Yip Man

Der verstorbene Großmeister Yip Man

Der letzte Großmeister aller Wing-Tsun-Stile

Yip Man, das Oberhaupt des Wing-Tsun-Stils, galt nicht nur unter seinen Anhängern, sondern in der gesamten Kung-Fu-Welt – also über die Stile hinaus – als Großmeister. Yip Man hatte wenig übrig für die Eitelkeiten dieser Welt. An Ruhm und Reichtum lag ihm nichts. Auch fehlte ihm das rüde und menschenverachtende Auftreten, das so manche Kung-Fu-Leute pflegen. Wer den Vorzug hatte, Yip Man kennenzulernen, fühlte sich in seiner Gesellschaft sofort entspannt und wie zu Hause. Seine Herzlichkeit, Aufrichtigkeit und Gastfreundschaft wurden in allen Handlungen offenbar. Seine Unterhaltungen im Fatshan-Dialekt spiegelten sein sorgloses und freundliches Naturell. Man konnte ihn wahrscheinlich als Gentleman und Gelehrten bezeichnen.

Inhalt:

 

 

Vornehmer Kung-Fu-Fan

Von angesehener Familie stammend und als reicher Eigentümer eines großen Guthofs sowie einer ganzen Straße mitsamt ihren Häusern hätte Yip Man das behütete und verwöhnte Leben eines jungen Landedelmannes führen können, der seine Hände nicht schmutzig zu machen braucht. Aber zur Überraschung seiner Umwelt entwickelte er schon früh eine Liebe für die Kunst des Kämpfens. Anzumerken ist, dass es für einen gebildeten Chinesen durchaus nicht standesgemäß war oder ist, Kung-Fu als Hobby zu wählen. Ebenso wie im Westen Boxen oder Ringen galt dies als Zeitvertreib der unteren Schichten. Erst im Westen konnte z.B. asiatische Kampfkunst verbrämt und häufig aufgewertet durch Pseudo-Philosophie junge Intellektuelle anziehen. Im Gegensatz zum Karate, das in Japan und im Westen an den Universitäten betrieben wird, sodass Studenten und Akademiker damit schon früh in Berührung kommen, blieb chinesisches Kung-Fu eine Freizeitbeschäftigung der Arbeiterklasse, die zwar die besseren Kämpfer stellt, aber natürlich keine theoretisch geschulten Lehrer. Dadurch ergab es sich, dass die meisten Wing-Tsun-Lehrer etwa Kellner und Köche waren oder sind, die die Theorie weder verstanden hatten, noch sie an ihre Schüler weitervermitteln konnten. Yip Man war eine glückliche Ausnahme.
Im Alter von 11 Jahren erhielt er bereits Kung-Fu-Unterricht von Chan Wah Shun (Wah der Geldwechsler), einem Lieblingsschüler von Großmeister Leung Jan in Fatshan aus der Provinz Kwangtung.
Wah der Geldwechsler besaß keine eigenen Unterrichtsräume für seine Kung-Fu-Schule, sondern mietete im Bedarfsfall Räumlichkeiten an. Nun ergab es sich, dass Yip Mans Vater so freundlich gewesen war, ihm den alten Familientempel des Yip-Clans zur Verfügung zu stellen. Leider hatte Wah nur wenige Schüler aufgrund des hohen Schulgeldes von monatlich drei Tael Silber.
Als Sohn des Vermieters kam Yip Man selbstverständlich leicht in Kontakt mit Chan Wah Shun. Wahs Technik hatte es Yip Man angetan, sodass er beschloss, Wing-Tsun von ihm zu lernen. Eines Tages brachte der junge Yip Man dem völlig überraschten Chan Wah Shun die drei Tael Silber und bat um Aufnahme in Chans Schule. Wah war aber misstrauisch und fragte sich, wo der Junge wohl so viel Geld herhaben mochte. Als er sich bei Yips Vater erkundigte, erfuhr er, dass der Junge seine Spardose dafür geplündert hatte. Gerührt von Yip Mans Entschlusskraft, Wing-Tsun lernen zu wollen, akzeptierte Wah ihn schließlich doch als Schüler. Er unterrichtete ihn aber nur halbherzig und nicht sehr ernsthaft, da er Yip Man für einen jungen Gentleman hielt, der für die Kampfkunst eigentlich zu zart war. Dennoch gelang es Yip Man, aufgrund seiner Intelligenz und mit Unterstützung seiner älteren Kung-Fu-Brüder (Si-Hings) eine Menge zu lernen. Letztendlich konnte er Wahs Vorurteil ihm gegenüber abbauen, sodass Wah ihn dann wirklich unterrichtete.
Während seiner 36-jährigen Unterrichtszeit hatte Wah insgesamt nur 16 Schüler einschließlich seines eigenen Sohnes Chan Yu Min. Von allen diesen Schülern war Yip Man der jüngste. Als Wah der Geldwechsler starb, war Yip Man 16 Jahre alt. Im selben Jahr verließ Yip Fatshan, um in Hongkong am St. Stephen's College zu studieren.

 

 

Glück oder Pech?

