zu beschaffen. Als er es dann zusammen hatte und es Chan Wah Shun präsentierte, war dieser skeptisch und mutmaßte, Yip Man habe das Geld gestohlen. Erst ein Gespräch mit den Eltern ergab, dass sich Yip Man das Geld erarbeitet hatte. So begann Yip Man sein Wing-Tsun-Studium im Alter von 12 Jahren als 16. und letzter Schüler des großen Chan Wah Shun. Drei Jahre lang lernte Yip Man von ihm, bis 1908 Chan Wah Shun stirbt.
Chan Wah Shun war einer der wenigen Schüler, die Leung Jan, ein Apotheker aus Fatshan, hatte. Und obwohl traditionell die ältesten Söhne die Nachfolge eines Meisters antreten, wenn dieser stirbt oder sich vom aktiven Unterricht zurückzieht, so war es doch Chan Wah Shun, der Leung Jan beerbte. Dessen jüngster Sohn Leung Bik jedoch sollte im weiteren Leben Yip Mans noch eine große Rolle spielen.

Yip Man in Hongkong
Nach dem Tod von Chan Wah Shun ging Yip Man nach Hongkong, um dort auf dem St. Stephen‘s College zu studieren. Während dieser Zeit soll er das erste Mal sein Wing-Tsun benutzt haben, um eine Frau vor den willkürlichen Übergriffen eines Polizisten zu beschützen. Hier in Hongkong war es auch, wo er einem Mann begegnete, der sich gar nicht gut über die Kampfkunst von Yip Man äußerte. Eine Tatsache, die den jungen und sehr von sich überzeugten Kämpfer kränkte und erboste. Doch nach einer körperlichen Auseinandersetzung, bei der Yip Man jämmerlich verlor, stellte er fest, dass es sich bei diesem Mann um Leung Bik, den jüngsten Sohn von Leung Jan, handelte. Da Leung Bik finanziell nicht so gut gestellt war, lud Yip Man ihn ein, bei sich zu wohnen und begab sich ein weiteres Mal in die Obhut eines Wing-Tsun-Meisters, um seine Studien dieser Kampfkunst zu vertiefen.
Viele sagen, dass sich das Wing-Tsun von Chan Wah Shun und Leung Bik sehr unterschieden habe. Während Chan Wah Shun eher ein rustikaler Charakter von kräftiger Statur war, so war Leung Bik ein gebildeter Mensch mit tiefem Verständnis für Philosophie. Yip Man selbst sagte einmal, dass das Wing-Tsun Leung Biks sehr viel beeindruckender war, als das von Chan Wah Shun. Dennoch sprach Yip Man sein Leben lang von Chan Wah Shun als seinem SiFu und blieb ihm loyal verbunden.
Als Leung Bik ca. 1912 starb, kehrte Yip Man bald darauf nach Fatshan zurück.

Zurück in Fatshan
Etwa 1918 kam ein Kämpfer aus dem Norden nach Fatshan und forderte dort alle Kampfkunstlehrer zum Duell. Der Anhänger des Praying-Mantis-Stils (Gottesanbeterin-Stil) wollte herausfinden, ob der Ruf der KungFu-Lehrer aus Fatshan wirklich gerechtfertigt ist.
Aus ihrer Mitte wählten die Lehrer von Fatshan Yip Man als Vertreter und dieser besiegte den Herausforderer mit einer einzigen Bewegung. Als Retter der Ehre aller Kampfkünstler von Fatshan wurde Yip Man stadtbekannt und war hoch angesehen. Viele weitere Geschichten ranken sich um seine Erlebnisse und Kämpfe, doch diese würden den Rahmen hier sprengen.
Yip Man lebte wohlhabend, bis über China ein dunkles Kapitel in Form der Besatzung durch die Japaner hereinbrach. Dem folgten der 2. Weltkrieg und die inneren Unruhen durch die Auseinandersetzung der Kuo Ming Tang mit den Anhängern Maos, die 1949 am Ende siegreich sind und die kommunistische Volksrepublik China ausrufen.

