Zur Erholung Bären jagen
Wer gedient hat, drückt im Liegen die Hacken in den Boden, wenn er das Schlachtfeld im Blick hat. Das verkleinert die Trefferfläche und sieht fachmännisch aus. Also mache ich das auch.
Der Hackentrick hilft tatsächlich. Meine Füße bleiben unverletzt – beide Farbkugeln zerplatzen auf meiner Gesichtsmaske. Kurz zuvor hatte ich die Stelle noch genau im Blick, von der ich aus dem Spiel geschossen wurde: sicheres Gebiet, kein Feind, keine Bewegung – nichts! Dann erscheint aus genau diesem Nichts ein Kopf auf breiten Schultern und zeitgleich läuft bereits gelbe Farbe über meinen Augenschutz.
Deutschland gegen Spanien im Paintball – die Revanche fürs EM-Finale. Eigentlich ein nette Idee.
Auf dem Weg zu den anderen gelb Markierten (Deutschen) in die, nennen wir sie Vize-Zone, kann ich einen Blick auf meinen Gegenspieler werfen. Dieser ist gerade dabei, die rote Flagge einzuholen, den Gegenstand, den es zu verteidigen galt.
Es ist die Person, die auch die meisten anderen im Team „Alemán“ in lebende Tote verwandelte. „Kiko?“, frage ich. „Kiko!“, antworten bei jedem Durchgang mindestens drei der fünf Deutschen.
Am Ende gewinnt Spanien 4:0. Aber anders als bei der EM gewinnt nicht das bessere Team, sondern das Land für das Kiko kämpft. Und das muss nicht zwangsläufig Spanien sein, wie ich später erfahre.
Es gibt drei Gründe, warum bereits am ersten von sieben Lehrgangstagen jeder den Mann mit den kurz geschorenen Haaren kennt, obwohl er an den WingTsun- und Escrima-Einheiten gar nicht teilnimmt. Erstens ist der knapp 1,80 Meter große Spanier mit über 100 Kilo Körpergewicht visuell sehr präsent. Zweitens begrüßt er jeden Gast persönlich mit seinem breiten, gewinnenden Lächeln. Und drittens hat es seinen Bekanntheitsgrad enorm gesteigert, als er bei der Vorbesprechung zum Paintball ohne Vorwarnung eine Salve Farbpatronen über die Köpfe der Teilnehmer abfeuerte, um deren Aufmerksamkeit zu erhöhen. Didaktisch umstritten, aber wirksam.
Kiko heißt eigentlich Enrique, so nennt ihn hier aber keiner. Obwohl er den ganzen Tag in Bewegung ist, bezeichnet er sich selbst als Rentner. Vor drei Jahren hat der 45-Jährige zusammen mit einem Geschäftspartner NATURMAZ erbaut. In mehreren Hallen, die direkt an einem Stausee liegen, werden Reit- und Tauchkurse, Bogenschießen, Klettern, Paintball, Flugstunden und Fallschirmspringen angeboten. Ein überdimensionaler Abenteuerspielplatz für Erwachsene – fünf Minuten entfernt vom Jakobsweg.
Jeden Lehrgangstag werden hier morgens drei Stunden WingTsun (Vom Stand zum Boden) und Escrima trainiert. Nach einem gemeinsamen Mittagessen übernimmt einer der zehn Naturmaz-Mitarbeiter das Kommando und führt durchs Nachmittagsprogramm.
Neben dem Paintball-Massaker von Tag 1 macht mich eine weitere Erkenntnis stutzig: Immer wenn es darum geht auf irgendetwas zu schießen oder beispielsweise sich beim Schnuppertauchen auf etwas hin zu bewegen, auf das man ja vielleicht schießen könnte, wird es zur Chefsache erklärt. Kiko gibt Instruktionen.
Beim Bogenschießen demonstriert er uns dann seinen persönlichen Bogen, Version „Compound“ – eine Hightech-Waffe mit maximaler Hebelwirkung und Zielvorrichtung.