Es gab ein Ereignis in Yip Mans Studienzeit in Hongkong, das er niemals vergessen sollte. Eine enttäuschende Niederlage, die sich dann schließlich als wahrer Glücksfall entpuppen sollte. Dadurch, dass er einen Kampf verlor, konnte er den Gipfel seiner Kung-Fu-Karriere erklimmen.
Yip Man war sehr aktiv am studentischen Leben beteiligt. So ergab es sich auch, dass Yip Man verschiedene Kämpfe gegen europäische Kommilitonen klar gewann, obwohl er viel kleiner war als diese. Später gab er zu, dass er damals zu arrogant und selbstsicher war.
Eines Tages sprach ein Kamerad namens Lai Yip Man an: „In unserer Firma gibt es einen Kung-Fu-Mann von über 50 Jahren. Er ist ein Freund meines Vaters. Würdest du dich trauen, ein paar Bewegungen mit ihm zu machen?“ Yip Man – ein selbstbewusster junger Mann, der Niederlagen nicht kannte und sich vor niemandem fürchtete – nahm die Herausforderung sofort an und willigte ein, den Mann zu treffen. Am vereinbarten Tag brachte ihn sein Klassenkamerad zu einer Seidenfirma in der Jervois Street, wo der ältere Mann auf ihn wartete. Er wurde ihm als Herr Leung vorgestellt und sprach: „Du bist also ein Schüler des ehrenwerten Meisters Chan Wah Shun aus Fatshan. Du bist noch jung. Was hast du von deinem Si-Fu gelernt? Bist du schon mit der Cham-Kiu-Form fertig?“ Yip Man war aber so begierig mit dem Kampf endlich anzufangen, dass er dem Mann gar nicht richtig zuhörte und stattdessen nur irgendwelche unverbindlichen Worte von sich gab, während er sich seines langen Gewandes entledigte und zum Kampf fertig machte. In diesem Augenblick sagte der Mann lächelnd, dass Yip Man jeden Teil seines Körpers angreifen könne und dass er selbst sich auf die reine Abwehr beschränken werde und auf Gegenangriffe verzichte. Er werde Yip Man auf gar keinen Fall verletzen. Durch all dieses wurde Yip Man nur noch wütender. Dennoch griff er ruhig und besonnen an. Aber der ältere Mann konnte selbst seine stärksten Angriffe leicht und beinahe lässig abwehren. Wiederholt landete Yip Man auch auf dem Boden. Er stand immer wieder auf, versuchte einen anderen Angriff, um am Ende herauszufinden, dass er keine Chance hatte.
Später erkannte er, dass der ältere Mann Leung Bik war, der jüngste Sohn Großmeister Leung Jans aus Fatshan, des Si-Fus von Chan Wah Shun, dem Geldwechsler. Und wir erinnern uns, dass Chan Wah Shun der Lehrer Yip Mans gewesen war. Das bedeutet, dass der ältere Mann in Wirklichkeit der Kung-Fu-Bruder von Yip Mans väterlichem Lehrer (Si-Fu) war, also einer höheren Generation als seiner angehörte, sodass Yip Man ihn eigentlich mit „Onkel“ anzusprechen hatte. Wenn Yip Man am Anfang ihrer Begegnung, als Leung Bik ihn dazu befragte, nicht zu eingebildet gewesen wäre, hatte er diese verwandtschaftliche Beziehung gleich erkannt.
Sobald Yip Man diese Tatsache aber verstanden hatte, kam Yip Man, dessen Si-Fu nicht mehr lebte, der Gedanke, seine Studien unter Leung Bik fortzusetzen. Diese Gelegenheit durfte er nicht ungenutzt lassen. Leung Bik seinerseits hatte das Potential dieses jungen Mannes erkannt, dem es nur an entsprechendem Unterricht und an Erfahrung mangelte. Deshalb versprach Leung Bik Yip Man, ihn im Wing Tsun zu unterrichten. Seitdem folgte Yip Man viele Jahre lang Leung Bik und lernte alle Geheimnisse des Wing-Tsun. Im Alter von 24 Jahren kehrte Yip Man dann als wahrer Meister des Wing-Tsun in seine Heimatstadt Fatshan zurück.

 

 

Zurück in Fatshan

Wieder in Fatshan führte Yip Man das unbeschwerte und angenehme Leben eines reichen Sohnes, der sich keine Sorgen zu machen brauchte. So hatte er viel Zeit, mit seinem Si-Hing Ng Chung So und dessen Schüler Yuen Kay Shan Wing-Tsun zu praktizieren, sodass er immer besser wurde. Yuen Kay Shan hatte den Spitznamen „Yuen der Fünfte“, weil er der fünfte Sohn seines Vaters war. Deshalb nannten ihn alle Leute in Fatshan so und seinen richtigen Namen kannte bald keiner mehr. Obwohl Yuen der Fünfte in Wirklichkeit ein paar Jahre älter war als Yip Man, galt er in der chinesischen Kung-Fu-Terminologie als „Neffe“ (Si-Djuk), da Yip Man einer höheren Kung-Fu-Generation angehörte, das heißt, schon früher mit dem Wing-Tsun begonnen hatte. Aber da sie auch viel privaten Kontakt hatten, vergaßen sie  – ungewöhnlicherweise für die chinesische Tradition – die Kluft zwischen ihren Generationen und wurden gute Freunde.
In Fatshan stellte Yip Man eine aufschlussreiche, aber ebenso irgendwie beunruhigende Tatsache fest: Er war viel besser geworden als seine älteren Kollegen (Si-Hings). Dies blieb seinen älteren Mitschülern ebenfalls nicht verborgen. Sie beklagten sich, dass er etwas gelernt habe, was ihr gemeinsamer Meister Chan Wah Shun nicht unterrichtet hätte. Aus diesem Grunde beschuldigten ihn besonders die, die er besiegt hatte, von der „wahren Lehre“ des Wing-Tsun abgewichen zu sein – also kein „richtiges Wing-Tsun“ mehr zu betreiben. (Kurioserweise wurden Leung Ting, der die „weiche Technik“ als Privatschüler von Yip Man persönlich erlernte, später dieselben Vorwürfe gemacht).
Darüber hinaus gab es viele Auseinandersetzungen zwischen Yip Man und seinen Si-Hings. Glücklicherweise konnte Ng Chung So seinen Kollegen den Sachverhalt verständlich machen. Er verriet ihnen, dass ihr Si-Fu Chan Wah Shun, obwohl er selbst ein großer Könner war, ihnen vieles, was er selbst praktisch beherrschte, nicht beibringen konnte, weil er keine wissenschaftliche Vorbildung hatte, um ihnen die komplexe Theorie des Wing-Tsun darzulegen. Leung Bik, der Sohn ihres Kung-Fu-Großvaters (Si-Gung) dagegen, war nicht nur ein Wing-Tsun-Experte, sondern darüber hinaus ein Gelehrter. Deshalb konnte er Yip Man die wichtige Theorie des Wing-Tsun genauestens erklären.
(Hier gilt als Parallele anzumerken, dass z.B. fast alle bekannten Veröffentlichungen über Yip Mans Kampfkunst zwar das Einhalten der „Zentrallinie“ als das Wichtigste bezeichnen, aber offenbar niemand außerhalb der Leung-Ting-Schule diese richtig definieren kann.)
Hier lag der Unterschied zwischen Yip Man und seinen älteren Kollegen begründet.

 

 

Mit den Fingern die Revolvertrommel herausgerissen

Yip Man war nicht an Ruhm oder Reichtum interessiert. Niemals gab er mit seinem Können vor anderen Leuten an. Dennoch gibt es ein oder zwei interessante Geschichten über ihn, die von Augenzeugen – möglicherweise nicht frei von Übertreibungen – berichtet wurden.

Einmal im Jahr fand traditionsgemäß eine Art Umzug in Fatshan statt, an dem alle reichen Kaufleute, Industrielle und sonstwie bedeutende Personen der Stadt teilnahmen. Zu diesem Zweck schloss man sich zu so genannten „Prozessionsmannschaften“ zusammen, die sich der Öffentlichkeit präsentierten. Zu diesen Umzügen kamen nicht nur die Einheimischen, sondern auch Besucher aus benachbarten Städten. Am Festtag waren immer so viele Leute da, dass alle Straßen verstopft waren und man Mühe hatte, einen Platz zum Zuschauen zu finden.

Einem solchen Umzug sah auch Yip Man mit einigen jungen Damen zu. Nicht weit von ihnen stand ein Soldat. Yip Man hatte zu diesem Zeitpunkt etwas gegen Soldaten im Allgemeinen; denn wer damals Soldat wurde, war entweder ein Herumtreiber oder ein Bandit. „Ordentliche junge Leute gehen nicht zu den Soldaten,“ lautete damals ein gängiges Sprichwort.
Yip Mans Begleiterinnen waren sehr elegant gekleidet. Ihre Schönheit und ihr vornehmes Benehmen lenkten die Aufmerksamkeit dieses Soldaten auf sie. Yip Man missfiel sehr, wie dieser Soldat sich den Damen näherte und sie in beleidigender Weise ansprach. Yip Man hielt ihm deshalb seine schlechten Manieren vor, was zu einer lauten Auseinandersetzung führte. Als der Soldat zu seiner Überraschung merkte, dass Yip Man ganz und gar kein schwächlicher Stubengelehrter war, wurde er noch wütender, zog seinen Revolver und hob ihn, um ihn auf Yip Man zu richten. Yip Man zögerte keinen Augenblick. Er schlug den Waffenarm zur Seite, ergriff die Pistole und riss mit kräftigen Fingern die Trommel aus dem Revolver. Bevor sich der Soldat von seinem Schreck erholen konnte, war Yip Man mit seinen Begleiterinnen verschwunden.

 

 

K.o. in der ersten Minute

Ein Boxer namens Kann Shan Mao aus der Kianghsi-Provinz in Nordchina kam nach Fatshan, um sich als Lehrer bei der Ching Wu Athletic Association von Fatshan zu bewerben. Er brüstete sich mit seinem Können und äußerte sich abfällig und in beleidigender Weise über den Standard der Kung-Fu-Leute in Fatshan. Deshalb wollten die Direktoren der Ching Wu Athletic Association ihm die Stellung auch nicht mehr geben. Stattdessen lud man ihn ein, bei einer Wettkampfveranstaltung im Fatshan-Theater gegen den berühmten Yip Man zu kämpfen. Yip Man selbst war wohl vorher nicht gefragt worden. Jedenfalls weigerte er sich zunächst, mit diesem Mann öffentlich zu kämpfen. Erst als Lee Kwong Hot, ein berühmter Kräuterarzt aus Fatshan, ihn inständig darum bat, sagte er widerwillig zu.
Am Kampftag war das Theater gefüllt von Schaulustigen. Zur Enttäuschung aller, die einen langen und abwechslungsreichen Kampf erwartet hatten, schlug Yip Man seinen Gegner innerhalb der ersten Minute k.o. So erklärte der Kampfrichter Tam Sheung Chi ihn zum klaren Sieger. Die Zuschauer waren über die Kürze des Kampfes so enttäuscht und wütend, dass ein lauter Tumult ausbrach, den der Veranstalter nur dadurch beenden konnte, dass er als Ersatz weitere – sofort folgende – spannende Wettkämpfe mit anderen Boxern ankündigte.

 

 

Wing-Tsun gegen das Phönix-Auge

Den zweiten Kampf, den Yip Man im Namen der Kung-Fu-Leute aus Fatshan lieferte, war ein Zweikampf zwischen ihm und einem Schauspieler der Roten Dschunke, dessen Schauspieltruppe gerade Fatshan bereiste. In der vorstellungsfreien Zeit besuchte der Schauspieler eine berühmte Opiumhöhle, wie sie damals in Fatshan durchaus legal und üblich war. Dort gab er mit seinem Kung-Fu-Kenntnissen an. Einmal demonstrierte er sogar seine Phönix-Augen-Faust, indem er ein Loch in die Wand schlug. In diesem Etablissement traf er mit Yip Man zusammen. Er war so überzeugt von seinem Können, dass er unbedingt mit Yip Man kämpfen wollte, was Yip Man aber ablehnte. Wären die Zuschauer nicht gewesen, hätte der Kampf auch nie stattgefunden. Zu ihrer Überraschung schlug Yip Man seinen Herausforderer mit einem Schlag zu Boden, wo er mit blutender Nase liegen blieb.
Die Zuschauer jubelten Yip Man zu und fragten sich, wie er so schnell siegen konnte. Yip Man erklärte ihnen, dass der Mann zwar einen sehr starken Schlag besaß, seine Technik aber in einem richtigen Kampf nicht einzusetzen wusste, sodass er verlieren musste.

