ChiKung

Flow – das Aufgehen im WingTsun und ChiKung

Alles um sich herum vergessen, nicht mehr bewusst über etwas nachdenken, sondern ganz in dem Moment, der Bewegung „sein“ – das ist ein Zustand, den wir besonders genießen …

Der aus dem Englischen stammende Begriff Flow (engl. fließen, rinnen, strömen) bezeichnet das Gefühl der völligen Vertiefung und des Aufgehens in einer Tätigkeit. Im Flow-Zustand sind unser Herzschlag, die Atmung und der Blutdruck optimal synchronisiert. Wir erleben eine völlige Harmonie zwischen dem limbischen System, das die Emotionen steuert, und dem kortikalen System/Neocortex, dem der Sitz für Bewusstsein und Verstand zugeordnet wird. Mihaly Csikszentmihalyi, Professor fürPsychologie, hat diese Zusammenhänge in seiner „Flow-Theorie“ wissenschaftlich untersucht und definiert. Sie wurde ursprünglich für Risikosportarten entwickelt, zwischenzeitlich aber übertragen auf andere Tätigkeiten und auch auf geistige Aktivitäten.

Flow kann entstehen bei der Steuerung eines komplexen, schnell ablaufenden Geschehens (wie z.B. ChiSao), sofern dieses im Bereich zwischen Überforderung (Angst) und Unterforderung (Langeweile) angesiedelt ist. Was sich dann einstellt, ist Mühelosigkeit (ganz nach dem ChiKung-Motto „Leicht ist richtig“). Handlung und Bewusstsein verschmelzen, unsere Sorgen um uns selbst verschwinden, unser Gefühl für Zeitabläufe ist verändert („dem Glücklichen schlägt keine Stunde“).

Die Kampf- und Bewegungskunst WingTsun und EWTO-ChiKung enthält alles Nötige für Flow

Der Alltag der meisten Menschen ist arm an körperlichen Herausforderungen. Diesen Anreiz bieten WingTsun und EWTO-ChiKung ohne Zweifel. Auch an der Gestaltung komplexer Abläufe ist unsere Kampf- und Bewegungskunst wahrhaft reich: Schüler erlangen die Fähigkeit, ihre Bewegungen immer besser zu ansteuern. Und im Unterschied zu traditionellen Sportarten, deren Ziel mit „höher, weiter, schneller“ beschrieben werden kann, bringt unsere Kampfkunst die besten Voraussetzungen für die Erreichung von Flow mit: Wir können individuelle Einzigartigkeit und Imagination einbringen und vervollkommnen.
Über die vordergründigen Zwecke der Selbstverteidigung bzw. körperlichen Ertüchtigung hinaus, bringt nicht zuletzt dieser rauschhafte Zustand uns dazu, immer weiter zu üben. Flow ist dabei etwas grundsätzlich anderes als ein „Kick“, eine kurzzeitige, aufgeputschte Erregung. Vielmehr handelt es sich um eine länger andauernde Euphorie. Csikszentmihalyi bezeichnet dies auch als „positive Sucht“.

Wie lässt sich Flow erreichen?

Grundsätzlich ist es nur möglich, ein Podium für den Eintritt von Flow schaffen – erzwingen lässt er sich nicht. In dem Buch „Flow in Sports“ untersuchen Jackson und Csikszentmihalyi „keys to optimal experiences und performances“, die auf unsere Kampf- und Bewegungskunst folgendermaßen übertragen werden können:
Die Ausbilder gestalten den Unterricht stets abwechslungsreich und erzeugen die nötige Anregung/Spannung, damit keine Eintönigkeit beim Üben eintritt. Zum einen kann auch bei grundsätzlich identischen Übungen die Aufmerksamkeit immer wieder auf andere, neue Gesichtspunkte gerichtet werden (z.B. beim Üben der Formen). Zum anderen ist es hilfreich, Übungen stets so aufzubauen, dass eine Steigerung möglich ist.

Andererseits ist es auch wichtig, Überforderung zu vermeiden. Hierzu bietet es sich an, bei sehr komplexen Abläufen zunächst Teilaspekte zu üben und diese dann erst in einem weiteren Schritt zusammenzusetzen. Schließlich spielt bei Partnerübungen das Zusammenspiel der Übenden eine wichtige Rolle. Hier sind Hinweise der Ausbilder auf die jeweilige Aufgabe der Partner und häufigere Partnerwechsel hilfreich.
Auch wenn die Bedingungen nicht optimal sind, müssen wir das Gegebene akzeptieren, unseren Standpunkt (ich bin zu schwach für diesen Gegner, zu groß für diesen Partner) überdenken und nach Balance auch in ungünstigen Umständen suchen. Dabei hilft es, klare und spezifische Ziele bei jeder Übung zu setzen und sich gegenseitig Feedback zu geben.
Unabdingbar für Flow ist, dass wir als Übende aufhören, einen bestimmten „Erfolg“ erzielen zu wollen. Auch wenn wir durchaus beim Üben danach trachten, eine Situation zu kontrollieren, müssen wir uns andererseits stets bewusst sein, dass sie in ihrer Gesamtheit unvorhersehbar und unberechenbar ist. Das bedeutet, mit voller Aufmerksamkeit, aber nicht „verbissen“ zu üben, uns flexibel der Situation anzupassen.

Wichtig ist, sich von Angst um das eigene Ansehen zu lösen; also zu üben, ohne sich um ein mögliches Scheitern Gedanken zu machen. Dies kann als praktische Anwendung der Kraftsätze auf der „Dritten Ebene“ gesehen werden, nach dem Sinne: „Mache Dich frei von den Zwängen, die Du Dir selbst auferlegst“. Es entspricht dem Lernen wie Kinder es tun: Unbekümmert immer wieder versuchen, bis es gelingt – wie bei den sensomotorischen Übungen betont.
Vor allem aber erfordert Flow volle Konzentration auf den Prozess, also ganz bei sich selbst, ganz „wach“ zu sein (siehe dazu auch den Artikel „Identifizierung“ in WT-Welt Online vom 29.4.2011). Aufmerksamkeitsübungen im EWTO ChiKung fördern diese Fähigkeit.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Je mehr man versucht, möglichst viele dieser Elemente im Training umzusetzen, desto mehr steigt die Aussicht, das Glück des Flow zu erleben. Um mit den Worten Csikszentmihalyis (Das flow-Erlebnis, S. 236) zu enden: Ein Weg uns weiterzuentwickeln ist, zu „lernen, uns an unserem Leben intensiver zu freuen“ – das gilt insbesondere auch für unser WingTsun und EWTO-ChiKung!

Text: Petra Weipert
Fotos: fotoportrait.de, mg

Literaturhinweise:
Mihaly Csikszentmihalyi: Das flow-Erlebnis, Klett-Cotta /J. G. Cotta\\\'sche Buchhandlung Nachfolger; ISBN 978-3-608-95338-1  (deutsch
)
Susan A. Jackson/Mihaly Csikszentmihalyi: Flow in Sports, Human Kinetics Pub Inc; ISBN 978-0-88011-876-7 (englisch)