Editorial

Warum Formen Sinn machen und wie man sie übt

Das letzte Editorial schloss mit den Sätzen: „Inwiefern es von Vorteil sein kann, dass bis ins letzte Detail vorfabrizierte Techniken Teil des Kämpfers werden, erschließt sich mir nicht. Aber ich muss dieses Argument referieren, da es gerne von Vertretern der diversen Stile angeführt wird. Auch wenn Argument Nr. 3 nicht greift, machen Formen Sinn.“ Dazu nun mehr.

Formen revisited

Libet wollte den freien Willen des Menschen beweisen und bewies – ungewollt – das Gegenteil: dass wir nämlich keinen haben.

Die Chinesen erdachten lange detaillierte Solo- und Partnerformen als Unterrichtsmittel, um die Selbstverteidigungsfähigkeit zu erhöhen, und schufen damit – ungewollt – ein starkes, beinahe magisches Instrumentarium, das einen höheren Zweck auf einer höheren Ebene erfüllen kann: Es gibt uns eine ungewöhnliche Energie – eine Energie, die sonst durch das Leck, verursacht durch tägliche Sorgen, Stress und Negativität abfließt. Durch dieses Mehr an Energie erreichen wir ein höheres Niveau an Bewusstsein.

Die langen, detaillierten, choreographierten Serien oder Sequenzen saturieren (sättigen) uns mit vibrierender Bewegung. Je länger die Kette der aneinander gefügten Bewegungen, je komplizierter die Bewegungen, desto besser ist der Sättigungseffekt (Saturation), wie ihn Carlos Castaneda nennt. Hier, wo es nicht um Selbstverteidigung geht, ist mehr mehr! Hier hilft viel viel! Auch verlangen die langen Bewegungsfolgen dem ungeübten kinästhetischen Gedächtnis des Praktizierenden Hochleistungen ab.

Wie wenig wir auf dem Gebiet des Imitierens komplizierter Bewegungsabläufe vermögen, wusste schon Konfuzius in seinem Tsung Yung:
Beilstiel hacken, Beilstiel hacken, ist das Muster doch nicht fern. Aber wenn man einen Beilstiel als Muster in der Hand hält, nach dem man den neuen Beilstiel zurecht hacken kann, so muss man doch immer wieder nach ihm hinsehen und ihn betrachten; so ist er doch fern zu nennen."

Bei den Soloformen erkennt man den Schwierigkeitsgrad des Imitierens daran, dass der Schüler die Bewegungen des Lehrers nicht richtig wiederholen kann, wenn er vor ihm steht. Erst wenn er sich neben den Lehrer stellt und seine Bewegungen imitiert, hat er eine Chance, sie nachzumachen. Bei vielen genügt nicht einmal das. So ist es im ersten Satz der SNT-Form nötig, die Arme des Schülers zu führen, damit er z.B. die schwierige Passage vom Gan- zu KwanSao schafft.
Im ChiSao ist es noch schwerer, weil das Timing mit dem Partner noch erschwerend hinzukommt und die starren Formbewegungen erst noch angepasst werden müssen.

Indem wir das kinästhetische Gedächtnis des Übenden durch komplizierteste Folgen sättigen und überfordern, seine lineare Sicht und Interpretation (Beurteilung) der Dinge stören, hat der Schüler eine Chance, sich von seinem inneren Dialog (Baghwan nannte es wohl chattering) freizumachen.

Saturation, d.h. Überschwemmen des Schülers mit den Bewegungen der Formen, ist also in erster Linie ein Mittel, Bewusstsein zu erreichen.

Benutzung von Formen und Partnerformen zur Selbstverteidigung

Hier wäre Saturation kontraproduktiv. Das Gedächtnis kommt im Stress des Kampfes nicht zum Zuge. Hier muss man die lange Form in kleinste Fragmente (GM Leung Ting nennt sie „Ringe“) zerbrechen. Ich nenne das deshalb Fragmentation.

Die zwei Arten, die Formen zu üben

Die Formen haben also zwei Funktionen und müssen entsprechend auf zwei verschiedene Arten geübt werden:

• Um Bewusstsein zu erreichen, ist eine große Zahl von Bewegungen auswendig zu lernen und präzise
   auszuführen, denn hier hilft viel viel. Hier gilt auch Dim Dim Ching. Und man befiehlt sich selbst die
   Bewegung, bevor man sie ausführt (Wille und Imagination).

• Um Selbstverteidigungsfähigkeiten zu erlangen, muss man die langen Formen in kleinste Stücke (Ringe,
   Fragmente) brechen, denn hier ist weniger mehr. Die Bewegungen müssen flüssig und ohne Beteiligung
   des Bewusstseins „geschehen“.

Euer SiFu/SiGung

Keith R. Kernspecht