 

 

Ein Kampf für Charlie Wan

In Fatshan gab es einen Freund von Yip Man, den man Charlie Wan nannte und der dringend eine größere Geldsumme benötigte. Charlie Wan war ein Kämpfer des Choy-Lee-Fut-Stils, der als praktische Kampfmethode bekannt ist, sich aber technisch erheblich vom Wing-Tsun unterscheidet. Obwohl sie Freunde waren, stellten sie nie Vergleiche zwischen ihren Kampfstilen an oder sprachen in irgendeiner Weise darüber. Das machte die Einwohner Fatshans neugierig, wer von ihnen der bessere Kämpfer sei. Sie wollten deshalb einen öffentlichen Kampf ausrichten, wobei die Einnahmen aus den Eintrittsgebühren Charlie Wan zukommen sollten, der das Geld dringend brauchte.
Charlie Wan war zuerst dagegen, weil er befürchtete, dass dadurch seine Freundschaft mit Yip Man belastet werden könnte. Aber seine finanzielle Situation war so schlimm, dass er schließlich doch einverstanden war – vorausgesetzt, dass sich ein Vermittler dafür fände. Diese Rolle – sowie die des Veranstalters und Kampfrichter – übernahm Lee Kwong Hoi. Yip Man hatte überhaupt keine Einwände, sondern sah nur die finanziellen Vorteile für seinen Freund und die Werbewirkung für die Kampfkunst im Allgemeinen. Um den Showkampf noch spektakulärer und attraktiver zu gestalten, wollte Yip Man sogar mit verbundenen Augen antreten. Dadurch wurde das Interesse der Öffentlichkeit natürlich noch um einiges größer. Jeder wollte erleben, wie dieser Mann, der Kam San Mao in der ersten Minute ausgeknockt hatte, blind kämpfte. Einige jedoch fürchteten, dass Yip Mans Chancen sehr gering waren. (Es sei darauf hingewiesen, dass gerade der Choy-Lee-Fut-Stil über viele Angriffe verfügt, die nicht über die Mitte von vorne, sondern schwingrig und kreisförmig von der Seite kommen, wodurch sie vom Verteidiger auch optisches Reagieren verlangen. Das Reagieren auf taktile Reize – wie sonst im Wing-Tsun gegenüber zentralen Angriffen üblich (der Leser sei auf das Buch „Vom Zweikampf“ von Keith R. Kernsprecht verwiesen) – greift hier in der Regel nicht, es sei denn, es besteht schon Körperkontakt).
Am Kampftag stürmten die Schaulustigen die Arena. Auf das Zeichen vom Kampfrichter Lee Kwong Hi begannen die beiden Kämpfer. Charlie Wan ging sofort in die Offensive, während Yip Man – mit verbundenen Augen – schnell den Kontakt mit dem Gegner suchte, damit ihm seine Arme die Absicht des Gegners mitteilen konnten. Obwohl Charlie Wans Angriffe mit wilder Kraft ausgeführt waren, wurde Yip Man nicht getroffen. Er konnte den Angreifer sogar trotz seiner Augenbinde oft verfolgen und Gegenangriffe anbringen. In dieser Weise lieferten sie sich zur Begeisterung der Zuschauer einen immer erhitzter und verbissener werdenden Kampf, bei dem keiner nachgeben wollte. Schließlich brach der kluge Lee Kwong Hoi von sich aus den Kampf ab und erklärte ihn für unentschieden, da er befürchten musste, dass sonst einer der beiden Kämpfer ernsthaft verletzt werden würde. Diese weise Entscheidung wurde von allen Zuschauern mit johlender Zustimmung aufgenommen.

 

 

Vier Fichtenstämme durchgetreten

Als Yip Man in Fatshan lebte, arbeitete er eine zeitlang als Captain der Kriminalpolizei. Da kamen ihm seine Wing Tsun-Kenntnisse oft zu Hilfe und retteten ihm sogar mehr als einmal sein Leben.
Eine Geschichte erzählt man sich u.a. immer wieder: Bei einem Gespräch über Kung-Fu gab Yip Man von der Unterhaltung angeregt, eine Probe seines Könnens. Er nahm den typischen Wing-Tsun-Vorkampfstand ein, bei dem man die Knie gegeneinander spannt. Dann forderte er vier starke Männer – jeweils zwei links und zwei rechts von ihm – auf, seine Beine auseinanderzureißen. Zur Überraschung aller Zuschauer konnten die vier kräftigen Männer Yips Beine kein bisschen bewegen.

Ein Kriminalbeamter, der oft Zeuge von Yip Mans unglaublichen Taten war, erinnerte sich außerdem noch an dieses Ereignis: Yip Man verfolgte mit seiner Polizeimannschaft eine Räuberbande bis zu einem großen Bauernhof, wo ihnen ein starkes Tor den Zugang verwehrte. Es bestand aus armdicken Fichtenstämmen, war mit schweren Ketten und Schlössern gesichert und galt normalerweise als unüberwindlich. Da die Polizisten keine Werkzeuge dabei hatten, trat Yip Man kurz entschlossen mit einem Sweeping-Kick (aus der Holzpuppenform) gegen das Tor. Dieser Tritt war so meisterhaft stark und gezielt, dass er gleichzeitig vier dicke Fichtenstämme zerbrach. Die Polizisten konnten ins Haus eindringen und die Bande verhaften.



 

Der Stand, der Yip Man das Leben rettete

Als Detektiv musste Yip Man auch einmal einen Dieb verfolgen, der auf ein Flachdach geflüchtet war. Als Yip Man ihm auf den Fersen war, sprang der verzweifelte Dieb kurz entschlossen auf das Dach eines benachbarten Hauses, um von dort über die Innentreppe nach unten zu fliehen. Aber Yip Man war fest entschlossen, ihn nicht entkommen zu lassen und riskierte ebenfalls den gefährlichen Sprung auf das andere Dach. Die Zuschauer bekamen aber einen furchtbaren Schreck, als der Dieb, der Yip Man springen sah, die Treppentür, durch die er gerade verschwinden wollte, auf Yip Man zustieß. Alle erwarteten, dass der gerade auf dem Dach landende Yip Man, der voll von der Tür getroffen wurde, in den Abgrund stürzen würde. Aber es war nur Yip Mans Oberkörper, der der Tür nach hinten nachgab. Seine Füsse blieben – wie durch ein Wunder – am Boden kleben, worauf er mühelos die Balance zurückgewann. Dies war für die Bürger von Fatshan ein weiterer Beweis für Yip Mans Meisterschaft im Wing-Tsun.

 

 

Rückzug ins Privatleben

Als letzte Maßnahme, um Wing-Tsun zu fördern, gründete Yip Man 1967 mit Hilfe seiner Schüler die „Hong Kong Ving Tsun Athletic Association“. Zwei Jahre später, also 1969, schickte dieser Verband ein Team von Kämpfern zum „First South East Asia Kung-Fu-Tournament“, das in Singapore veranstaltet wurde. Das Team schnitt nicht so erfolgreich ab, wie der Verband es erwartet hatte.
Deshalb kehrte Yip Man zurück, eröffnete mehr Klassen und senkte auch die Unterrichtsgebühren. Vorher konnte aufgrund der hohen Schulgebühren nur die privilegierte Klasse Wing-Tsun lernen. Nun erfolgte ein reger Zustrom auch der unteren Klassen, wodurch der Bekanntheitsgrad des Wing-Tsun wuchs.
Im Mai des Jahres 1970, als der Unterricht in allen Klassen zufriedenstellend lief, zog sich Yip Man endgültig vom öffentlichen Unterrichten zurück. Er übergab seine Schule und seine Schüler seinem Lieblingsschüler Leung Ting und wollte den Rest seines Lebens ruhig und zurückgezogen verbringen.

Danach fand man ihn üblicherweise morgens, nachmittags und sogar abends im Teehaus, wo er viel mit seinen Schülern scherzte und sich ganz und gar nicht wie ihr Meister aufführte. „Weshalb soll ich mich selbst so wichtig nehmen und mir auf meine Position etwas einbilden?“, war seine Philosophie. „Die anderen Leute sollen darüber entscheiden, ob ich etwas geleistet habe.“




Zwischen 1970 und 1971 wurde Bruce Lee, einer von Yip Mans Schülern, ein berühmter Film-Superstar. Obwohl Lee als Begründer seines eigenen Stils „Jeet Kune Do“ bekannt wurde, wussten doch viele Leute, dass er eigentlich ein Schüler Yip Mans gewesen war. Dennoch zeigte Yip Man niemals Stolz darüber, dass dieser Superstar sein Schüler war. Wenn ihn Leute deshalb rühmten, lächelte er nur. Selbst wenn Leute falsche Behauptungen über die Theorie des Wing-Tsun in die Welt setzten, korrigierte er sie nur selten. Wahr bleibt wahr, und Yip Man blieb Yip Man. Und ob er nun Lehrer von Bruce Lee war oder nicht, ob manche Leute die Theorie des Wing-Tsun irrtümlich darstellten oder nicht, was änderte das an der Wahrheit?

 

 

Großmeister für alle Ewigkeit

1972 hatte das Schicksal den sorglosen alten Mann eingeholt. Er bot eine Bild von körperlichem Verfall und zunehmender Schwäche. Eine ärztliche Untersuchung ergab die Diagnose Kehlkopfkrebs. Dennoch bekämpfte er die Krankheit optimistisch und mit großer Willenskraft. Er ging weiterhin ins Teehaus und dinierte abends mit seinen Schülern. Niemals hörten seine Schüler ihn klagen, denn er wollte ihr Mitleid nicht und sah seinem Ende gefasst entgegen.
Eines Tages bei einem Krankenhausaufenthalt teilte ihm der Arzt, auch einer seiner Schüler, mit, dass sein Ende unmittelbar bevorstand. Aber Yip Man konnte den Tod noch ein letztes Mal abwehren und kehrte nach einer Woche gekräftigt nach Hause zurück.
Aber dieser Sieg war nur von kurzer Dauer. Am 2. Dezember 1972 starb Yip Man, der letzte Großmeister des gesamten Wing-Tsun-Stils. Er hinterließ uns ein geniales Kampfsystem und viele faszinierende Anekdoten.

 

 

Großmeister Yip Man und Bruce Lee

Unter den Schülern Yip Mans war Bruce Lee einer der bekanntesten. Bruce Lee traf Großmeister Yip Man in Hongkong, als er dort das St. Francis College besuchte. Bruce Lees Vater, Lee Hoi Chuen, war ein guter Freund Yip Mans. Beide waren Flüchtlinge aus Fatshan. Weil Bruce Lees Vater und Yip Man sich so gut verstanden und Bruce Lee so viel Ehrgeiz und Fleiß beim Studium der Kampfkunst zeigte, gab Großmeister Yip sich beim Unterricht von Bruce Lee besondere Mühe. Aber nach knapp drei Jahren konnte Bruce Lee seine Wing-Tsun-Lektionen nicht mehr fortsetzen, denn er musste Hongkong verlassen, um in Amerika ein akademisches Studium zu beginnen. Bruce Lees Abschied von Großmeister Yip Man machte keinesfalls den Eindruck einer endgültigen Trennung von Schüler und Meister. Aber es gab schon Anzeichen von Missstimmung.
Yip Man ermahnte Bruce Lee vor dessen Abreise, dass Kung-Fu zu den höchsten chinesischen Künsten zähle, dass Chinesen diese Techniken für sich behalten müssen, um sich zu verteidigen und die Gesundheit zu erhalten. Und dass deshalb die Techniken des chinesischen Kung-Fu Ausländern nicht ohne Vorbehalt gezeigt werden sollten. Bruce Lee versprach, sich daran zu halten. Aber sobald er in Amerika ankam, eröffnete er eine Kampfschule, nahm ausländische Schüler an und brachte ihnen Wing-Tsun-Techniken bei. Großmeister Yip Man war darüber sehr erstaunt und enttäuscht.

