Editorial

Unterrichten ohne zu dogmatisieren

Auf dem Weg zum Meister hat man bereits einige Stunden seines Lebens mit dem Lernen und Lehren von WT verbracht und dabei seine Erfahrungen gesammelt. So auch Dominique Brizin, der diese in seiner Arbeit zur Erlangung des 5. PG im WingTsun einbrachte. Er beschäftigt sich mit den erforderlichen Fähigkeiten eines Ausbilders, um die Großen 7 unterrichten zu können und einen guten Unterricht zu gewährleisten.
Aus der umfangreichen Arbeit sollen hier als Gasteditorial in diesem und in nächsten Monat seine Gedanken zu zwei Themen veröffentlicht werden. Dieses Mal zum Stichwort Dogmatisieren, was in Bezug auf das WT das strenge Festhalten an bestimmten Techniken bedeutet. Dazu nun ein Auszug aus Sifu Dominique Brizins Arbeit:

Als ich letzthin an einem Lehrgang SiFu Kernspechts teilnahm und mich umschaute, kam mir eine Geschichte in Erinnerung, die ich vor einigen Monaten in einem Seminar gehört hatte:
Es ging um den Sinn der Meditation und um das Erlangen der Erleuchtung – ein nicht gerade kleines Ziel. Einige Teilnehmer fragten immer wieder nach, wie man denn nun die Erleuchtung erlangen könne und der Lama erzählte folgende Geschichte:
„Der Teufel und sein Assistent stehen auf einem Vorsprung und schauen auf einen Mann, der grübelnd im Hof hin und her geht, hin und her…
Auf einmal sehen die beiden, wie ein Blitzstrahl aus dem Himmel genau auf den Mann trifft und für einen kurzen Moment alles erhellt. Als das Licht nachlässt, sehen sie, wie der Mann freudig auflacht und glücklich scheint. Der Assistent schaut den Teufel fragend an, dann wieder den Mann, dann wieder den Teufel. Dieser gibt ihm die ersehnte Antwort: ‚Ach so, ja, der Mann da wurde gerade erleuchtet. Er hat die Wahrheit erfahren und gefunden.‘ Darauf gerät der Assistent in Panik: ‚Ja, aber das ist ja schrecklich! Wenn er das jetzt überall herumerzählt und alle Menschen die Wahrheit erfahren, dann ist es doch schlecht um unser Reich bestellt!‘ Darauf aber erwidert der Teufel in vollkommener Ruhe: ‚Ach, keine Angst. Dieser dort hat zwar die Wahrheit erfahren, aber sobald er diese jemandem weitergibt, wird der Folgende daraus ein Dogma machen. Die Menschen dogmatisieren alles und damit ist die Wahrheit auch schon verfälscht.‘
Oder wie SiFu es neulich treffend formulierte: ‚Die Menschen verwechseln allzu oft den Mond mit dem Finger, mit welchem sie auf den Mond zeigen.‘

Wie kam ich zu diesem Vergleich?