Yip Man wird Polizist
Da Yip Man in der Zeit der japanischen Besatzung und des 2. Weltkrieges und seiner Nachwirkungen sein Vermögen verlor, nahm er ein einziges Mal in seinem Leben einen Job an: Er wurde Polizist in Fatshan und arbeitete in führender Position. Zu dieser Zeit ereignete sich der Pistolen-Zwischenfall, von dem es verschiedene Versionen gibt.
Eine schildert die Begebenheit wie folgt: Kaum hat Yip Man bei der Polizei begonnen, als er sich auch schon um einen Kidnapping-Fall kümmern muss. Als er einen Tatverdächtigen auf der Straße anspricht, zieht dieser überraschend einen Revolver. Um sein Leben bangend greift Yip Man nach der Waffe und blockiert mit seinem Griff das Drehen der Trommel, was durch den sich dann lösenden Schuss sicher seinen Tod bedeutet hätte. So aber drückt er so fest gegen die Trommel, dass diese aus der Pistole herausbricht.
Eine andere Version der Geschichte geht allerdings so: Yip Man schaut sich mit einigen Damen eine Art Prozession an, als die Damen von einem Soldaten angesprochen werden. Yip Man hat zu jener Zeit etwas gegen Soldaten im Allgemeinen und es kommt zu einer Auseinandersetzung, in dessen Verlauf der Soldat seine Pistole zieht. Yip Man reagiert sofort und reißt mit kräftigen Fingern die Trommel aus dem Revolver.
Wie es so ist – im Laufe der Zeit werden aus Geschichten Legenden, mit jeder Erzählung werden sie größer und fantasievoller, bis keiner mehr die wahre Geschichte kennt.

Wieder in Hongkong
Als sich dann die Kommunisten 1949 im Kampf um die Macht in China als siegreich erwiesen, zog es Yip Man nach Hongkong, in der Hoffnung, dort bessere Bedingungen für die Ernährung seiner Familie zu finden.
Allerdings war es für ihn nicht einfach, einen ihm vergleichbaren adäquaten Job zu finden. So lebte er zunächst in Armut. Doch auf Vermittlung eines Freundes wurde er KungFu-Lehrer der Gewerkschaft der Hongkonger Restaurant-Arbeiter. Zunächst mit wenig Erfolg, weil Wing-Tsun keine attraktiven Stellungen und Bewegungen bietet. Außerdem hielt sich Yip Man aufgrund seiner Erziehung bescheiden zurück, wenn es um die Präsentation seines Könnens ging. Nach zwei Jahren eröffnete er eine eigene Schule im Yau-Ma-Tei-Distrikt und begann, nach und nach steigende Schülerzahlen zu unterrichten. Dazu kam, dass auch die Polizei von Hongkong mehr und mehr von der Effektivität des Wing-Tsun überzeugt war und vermehrt Polizisten in seine Schule eintraten. Einigen wenigen Schülern rät Yip Man in dieser Zeit, eigene Schulen zu eröffnen.

Hong Kong Ving Tsun Athletic Association
Nach mehr als einem Jahrzehnt intensiver Arbeit, die er mit dem Aufbau seiner Schulen und dem Unterricht seiner Schüler verbringt, gründete er 1967 mit Hilfe seiner Schüler die „Hong Kong Ving Tsun Athletic Association“, um sicherzustellen, dass Wing-Tsun weiterhin auf hohem Niveau unterrichtet wird, auch wenn er sich ins Privatleben zurückzieht.
Zwei Jahre später sah Yip Man sich allerdings genötigt, wieder in das Unterrichtsgeschehen einzugreifen, nachdem eine Abordnung von Wing-Tsun-Kämpfern zum „First South East Asia Kung-Fu Tournament“ geschickt worden war und mit eher bescheidenem Erfolg zurückkehrte. Yip Man eröffnete weitere Klassen und senkte die Preise, wodurch der Bekanntheitsgrad des Wing-Tsun stieg.

Endgültiger Rückzug aus dem Unterrichtsgeschehen
Mitte 1970 zog sich der Großmeister endgültig zurück und übergab seine Schulen seinem Schüler Leung Ting, um sich in Zukunft mehr den angenehmen Seiten des Lebens im Teehaus, ins Gespräch vertieft, zu widmen. Es war auch zu dieser Zeit, dass ein Schüler Yip Mans, den er Anfang der 60er Jahre unterrichtet hatte, durch seine Filme zu Weltruhm gelangte und damit auch Wing-Tsun weltweit bekannter machte: Bruce Lee.
Im Jahr 1972 schließlich holte das Schicksal den Wing-Tsun-Großmeister ein. Mehr und mehr von seiner Krankheit gezeichnet, baut er auch körperlich ab. Nie jedoch war eine Klage zu hören, nie beschwerte er sich und blieb bis zum Schluss der bescheidene Großmeister, als den ihn seine Schüler kannten. Auf seiner Beerdigung erschienen Kampfkunst-Meister aller Stile, um dem großen Yip Man die letzte Ehre zu erweisen. Ein weiterer Beweis für die Größe der Persönlichkeit dieses außergewöhnlichen Mannes.

Text: Frank Aichlseder