Bruce Lees Ehrgeiz

Im Sommer des Jahres 1965 kehrte Bruce Lee mit seiner Frau und seinem Sohn von Amerika nach Hongkong zurück. Er stattete seinem Meister einen Besuch ab und bat ihn, ihm den letzten Teil der Wing-Tsun-Holzpuppentechniken, den Bruce Lee noch nicht gelernt hatte, zu zeigen. Weiterhin bat er Yip Man um Erlaubnis, einen 8-mm-Film drehen zu dürfen mit Yip Man, der die Siu-Nim-Tau-Form demonstriert. Er benötigte diesen Film für seinen eigenen Unterricht in Amerika. Als Gegenleistung bot er Großmeister Yip Man an, ihm eine neue Eigentumswohnung zu kaufen. Bruce Lee machte jedoch einen großen Fehler. Dadurch, dass er zu viel von Geld sprach, verletzte er die Gefühle seines Lehrmeisters! Deshalb wies ihn Großmeister Yip Man ab: „Ich kann dir das nicht zusagen; denn du bist nicht mein einziger Schüler, und ich habe niemals irgendeinem Schüler solche Zusicherungen gemacht. Was sollte ich den anderen sagen, wenn ich dein Angebot annähme?“
Nach dieser Zurückweisung durch Yip Man wandte sich Bruce Lee an dessen älteren Sohn um Hilfe. Der aber soll ihm nach eigenen Angaben gesagt haben. „Es ist wahr, dass wir in Armut und Not leben, seit wir vor zehn Jahren nach Hongkong kamen. Wir haben nicht einmal ein Haus, um darin zu wohnen. Dein Angebot, uns eine Eigentumswohnung zu geben, würde unsere Not natürlich lindern. Aber es gibt noch Wichtigeres im Leben des Menschen als ein bequemes Leben und materielle Dinge, und mein Vater hat einen starken Willen und sein Urteil ist unabänderlich. Das wissen wir beide sehr gut. Wenn er dein Angebot ablehnte, kann ich ihn nicht umstimmen.“

Wing-Tsun und Jeet Kune Do

Verdrossen kehrte Bruce Lee nach Amerika zurück. Er unterrichtete nun kein Wing Tsun mehr, denn er war sich darüber im Klaren, dass er niemals der erste Mann im Wing-Tsun werden könnte. Um seine Karriere fortsetzen zu können, musste er einen neuen Stil gründen, dessen Schöpfer er selbst war. Die Techniken, die er seinen Schülern beibrachte, nannte er nun „Jeet Kune Do“. In Wirklichkeit jedoch handelte es sich bei seinen Jeet-Kune-Do-Techniken hauptsächlich um Wing-Tsun-Techniken kombiniert mit Taekwondo und Karate, etwas westlichem Boxen, Judo, nördlichem Gottesanbeterin-Kung-Fu usw.. Seine Theorien, die er in Zeitschriften, Büchern und Magazinen verbreitete, waren hauptsächlich die Theorien des Wing-Tsun zusammen mit chinesischen Philosophien wie dem Taoismus. Dazu kamen noch Gedanken aus dem westlichen Boxen oder Judo.
Als Bruce Lee wegen seines Jeet Kune Do berühmt wurde, sprach Yip Man nicht mehr über Bruce Lee. Er sah es auch nicht gerne, wenn andere in seiner Gegenwart Bruce Lee erwähnten. In der Tat hatte die Missstimmung zwischen Yip Man und Bruce Lee ihre Ursache darin, dass beide völlig anders aufgewachsen und erzogen waren. Ihre Lebensanschauungen waren zu unterschiedlich. Yip Man war traditionell chinesisch erzogen worden und war ein Anhänger des Konfuzianismus. Er liebte die chinesische Kultur sehr. Er war streng und willensstark und konnte Schicksalsschläge ertragen. Obwohl er als Polizeioffizier und Kung-Fu-Lehrer stets arm war, war er zufrieden und akzeptierte dieses Leben.
Bruce Lee jedoch wurde schon in einer englischen Schule in Hongkong erzogen, bevor er sein Philosophie-Studium in den USA antrat. Für ihn waren praktische und materielle Dinge von größter Bedeutung. Sein ganzes Leben lang kämpfte er um Ruhm und Reichtum. Er erreichte beides, aber konnte nichts davon mitnehmen, als er starb.

 

 

Das Interview mit Großmeister Yip Man im „New Martial Hero“

Eines von zwei jemals veröffentlichten Gesprächen mit dem berühmten Kung-Fu-Großmeister

„New Martial Hero“ war ein Kampfkunstmagazin in Hongkong, das sich besonders in den späten 60er und frühen 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts sehr gut verkaufte. Ab Mitte der 70er traten jedoch wirtschaftliche Schwierigkeiten auf, die letztendlich Anfang der 80er zur Einstellung der Zeitschrift führten.

Das folgende Interview wurde während der Blütezeit des Magazins in den frühen 1970ern geführt. Großmeister Leung Ting erinnert sich noch ganz genau daran, als Mok Pui On ihn fragte, ob er seinen Lehrer zu einem Interview bewegen könne. Es war nämlich weithin bekannt, dass Großmeister Yip Man seine ganz eigene Meinung zur Medienöffentlichkeit hatte: Er stand Interviews sehr ablehnend gegenüber und ließ sich auch nicht gerne fotografieren – insbesondere nicht in Kung-Fu-Stellungen. Deswegen hatten es die Redakteure schon seit langer Zeit aufgegeben, Yip Man zu Gesprächen oder Fototerminen zu bewegen. Um so überraschter war Mok Pui On, als er erfuhr, dass es Großmeister Leung Ting gelungen war, ein Interview mit seinem Lehrer zu arrangieren.
Das Interview fand in Großmeister Yip Mans Haus statt. Mok Pui On nahm sein Notizbuch heraus und begann mit der Frage, wann Yip Man in Fatshan begonnen hatte, Wing Chun zu erlernen. Er stellte so präzise Fragen bezüglich der frühen Jahre von Yip Mans eigenem Wing-Chun-Training, dass selbst Großmeister Leung Ting gespannt auf die Antworten war. Mok wollte zum Beispiel ganz genau wissen, wie viel Geld Yip Man seinem Si-Fu Wah-Kung (Chan Wah Shun) in der traditionellen Aufnahmezeremonie in einem roten Umschlag überreicht hatte.

Während Mok das Gespräch mit Großmeister Yip Man führte, fotografierte Leung Ting. Nach dem Interview in Großmeister Yip Mans Haus wurde das Gespräch im Restaurant „Sam Hei Lau“ fortgeführt, in dem Yip Man für gewöhnlich zu frühstücken pflegte. Besonders in Erinnerung blieb Großmeister Leung Ting, dass sein Lehrer, Großmeister Yip Man, Mok Pui On gegenüber betonte, dass „Wing-Tsun“ nicht das Gleiche ist wie „Weng Chun“.