In dem Seminar mit SiFu erklärte er „ChiSao hinterrücks“, d.h. uns greift jemand von hinten an, und wir sollten lernen, damit umzugehen. SiFu betonte, da es sich um eine fortgeschrittene Techniker-Gruppe handelte, dass es nicht um eine bestimmte Technik ginge, sondern darum, dass man ein allgemeines Gefühl dafür erlange, wie man mit den Angriffen umgehe; denn schließlich sollten die fortgeschrittenen Lehrer bereits genug Sensitivität erlangt haben, um individuelle Lösungen zu finden. Er machte – exemplarisch – einige Beispieltechniken vor, um zu illustrieren, wie eine Lösung aussehen könnte. Er betonte aber mehrmals, dass es nur Beispiele seien, die sich aufgrund des Angriffes des anderen ergeben hätten.
Bald darauf schaute ich mich im Raum um und beobachtete, wie die Techniker miteinander trainierten. Man versuchte recht verbissen genau die Bewegung nachzuahmen, die SiFu kurz zuvor (als Beispiel) demonstriert hatte. Wenn die Angriffe nicht genau auf die vorher gezeigte Idee passten, wurde der Angreifer gemaßregelt, er solle so oder so angreifen.
Schade, aber noch zur gleichen Stunde sah es so aus, als ob die Ausbilder nun mit den neu erworbenen Techniken nach Hause gehen und diese unter ihren Schülern multiplizieren würden – statt die eigentliche Aussage der techniklosen, übergeordneten Idee mitzunehmen. Dies erschreckte mich etwas. Man hatte die Beispieltechniken sofort als einzige Lösungen auf die Herausforderung gespeichert und damit den rückwärtigen Angriff mit einigen, fertigen Techniken „dogmatisiert“.
Und genau da sind wir mitten in der Problemstellung: Wie vermittle ich dem Schüler einen techniklosen Stil? Wie vermittle ich die übergeordneten Ebenen – die Ebene der Strategie und Taktik und die höchste Ebene, in der es darum geht, sich seinem Ego zu stellen, dem größten Feind in uns?
Ist dies überhaupt lehrbar oder doch nur von jedem Einzelnen zu erreichen? Dies wäre die Antwort des buddhistischen Lamas offenbar gewesen, oder?
[…] Können wir Ausbilder nur kurze Impulse setzen […] oder gibt es einen Lehrpfad, den wir mit den Schülern nehmen können, um sie sicher ans Ziel zu bringen? Bedeutet das Erreichen der körperlichen Meisterschaft auch gleichzeitig, dass der Anwender die anderen Ebenen gemeistert hat – oder dass zumindest der Weg dazu geebnet wurde?

Idee meiner Arbeit

Daraus ergab sich die Grundidee meiner Arbeit: Wie kann der Unterricht effektiv aussehen? Was muss ein Ausbilder für Fähigkeiten mitbringen? Worauf sollte er achten? Wie kann man ihm einen effektiven Leitfaden zur Seite stellen, die Menschen dahin zu bringen, wo sie eigentlich hin könnten – von ihren natürlichen Fähigkeiten ausgehend? Was können wir überhaupt alles im Unterricht leisten? Geht dies doch nur im Individualunterricht oder gibt es Trainingsmethoden, in denen die Schüler sich gegenseitig zum Ziel bringen können?
Dies haben sich natürlich auch schon die Großmeister und Ausbilder früher überlegt, woraus als Beispiel die Einzel- und Partnerformen (Sektionen) entstanden, die aber – wie wir heute sehen – das Ziel nicht erreichen: Der Schüler ist dadurch weder auf der Straße richtig sicher, noch macht er eine spirituelle Entwicklung mit und wächst charakterlich.
Jemand traf eine Vorentscheidung von Bewegungen, die uns heute nur allzu oft einengen und den Blick auf das, was essentiell ist, trüben, nämlich sich am Ende von festen Bewegungs- und Verhaltensmustern trennen zu können.
Damit es nicht wie im Jeet-Kune-Do endet, in dem Bruce Lee, als Leitperson, zwar die körperliche und philosophische Tiefe durchaus sehr gut durchdrungen hatte, ihm aber niemand folgen konnte und stattdessen einige seiner Bewegungen und Abläufe von seinen Nachfolgern dogmatisiert und als seine „authentischen Techniken“ weiter trainiert wurden.

SiFu Kernspecht hat nun das Unterrichtskonzept mit modernen Ideen und sinnvollen Programmen erweitert, wodurch die Basis für ein effektives Erlernen des WingTsun – auf allen drei Ebenen – mehr denn je gegeben ist. Aber was ist mit den Ausbildern – den Multiplikatoren? Kann, nein, muss man ihnen nicht noch andere Werkzeuge an die Hand geben, als sie bisher mitbekommen, um auch ihre Schüler dahin bringen zu können?

Damit beschäftigt sich die Arbeit Dominique Brizins ausführlich. Im nächsten Editorial soll ein weiterer Auszug daraus vorgestellt werden. Dabei wird es um das Thema „Das Ego des Ausbilders“ gehen.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht