Editorial

WingTsun ist die Kunst, Probleme zu lösen

WingTsun ist ein ca. 300 Jahre altes chinesisches Überlebenssystem, das sich von den herkömmlichen Kampfkünsten sehr stark unterscheidet, z.B. dadurch, dass es nicht die Summe seiner Techniken ist, das heißt, es hat kein festes Repertoire an bestimmten Techniken.

Stattdessen gibt es im WT ein Konzept, das heißt eine Art Philosophie, auf deren Grundlage der Fortgeschrittene im Augenblick des Kampfes eigene Bewegungen selbst kreieren kann.
Der WT-Kämpfer hat also nicht fertige Techniken, die er dann an die jeweilige Kampfsituation anpasst, sondern er hat ein flexibles Konzept, eine Art Strategie, die ihm wie ein kategorischer Imperativ, wie eine Goldene Regel, dazu dient, die genau richtige, 100%ig passende Antwort auf einen Angriff zu „er“-finden.
Der WingTsun-Kämpfer hat also nicht schon eine fixe, konservierte Antwort parat, auf die er die Frage sucht, sondern er schafft sich für jede Frage eine maßgeschneiderte Antwort, und zwar in Bruchteilen von Sekunden!
Möglich wird dieses durch ein einzigartiges Sensibilitätstraining der Arme und Beine, „Chi-Sao“ bzw. „Chi-Gerk“ genannt, von dem später noch die Rede sein wird.
Der WingTsun-Anwender muss also nicht eine schon fertige Antwort, sprich Technik, „passend“ machen, indem er sie verändert oder indem er sich besonders schnell bewegt oder indem er ihre Anwendbarkeit mit übermäßigem Krafteinsatz erzwingt.
Insofern ist im WingTsun Kraft nicht so ein wichtiger Faktor wie in den herkömmlichen Kampfsportarten, nicht zuletzt ist WingTsun ja auch die einzige Kampfkunst, die von Anfang an von Frauen gegen Männer konzipiert wurde: das heißt, WingTsun wurde ursprünglich von Frauen entwickelt, bis es dann seit Anfang des 19. Jahrhunderts in die Hände von Männern fiel.
Ebenso wenig wie Kraft und Ausdauer spielt die absolute Geschwindigkeit im WingTsun eine wichtige Rolle, durch das spezielle Sensibilisierungs-Training der „Klebenden Arme“ (Chi-Sao) ist jedes „Zuschnell“ oder „Zulangsam“ nachteilig und Gleichzeitigkeit, also zur gleichen Zeit mit dem anderen zu „wechseln“, ist Trumpf.
Die absolute individuelle Reaktionsgeschwindigkeit, die sich auch durch intensives Training sowieso nicht besonders steigern lässt, ist von untergeordneter Wichtigkeit im WingTsun.
Von siegentscheidender Bedeutung im WingTsun ist die Schnelligkeit, die nötig ist, um sich einer veränderten Situation ohne Zeitverlust anzupassen. Es darf nicht so sein, dass meine Reaktion zeitlich erst auf die Aktion des anderen erfolgt, sondern sie muss nahezu gleichzeitig mit der Aktion des Gegners geschehen.
Schon das Denken, dass der Andere ein „Gegner“ ist, der definitionsgemäß das Gegenteil von dem will, was wir erreichen wollen, führt im WingTsun nicht zum Ziel. Stattdessen betrachten wir uns nicht getrennt vom anderen, sondern sehen uns als seine Ergänzung. Mit unserer durch das Chi-Sao-Training erworbenen Sensibilität in Armen und Beinen „wissen“ wir, was der Andere beabsichtigt. Statt zu allem, was er vorhat, Nein zu sagen oder zu tun, bejahen wir jede seiner Aktionen und unterstützen sie. Somit werden wir zum Erfüllungsgehilfen des anderen, aber wir übertreiben, d.h. wir helfen dem anderen zu sehr, so dass dieser sein Gleichgewicht verliert.
Wir kontrollieren seine Bewegungen nur soweit, wie es zu unserer Sicherheit unbedingt nötig ist, aber wir gestehen ihm soviel Bewegungsfreiheit zu, dass er selbst für seine Niederlage sorgen kann.
Wie wir erkannt haben, ist die taoistische Lebensphilosophie ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes. Dazu gehört Weichheit, der größeren Kraft gegenüber nachzugeben, statt Widerstand zu leisten, und die Angriffskraft des Gegners für sich nutzen, indem man sie „borgt“, recycelt und auf den Angreifer zurückschickt, so dass der durch seine eigene Kraft getroffen wird oder fällt.
Auf diese Weise ist auch die Verhältnismäßigkeit der Mittel gewährleistet, das heißt, der Angreifer bekommt nur das zurück, was er selbst ausgeteilt hat, eine Art „Gerechtigkeit“, die Exzess verhindert und auch den anderen schont.
WingTsun als Selbstverteidigungssystem verwendet die erfolgreiche „Tit for Tat (Wie du mir - so ich dir)“-Strategie.

1. Wir gehen dem anderen freundlich und kooperativ „entgegen“ und bleiben freundlich, wenn er es auch ist.
2. Wird der Andere aber unfreundlich, dann wechselt der WT-Anwender auch auf unkooperativ.
3. Wird der andere wieder kooperativ, werden wir dann auch wieder freundlich.

WT ist in seiner höchsten Stufe rein defensiv. Der erfahrene Meister sollte in der Lage sein, den Kampf zu verhindern, wohl wissend, dass er und der andere kein Gegensatz sind. Am Ende steht die tiefe Erkenntnis, dass „er“ „ich“ ist und es darum geht, das Leid in der Welt zu verringern.
Der Anfänger hat jedoch noch nicht gelernt, auf den Gegner einzugehen und sich ihm empathisch anzupassen. So bleibt ihm in der Selbstverteidigung nur die Chance, dem anderen durch einen harten und blitzschnellen Präventivangriff zuvorzukommen. In dieser Stufe ist der „Angriff die beste Verteidigung“. So lautet dann auch der Titel und das Programm meines entsprechenden Buches.
Der schon Fortgeschrittenere kann aufgrund der Körpersprache rechtshirnisch und linksäugig die Angriffsabsicht des anderen intuitiv antizipieren und dadurch mitten in den Angriff des anderen hinein angreifen. Das heißt, er ist wirklich ein Verteidiger, wenn er es sich auch noch nicht von seinen Fähigkeiten her leisten kann, dem Gegner den 1. Zug zu erlauben. Deshalb besteht seine Verteidigung aus einem Angriff „ins tempo“.
Aber weil die Angriffsvorbereitung (auch wenn sie für den Angreifer unbewusst erfolgt) mehr Zeit erfordert als die Reaktion, ist er als Letzter dennoch schneller als der Erste. Deshalb ist der Titel meines letzten Buches auch „Der Letzte wird der Erste sein“.
Erst der Meister – und durchaus nicht der Meister der Eingangsstufe – hat durch jahrzehntelanges Sensibilitätstraining – Chi-Sao genannt – die Fähigkeit erworben, den Angriff des Anderen zu erwarten und erst dann zu reagieren, wenn seine wie die Fühler eines Insektes tastenden Arme und Beine kontaktiert werden und ihm alle nötigen Informationen über den bevorstehenden Angriff verschaffen.
Alles, was der Angreifer anstellt, sorgt letzten Endes für den Schutz des Meisters. Der Angriff des Gegners formt auf mechanischem Wege die Verteidigung des Meisters, der, allein auf seine Energie vertrauend, jedem Angriff gelassen entgegensieht, in der Gewissheit, dass der Angreifer seine Abwehr schon besorgen wird, so paradox das klingen mag.
Man kann WingTsun als einen bestimmten asiatischen Kampfkunst-Stil betrachten, verbreiten und trainieren. In diesem Falle betreibt man WingTsun, um WingTsun zu machen. Das nenne ich „L'art pour l'art WingTsun“ = ein WingTsun für WingTsun.
Nun ist WingTsun aber nicht konzipiert, um gegen einen anderen WingTsun-Kämpfer anzutreten, sondern um sich gegen den Angriff eines x-beliebigen Angreifers zu schützen, der irgendeinen Stil trainiert hat oder vielleicht auch gar keinen.
Somit darf das WingTsun nicht in ein inzestuöses Training abgleiten, wo ein WingTsun-Kämpfer sich gegen einen anderen WingTsun-Kämpfer verteidigt.
Wohin es führt, wenn man sein Ziel aus den Augen verliert, haben wir schon erlebt: Es führt zur Ausprägung von Techniken, die ausschließlich unter WingTsun-Leuten Sinn machen, auf der Straße aber nie vorkommen.
Aus diesem Grunde tauschen wir uns im WingTsun freundschaftlich und kameradschaftlich mit anderen Stilen aus: mit Karate, Taekwondo, mit Boxen und natürlich Judo, Ringen usw. Dies nicht in dem Sinne, dass wir deren Techniken übernehmen, sondern erkennen, wo und z.B., in welcher Distanz ein bestimmter Stil am wirkungsvollsten ist.
Das WingTsun-System ist für den Nahkampf konzipiert, obwohl der „Fortgeschrittene“ aufgrund seiner Erfahrungen mit „Waffen“ auch auf der größeren Distanz gute Möglichkeiten hat.
 
Unsere ideale Entfernung zum Gegner ist etwas größer als die bei Ringern und dafür etwas kleiner als die bei Boxern. Somit konnten ich in der Vergangenheit als Lehrer Ringern gute Tipps geben, wie sie den ersten Zugriff des Gegners verhindern können. Oder Boxern, wie sie im extremen Nahkampf noch wirkungsvoller agieren können.
WingTsun ist aber nur in seiner untersten, d.h. körperlichen Form ein Selbstverteidigungssystem.
Ich persönlich unterrichte WingTsun als Kunst der Problemlösung
Ein „Problem“ ist entsprechend seiner etymologischen griechischen Bedeutung „etwas uns in den Weg Geworfenes“, also etwas, das uns „im Weg ist“, uns hindert, das durchzusetzen, von dem wir glauben, dass wir es wollen.
Was geht man mit Hindernissen um?
Im WT steuert man zunächst geradlinig auf sein Ziel zu, wobei man den kürzesten Weg benutzt.
Stößt man auf diesem Kurs auf ein Hindernis, dann bietet das Konzept des WT mehrere Lösungsvorschläge, um mit diesem „Problem“ fertig zu werden:

1. Man bleibt am Problem dran (aber nicht verbissen)
2. Man gibt vor dem Problem aus strategischen Gründen leicht nach, rückt aber sofort nach, wenn das Problem nicht mehr da ist.
3. Kann man es unbeschadet tun, ohne damit ein anderes Problem zu schaffen, räumt man es aus dem Weg, aber nur dann.
4. Da WingTsun auch viel mit der Schlange und ihrer Bewegung zu tun hat, kann man – wie diese – um Probleme auch herumschlängeln und trotzdem sein Ziel erreichen.
5. Oft glaubt man, dass zur Erreichung seines Zieles ein bestimmtes Teilziel unbedingt erreicht werden muss und versteift sich darauf, es unbedingt zu bewältigen, statt umzudenken und einen anderen Weg zu gehen.

Hier muss man oft erkennen, dass man selbst das Problem ist: nicht loslassen kann, im körperlichen Sinn antagonistische Muskeln anspannt, zu rigide ist, den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht. Hier tut dann „Metanoia“ not: Buße nicht im Sinne eines Sünders, sondern ein Umdenken, ein „Erkenne dich selbst“, auch ein Hineinversetzen in die Situation des anderen.

Tatsächlich haben wir es mit drei verschiedenen Phasen oder Ebenen des WingTsun zu tun:

1. Ebene: KÖRPERLICHE SELBSTVERTEIDIGUNG
Hier geht es darum, seinen Körper vor den Angriffen anderer (Körper) zu schützen und körperliche Auseinandersetzungen erfolgreich zu bestehen. Dennoch ist auch das körperliche WingTsun keine Ansammlung von Techniken. Bestimmten Mottos oder Formeln folgend werden in Zusammenhang mit einer besonderen Bewegungsschule (Formen, Chi-Sao usw.) die nötigen Verteidigungs-„Bewegungen“ unmittelbar an den Angriff angepasst und vom Verteidiger (WT-Anwender) spontan kreiert.