Mok Pui On erzählte Yip Man, dass er bei seinem eigenen Si-Fu Chu Chung Man dreizehn Jahre lang „Weng Chun“ gelernt hatte, es aber immer noch einige Bewegungen gab, die er nicht beherrschte. Großmeister Yip Man antwortete ihm daraufhin: „Sei nur geduldig. Eines Tages wirst du alles gelernt haben.“ Als aber Mok Pui On sich verabschiedet hatte, dauerte es keine zwei Sekunden, bis der alte Großmeister sagte: „Hast du gesehen, wie dumm Mok Pui On ist? Wenn einer dreizehn lange Jahre braucht, um nichts zu lernen, dann wäre es besser, er würde Atomphysik studieren.“

Das Interview wurde später im „New Martial Hero“ veröffentlicht. Nachfolgend die wichtigsten Passagen des Artikels. (Ein bedeutender Aspekt war dabei die Unterscheidung der beiden Kung-Fu-Stile „Weng Chun“ und „Wing-Tsun“. Dem heutigen (europäischen) Leser mag die besondere Betonung dieses Umstandes nebensächlich erscheinen, in der Fachwelt Hongkongs der 1970er Jahre war das aber von größtem Interesse. Anm. der Redaktion).

Hier nun der Originaltext:

Manche Leute glauben, dass es sich bei „Weng Chun“ und „Wing-Tsun“ um den gleichen Kung-Fu-Stil handelt, für den nur zwei verschiedene Namen benutzt werden. Tatsächlich gibt es aber sehr viele Unterschiede. Zum einen ist das Oberhaupt der Wing-Tsun-Familie in Hongkong Großmeister Yip Man, wogegen der Anführer der Weng-Chun-Familie Großmeister Chu Chung Man ist.

Sowohl die Techniken als auch die Formen weisen einige Unterschiede auf. Obwohl man in beiden Stilen eine Holzpuppen- und eine Langstockform kennt, gibt es z.B. im Weng Chun eine Form namens „Bart-Mo-Dan-Da“ oder eine, die als „Lin-Wan-Kou-Da“ bezeichnet wird, die im Wing-Tsun nicht enthalten sind.

Ein weiterer Grund für die Verwechslung ist, dass es zwar scheinbar ähnliche Techniken bzw. Bewegungen gibt, die aber unter völlig anderen Prinzipien angewandt werden.

Großmeister Yip Man wurde in Fatshan geboren. Als Kind war er eher schwächlich, deswegen schickten seine Eltern ihn zu dem Wing-Tsun-Lehrer Chan Wah Shun, dem herausragendsten Schüler des legendären Dr. Leung Jan.


New Martial Hero: „Großmeister Yip Man, warum wurde Chan Wah Shun auch „Jau-Chin Wah“ („Wah, der Geldwechsler“) genannt?“

GM Yip Man: „Dieser Spitzname wird meinem Lehrer nicht gerecht. Neben „Wah der Geldwechsler“ wurde er auch „Ngau-Ching Wah“ („Wah der Stier") genannt. Er war der Meisterschüler von Dr. Leung Jan.“

New Martial Hero: „Das heißt wohl, dass Wah der Geldwechsler ein sehr unbeherrschter Mann war, der immer kämpfen wollte, oder? Wie viele Schüler hatte er? Wann wurden Sie aufgenommen?“

GM Yip Man: „Einschließlich mir selbst hatte Wah nur sechzehn Schüler. Ich war gerade 11 Jahre alt, als ich sein letzter Schüler wurde.“

New Martial Hero: „Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort, das besagt, dass der letzte Sohn am meisten geliebt wird. Waren Sie demnach auch der meistgeliebte Kung-Fu-Sohn?“

GM Yip Man: „Das ist richtig. Als ich bei ihm lernte, war er bereits 70 Jahre alt. Er war zwar schon ein bisschen schwach, aber er korrigierte meine Fehler immer noch mit großer Geduld. Darüber hinaus beauftragte er seine anderen Schüler, mich zu unterrichten. So wurden meine Techniken schnell besser.“

New Martial Hero: „Großmeister Yip Man, Sie sagten, dass Wah Kung (Chan Wah Shun) während seines ganzen Lebens nur sechzehn Schüler unterrichtete. Warum hatte er nur so wenige Schüler?“

GM Yip Man: „Das ist eine gute Frage. Ich werde Ihnen die Gründe erläutern. Früher waren die Leute, was das Lehrer-Schüler-Verhältnis anbelangt, sehr streng. Bevor einer als Schüler aufgenommen wurde, überprüfte man sehr sorgfältig dessen Charakter. Gemäß dem chinesischen Sprichwort: „Den richtigen Schüler für den Unterricht auswählen.“ Außerdem hing es davon ab, ob der Schüler die Unterrichtsgebühren bezahlen konnte oder nicht. Es gab nämlich nicht sehr viele Leute, die sich das leisten konnten. Ein Beispiel: Ich bezahlte während der Aufnahmezeremonie in dem roten Umschlag 20 Tael Silber. Außerdem musste ich jeden Monat acht Tael Silber Schulgebühren bezahlen.“

New Martial Hero: „Wie viel waren 20 Tael Silber wert, verglichen mit dem damaligen Lebensstandard?“

GM Yip Man: „Für 20 Tael Silber konnte man durchaus eine Frau heiraten, wenn man die Hochzeit ein wenig sparsam ausrichtete. Mit etwa eineinhalb Tael konnte man ungefähr 150 Pfund Reis kaufen. Deswegen lernten damals vor allem reiche Leute Kung-Fu. Nur solche Leute konnten ihren Beruf aufgeben und in den alten Tempeln in den Bergen trainieren. Es war nicht wie heute, wo alle Leute ohne große Umstände Kung-Fu lernen können.“

New Martial Hero: „Nach dem Tod von Wah dem Geldwechsler, verließen Sie Fatshan und kamen nach Hongkong, um dort am St. Stephan’s College zu studieren. Haben Sie wieder angefangen, Wing-Tsun zu lernen, als Sie nach Hongkong kamen?“

GM Yip Man: „Ja, natürlich! Dass das möglich war, habe ich einem höchst fähigen Wing-Tsun-Experten zu verdanken, von dem ich die fortgeschrittensten Wing-Tsun-Techniken erlernte.“