Und was Kiko anvisiert, trifft er auch. Er war fünfmal spanischer Meister im Bogenschießen. Aber eigentlich findet er das Schießen auf Zielscheiben langweilig. Genau, wie er einen Flugschein hat, aber aus Maschinen lieber springt als sie zu fliegen, schießt er lieber auf Bären als auf bunte Scheiben.
In Kalifornien seien die vor einigen Jahren zu einer richtigen Plage geworden, weil deren Abschuss verboten war und der Bestand sich stark vermehrt hatte, erklärt er. Er gehört zu den wenigen Jägern, die die entsprechenden Lizenzen vorweisen können und wurde deshalb engagiert, mit Pfeil und Bogen Bären zu jagen. Bei einem Gewehrschuss hätte man die anderen Tiere verscheucht. So blieben sie beisammen und man konnte ganze Bärenfamilien erlegen, ihnen Sender an die Ohren tackern und die Helikopter rufen, damit diese die Kadaver abtransportieren.
Wie viele Tiere er erlegt habe, frage ich. „Hunderte.“ Die Bärenjagd war mehr Erholung als Auftragsarbeit für den Spanier. Sie diente dazu, die 45 Tage Zwangsurlaub sinnvoll zu gestalten, die jeder Blackwater-Mitarbeiter pro Jahr aus psychologischen Gründen abfeiern muss. 45 Tage Urlaub sind ungewöhnlich viel, aber Blackwater ist keine normale Firma. Das amerikanische Unternehmen gilt als die größte Privatarmee der Welt, inklusive gepanzerter Wagen und Hubschrauber. Für Schlagzeilen sorgte die umstrittene Firma, als bekannt wurde, dass westliche Regierungen Blackwater-Soldaten mit Einsätzen in Kriegsgebieten beauftragen, um die Statistiken über die Anzahl der eigenen, vor Ort stationierten Soldaten zu schönen. Blackwater-Personal ist praktisch: Es ist höchst effizient und vor allen Dingen benötigt es nicht die Zustimmung des Parlaments.
Kiko arbeitete für Blackwater auf fast allen Kontinenten der Erde und war zuletzt als Ausbilder tätig. Seine Spezialität: Geiselbefreiung. Davor absolvierte er eine Ausbildung an einer spanischen Militärakademie.
Nach Details zu seinen Einsätzen frage ich nicht. Wahrscheinlich will ich das meiste gar nicht wissen und außerdem sind Gespräche mit Kiko zäh. Dafür, dass er über ein Jahrzehnt für ein amerikanisches Unternehmen tätig war, spricht er nur sehr wenig Englisch. Ein weiteres Zeichen dafür, dass seine Arbeit meist dort begann, wo andere aufhörten zu reden.
Naturmaz muss für Kiko seitdem wie Sandburgbauen für einen Architekten sein – man spielt eben ein wenig herum. Um sich fit zu halten, trainiert er Vale Tudo. Zu wenig in den letzten Jahren, wie er mir verrät.
Am vorletzten Trainingstag sitzen wir alle – wie üblich – gemeinsam beim Abendessen im Naturmaz-Gebäude. Erst als Sifu Victor sich zu uns an den Tisch setzt, fällt mir auf, dass er die letzte Stunde abwesend war. Er kommt aus dem mit Matten ausgelegten Trainingsraum. Auf seiner Stirn glänzen vereinzelt Schweißperlen. Er lässt sich den Teller mit der Tortilla reichen: „Wir haben einen neuen Schüler. Ich habe jemanden vom WingTsun überzeugen können.“ Kurz darauf setzt sich Kiko zu uns; kurzatmig, sein T-Shirt durchnässt. Sein Lächeln wirkt ungewohnt erschöpft. Dann zeigt er auf den spanischen Nationaltrainer: „Mein Freund Victor. Bueno, bueno! Mein Si-Fu!“
Text: André Karkalis
Fotos: Dr. Petra Beckefeld