2. Ebene: SICH DURCHSETZEN IN DER WELT
Dieselben Formeln, die wir in der unteren, körperlichen Ebene benutzen, um damit unsere Kampf-Bewegungen zu generieren, dienen in der 2. Ebene, um Taktiken oder Strategeme zu entwickeln, die sich im äußeren Leben und seinen mannigfaltigen Manifestationen, im Beruf, in der Schule, in der Politik vorteilhaft einsetzen lassen.
In diesem Falle geht es nicht um Verteidigung des Körpers, sondern einer Position, der gesellschaftlicher Stellung, des Geschäftserfolges. Kurz, die mittlere Ebene lehrt, wie man mit Klugheit, Geschick und mit List in der äußeren Welt überlebt und sich gegen andere durchsetzt.
Aber diese Ebene muss am Ende vom Einzelnen überwunden werden, denn alles, was man so gewinnt, ist nicht für ewig und damit am Ende wertlos; letztlich stärken Taktiken und Management-Fähigkeiten (es sei denn, man täte nur selbstlos seine Pflicht) das Ego, die Wurzel von allem Übel und Leid. Darüber hinaus entwickelt Ebene zwei aber „Persönlichkeit“, die, wenn man sie von der „falschen Persönlichkeit“ trennt, die Nahrung ist, die das Material für die verkümmerte „Essenz“ bilden wird.

3. Ebene: SELBSTVERVOLLKOMMNUNG
Diese Ebene ist idealer Weise die Ebene der Meister bzw. Großmeister. Die höchste Lehre hat nichts damit zu tun, wie stark unser Fauststoß ist (körperliche Ebene), auch nicht damit, wie erfolgreich wir im Geschäft, beim anderen Geschlecht, also in der Außenwelt sind. „Denn was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewänne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“
Bei der 3. Ebene geht es um unsere Essenz, um unser wahres Leben, um unser Innenleben. Hier gilt es, nicht andere, sondern sich selbst (Neid, Hass, Frust, Selbstmitleid, Angst, verletzter Gerechtigkeitssinn, schlechte Gewohnheiten usw.) zu besiegen.
Indem wir den Weg der individuellen psychologischen Evolution beschreiten und uns z.B. von falschem Denken, von mechanischen körperlichen und geistigen Haltungen befreien, wollen wir uns in einen neuen, besseren und friedfertigen Menschen verwandeln. Nachdem wir entsprechend an uns gearbeitet haben, wird die Welt für unsere Nächsten eine bessere sein.

Ursprünglich arbeitete der WT-Anwender auf allen diesen drei Ebenen gleichzeitig an sich, als WingTsun aber in China an einfachere Menschen unterrichtet wurde, die nur das Körperliche verstehen konnten, fand eine Aufteilung in die drei verschiedenen Ebenen des Lernens statt. Die meisten Schulen, auch in Asien, kennen nur noch die körperliche Ebene und sind nie mit den anderen beiden in Berührung gekommen, zum Teil leugnen sie sogar ihre Existenz.

Tatsächlich durchziehen dieselben Mottos und Verhaltensformeln auf geniale Weise alle drei Ebenen, wobei sie besonders in ihrer höchsten Ebene den größten und langhaltigen Nutzen bringen.
Dies haben auch viele berühmte Persönlichkeiten erkannt, die – nach meinen Erkenntnissen – mit der körperlichen bzw. geistigen Version des WingTsun in Kontakt gekommen sind:
- Hermann Hesse
- Carl Gustav Jung
- Bertrand Russel
Über dieses Thema hoffe ich, in den nächsten Jahren mehr sagen zu können, zur Zeit fehlen mir noch die letzten Beweise für die Richtigkeit meiner Annahme.

Wenn jemand sich für WingTsun interessiert, ist er herzlich eingeladen, sich an eine unserer lokalen 1500 EWTO-Schulen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz zu wenden. Nähere Informationen finden Sie in unserer EWTO-Schuldatenbank.