New Martial Hero: „Wer war dieser Wing-Tsun-Experte?“

GM Yip Man: „Leung Bik, der älteste Sohn von Dr. Leung Jan. Die Geschichte, wie ich meinen Lehrer Leung Bik kennenlernte, ist beinahe dramatisch. Ein wirklich lange Geschichte.“


Nach einigen weiteren Zwischenfragen des Reporters begann GM Yip Man, die Geschichte ausführlich zu erzählen. Demnach war GM Yip Man zu der Zeit, als er Fatshan wegen des Studiums in Hongkong verließ, bereits sehr erfahren in den Grundtechniken des Wing-Tsun. Er kämpfte immer mit seinen Mitschülern. Obwohl Yip Man nicht sehr groß war, war er ein sehr guter Kämpfer. Er konnte alle Mitschüler besiegen, sogar jene, die viel größer und stärker waren als er. Deswegen wurde er bald überheblich und glaubte, dass niemand ihn besiegen könne.

Nach sechs Monaten in Hongkong erzählte ein Klassenkamerad namens Lai, dessen Vater eine große Seidenfabrik in der Jervois-Straße in Sheung Wan betrieb, dass in ihrem Haus ein älterer Mann wohne, der einige Kung-Fu-Techniken kenne. Dieser Mann lud Yip Man zu einem freundschaftlichen Sparring ein. Yip Man hatte bis dahin noch nie einen Kampf verloren und deswegen nahm er sofort jede Herausforderung an. Lai vereinbarte also ein Treffen für Sonntagnachmittag.

An jenem Sonntag ging Yip Man also zum Haus seines Klassenkameraden. Nachdem er dem älteren Mann vorgestellt worden war, blickte Yip Man ihn verwundert an. In seinen Augen sah er mehr wie ein typischer Gentleman aus – und nicht wie einer, der Kung-Fu beherrschen würde.

Nach einem kurzen Gespräch forderte Yip Man den Mann frech zu einem Sparring heraus. Mit einem Lächeln entgegnete der Mann: „Du, Yip Man, willst also mit mir einen kleinen Sparringskampf machen. Bevor wir anfangen, möchte ich dir noch sagen, dass du keine Rücksicht auf mich zu nehmen brauchst. Alles, was du tun musst, ist, mich, egal wo, mit deiner ganzen Kraft anzugreifen. Mehr nicht!“

Als er das gehört hatte, wollte der überhebliche Yip Man nichts mehr als diesen Mann niederschlagen!

Kaum hatte ihm der Mann ein Zeichen zum Angriff gegeben, da stürmte Yip Man schon mit einem Hagel von Schlägen auf ihn ein. Aber der Mann bewegte sich so schnell, dass er ihn nicht ein einziges Mal treffen konnte. Im Gegenteil – mit seinen Gegenangriffen trieb er Yip Man sogar in eine Ecke. Dort stoppte er seine Attacke sofort.

Nach diesem ersten Aufeinandertreffen, das er schon sogleich verloren hatte, konnte Yip Man nicht glauben, was passiert war. Er bat sofort um eine Wiederholung. Aber wieder wurde Yip Man völlig von diesem Mann kontrolliert. Jetzt wusste Yip Man, dass er von einem wahren Meister des Kung-Fu besiegt worden war. Ohne ein weiteres Wort zu sagen, verließ Yip Man das Haus. Nach diesem Sparring war Yip Man so enttäuscht, dass er nicht einmal mehr daran glaubte, Kung Fu überhaupt zu kennen. Nach einer Woche erzählte Lai ihm, dass der Mann Yip Man wieder sehen wolle. Doch Yip Man hatte Angst und schämte sich zu sehr, deswegen sagte er zu Lai: „Ich fühle mich zu erniedrigt, um ihn wieder zu treffen. Ich habe nicht seine Klasse.“

Doch zu seiner Überraschung sagte ihm Lai, dass der Mann seine Kung-Fu-Techniken sehr lobte. Deswegen wolle er Yip Man wiedersehen und mit ihm sprechen. Und Lai begann, Yip Man das Geheimnis hinter diesem Mann zu erzählen: Tatsächlich war er kein anderer als Leung Bik, der Sohn von Dr. Leung Jan! Nachdem er die Wahrheit erfahren hatte, dachte Yip Man: „Aha! Deswegen sind seine Kung-Fu-Techniken so brillant. Diesmal habe ich also mit einem wirklichen Wing-Tsun-Meister gekämpft!“

Sofort realisierte Yip Man, welche großartige Gelegenheit das war. Die Kung-Fu-Techniken, die er bei Wah dem Geldwechsler gelernt hatte, waren noch nicht sehr fortgeschritten. Das würde die beste Gelegenheit für ihn sein, viel ausgereifteres Wing-Tsun zu erlernen. Deswegen verlor er keine Zeit, Lai zu bitten, ihn mit zur Seidenfabrik zu nehmen, um Leung Bik zu treffen.

Weil Yip Man ein außerordentlich begabter Kung-Fu-Schüler war, war Leung Bik sehr erfreut, sein Wissen an ihn weitergeben zu können. Nach einigen Jahren ging Leung Bik nach Fatshan zurück, doch zu diesem Zeitpunkt hatte Yip Man bereits die höchsten Wing-Tsun-Techniken gelernt.
 

Anmerkung der Redaktion:

Dieses Interview mit GM Yip Man ist aus mehreren Gründen sehr interessant:

  1. weil es eines der ganz seltenen Interviews war, zu denen ihn nur sein Privatschüler Leung Ting bewegen konnte.
  2. weil es aus erster Hand über GM Yip Mans Zeit als Schüler bei Chan Wah Shun und Leung Bik berichtet.
  3. weil GM Yip Man im Interview selbst sagt, dass er im Alter von elf Jahren von seinem Si-Fu Chan Wah Shun zu lernen begann. GM Yip Mans Söhne hatten nämlich behauptet, dass ihr Vater schon mit neun Jahren begonnen hatte.
  4. weil es über die Unterschiede von Wing-Tsun und Weng Chun spricht.

Mehr über diese Unterschiede kann man im Buch „Roots of WingTsun“ erfahren.