Editorial

Zum Verständnis meines Gestänge-Modells

Ich möchte mit einem Zitat von Pyotr Demianovich Ouspensky beginnen, bevor ich anschließend kurz den Verfasser des Gasteditorials für den Monat August, Prof. em. Dr. phil. Horst Tiwald, vorstelle und erzähle, wie wir uns kennen lernten. Danach hat er das Wort.
„Wenn das magnetische Zentrum richtig arbeitet und ein Mensch wirklich sucht und selbst, wenn er nicht aktiv sucht, jedoch richtig fühlt, so kann er einen anderen Menschen treffen, der den Weg kennt und der direkt oder durch andere Menschen mit einem Zentrum in Verbindung steht, das außerhalb des Gesetzes vom Zufall ist, und von dem die Ideen herrühren, die das magnetische Zentrum geschaffen haben.“
Ouspensky, Auf der Suche nach dem Wunderbaren

Prof. Horst Tiwald ist Österreicher, geboren in Krems an der Donau. Im Jahre 1964 promovierte er an der Universität Wien mit einer Arbeit über Zen-Buddhismus und Leibeserziehung im Dissertationsfach Philosophie in Verbindung mit den Promotionsfächern Psychologie und Völkerkunde sowie in den Fächern Pädagogik und Leibeserziehung.

1973 begann er am damaligen Institut für Leibeserziehung der Universität Hamburg seine Tätigkeit als Universitätsprofessor für Allgemeine Theorie des Sports mit dem Schwerpunkt „Sozialphilosophie und Psychologie“. Er leitete dort den Forschungsbereich „Transkulturelle Bewegungsforschung“. Mit dem Sommersemester 2003 beendete Prof. Dr. Horst Tiwald seine offizielle Lehrtätigkeit. Mehr als 30 Jahre hat er am Fachbereich Sportwissenschaft der Universität Hamburg gelehrt und gelernt, hat viele und vieles bewegt – nicht zuletzt immer sich selbst.

Diese obigen Informationen entnahm ich der Festschrift, mit der seine ehemaligen Studenten Dieter Gudel, Rainer Landmann und Oliver Prüfer ihren Professor würdigten. Ich beneide sie, denn ich selbst hatte nicht den Vorzug, „als Student“ von diesem brillanten Philosophen, Psychologen, Bewegungswissenschaftler und Praktiker zu lernen. Ich war selbst schon emeritiert, als ich am 22.12.2011 um 2 Uhr nachts seine Bekanntschaft machte, indem ich auf sein Augen öffnendes Büchlein Psychotraining im Kampf und Budosport (1981) und weitere Veröffentlichungen stieß. Ich fand darin so viele Themen behandelt, dass ich mich wunderte, dass es von der deutschsprachigen Kampfkunstgemeinde weitgehend unbeachtet, unerkannt oder gar verkannt blieb. Ich fand es „erleuchtend“ und aufgrund vieler Überschneidungen mit meinen Quellen und Themen im besten Sinne „gruselig“. Obwohl (oder gar weil?) er selbst keinen Kampfkunststil (mehr) aktiv betreibt und nicht den Dogmen der jeweiligen Päpste gefolgt ist, versteht Horst Tiwald die „Kampfkunst-Prinzipien“ besser als höchste Dan-Träger und asiatische Meister.

Seit Weihnachten 2011 haben wir beide ein überaus produktives und mich bereicherndes „Korrespondenzverhältnis“ und inzwischen 969 Seiten E-Mails gewechselt.

Vor kurzem gab mir Prof. Tiwald seine Einwilligung, einen Vortrag in Verbindung mit unseren ausländischen Studien (Bachelor/Magister) zu halten. Er wird voraussichtlich Anfang 2013 in Heidelberg oder Kiel stattfinden. Nichtstudenten dürfen auch teilnehmen.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht
 

GASTEDITORIAL von Prof. em. Dr. phil. Horst Tiwald

Zum „Gestänge“ von Keith R. Kernspecht – Teil 1

Unter „Gestänge“ versteht Keith R. Kernspecht den gewandten Gesamtkörper, der einen gegnerischen Angriff nachgebend aufnimmt und im Ausweichen gezielt moduliert und reguliert.

Um diesen Gedanken des „Gestänges“ zu verstehen, kann es hilfreich sein, sich auch die chinesischen Gedanken zur „Strategie“ in Erinnerung zu rufen. Die fernöstlichen Kampfkünste werden nämlich häufig mit dem chinesischen Denken in Zusammenhang gebracht, insbesondere mit alten Texten über die „Strategie“.

In diesen Texten geht es oft darum:

  • das Ziel nicht unbedingt kraftraubend direkt erreichen zu wollen;
  • sondern besser indirekt über kraftsparende Umwege.

Der frontale Zusammenstoß mit dem Feind wird gemieden, stattdessen wird versucht, den Gegner durch Nachgeben und indirekte Maßnahmen zu desintegrieren, was ihm seine Verteidigungsfähigkeit raubt. Diese Strategie ermöglicht es auch, den Gegner durch indirekte Maßnahmen in seinen Plänen auszulauschen.
Auf diese Weise kann man dann den Feind voraussehend hemmen und ihm so seine Reaktionsfähigkeit rauben.
Letztlich geht es darum, nach Möglichkeit den Feind zu besiegen, ohne eigentlich selbst anzugreifen.
In diesem Konzept stecken zwei Grundgedanken:

  1. dass es zu einem Ziel mehrere Wege gibt, etwa im Sinne von Viktor von Weizsäcker (1), der eine „Leistung“ darin sah, ein Ziel auf mehreren Wegen erreichen zu können;
  2. dass durch indirekte Maßnahmen der Gegner auch ausgelauscht werden kann, dass also hinsichtlich des eigenen Bewegens eine Einheit von Wahrnehmen und Bewegen besteht, dass also das eigene Bewegen nicht nur Aktionen setzt, sondern auch die Grundlage des Wahrnehmens ist.

Wenn es dann in einem chinesischen Text heißt:

„Wenn (etwas), das sich aktualisiert und Form angenommen hat,
auf etwas antwortet, das ebenfalls Form angenommen hat,
dann handelt es sich um eine frontale/direkte Beziehung.
Wenn aber (etwas), ohne selbst Form angenommen zu haben,
etwas beherrscht, was Form angenommen hat,
dann
handelt es sich um eine indirekte Beziehung.“(2)

Dann kommt hier ein dritter Gedanke ins Spiel – nämlich der Unterschied zwischen „Bewegen“ und „Bewegung“:

  • Die „Bewegung“ versucht eine Fertigkeit ihrer Form nach zu realisieren;
  • während das „Bewegen“ eins ist mit dem Funktionieren im Umfeld und von dort her erst den formalen Ablauf des Bewegens aktuell organisiert.

Es geht hier also eigentlich um zwei weitere Gedanken:

  1. Das „Einswerden“ mit dem im Umfeld vorliegenden Problem, das mit dem Bewegen aktuell beantwortet werden soll; also um die Frage nach der „Achtsamkeit“, die über den Körper hinaus den Raum aufspannt.
  2. Die „Funktion(3), d.h. um das „Feld der Antwortmöglichkeiten“, in welchem eine bestimmte Antwort (als eigenes Bewegen) realisiert wird, je nach dem, welches „Argument“ aus dem Umfeld zugelassen (oder umgangen) wird. Dies verweist auf den Begriff „Funktion“, wie ihn Gottlob Frege formuliert hat, für den eine „Funktion“ ein „ergänzungsbedürftiger Spielraum“ ist, der auf das „Argument aus dem Umfeld“ wartet bzw. vorbereitet. Hier schließt sich über die „Funktion als Spielraum“ der Gedanke zum „Leistungsbegriff“ von Victor von Weizsäcker.


Mehr im zweiten Teil des Gasteditorials von Prof. em. Dr. phil. Horst Tiwald.


Literatur:

(1) Vgl. Horst Tiwald: „Bewegen zum Selbst“, zum Downloaden aus dem Internet www.horst-tiwald.de unter
     den „Downloads“ im Ordner „Buchmanuskripte“
(2) Sun Bin, bingfa, Kapitel „Qizheng“ (vgl. Sunzi über die Kriegskunst, Sun Bin über die Kriegskunst, übersetzt
     von Zhong Yingjie, Peking 1994)
(3) Vgl. Horst Tiwald: „Über die Funktion und die Bewegungsaufgabe“, zum Downloaden aus dem Internet
     www.horst-tiwald.de unter den „Downloads“ im Ordner „Texte zur Theorie des Mudo“