Editorial

Der Taiji-Meister Jan Silberstorff zum neuen Buch „Der Letzte wird der Erste sein“ von Keith R. Kernspecht

Jan Silberstorff, Jahrgang 1967, ist der direkte Schüler seines Großmeisters Chen Xiaowang. 1989 absolvierte er die staatliche Lehrerprüfung für Taijiquan in der VR China. 1994 gründete er unter der Schirmherrschaft von Großmeister Chen Xiaowang die WCTAG (World Chen Taiji Association Germany), den heute wohl größten Taiji-Verband Europas. Er spricht fließend Chinesisch und wurde bekannt durch seine zahlreichen Turniersiege in Europa und der VR China sowie durch regelmäßige Publikationen über Taijiquan in Fernsehen und Presse.

Sehr geehrter Herr Kernspecht,

mit Freude und Genuss habe ich nun Ihr Buch gelesen und bin aus vielen Anlässen heraus hoch erfreut.
Zum einen, weil es augenscheinlich ist, dass wir derzeit an ähnlichen Konzepten arbeiten. Zum anderen, weil es mich freut, dass mir eine mir selbst unangenehme Arbeit, die Ihnen sehr viel mehr zu liegen scheint, durch Sie abgenommen wurde: Und zwar der Versuch, unsere Konzepte wissenschaftlich zu hinterlegen. Ich selbst argumentiere in der Regel lieber aus der Erkenntnis, welche mir aus dem praktischen inneren Training meines Taijiquan erfahrbar wird, sowie der Bestätigung durch die erfolgreiche Umsetzung in der Praxis. Daher neige ich eher dazu, meine Theoreme mit „Geschichten“ aus meinem Leben zu ergänzen und versuche so, meine angeborene Faulheit gegenüber wissenschaftlicher Recherche und Quellenangaben, auszutricksen. Ich finde mich daher sehr in dem von Ihnen zitierten unbenannten indischen Mystiker und Professor (Vorwort) wieder, der da sagte, dass der östliche Verstand nur pseudowissenschaftlich sein könne. Vielleicht habe ich deshalb so viel Zeit meines Lebens in diesen Regionen verbracht…Bei Ihnen entdecke ich eine angenehme Mischung von beidem. Das freut und erleichtert mich. Ich kann in Zukunft auf Ihr Buch verweisen und darf daher weiter bei meinen „Geschichten“ bleiben … Auf Seite 34 erwähnen Sie einen klassischen Grundsatz chinesischer Kampfkunst (er spielt im Taijiquan eine tragende Rolle, ist aber traditionell ebenso im Shaolinquan verankert): „Wenn der Feind sich nicht bewegt, bewege ich mich auch nicht. Sobald der Gegner sich bewegen will, bewege ich mich zuerst.“ Ich denke, dies ist inzwischen ein gemeinsamer Ausgangspunkt unserer beiderlei Arbeit. Ich habe mir jedoch innerhalb meiner Verbandsarbeit erlaubt, die Übersetzung dieses Satzes (im Taijiquan wörtlich „Der Gegner bewegt sich nicht, ich bewege mich nicht. Der Gegner bewegt sich, ich bewege mich vor ihm“) etwas anders zu übersetzen, bzw. zu ergänzen: „Der Gegner bewegt sich nicht, ich bewege mich nicht. Der Gegner bewegt sich, ich bin schon da.“ Damit bringe ich mich nicht nur in die Situation, zwar als letzter zu starten und mich dennoch als erster zu bewegen (was Sie sehr schön durch die neurologische Untersuchungen ergänzt haben), sondern ich stelle gleichsam noch sicher, dass ich auch wirklich erfolgreich als erster ankomme, ja mehr noch, wo immer der Gegner ansetzt, bin ich bereits schon angekommen, ich werde also quasi zu seinem Alptraum, denn wohin immer er gehen möchte, warte ich bereits auf ihn. In den Schiebenden Händen üben wir dies, in dem wir versuchen, weit in den Gegner „hineinzugehen“ und ihn in seiner Bewegung bereits vom tiefsten für uns wahrnehmbaren Zentrum aus zu begleiten, eigentlich sogar eher zu führen. Bei guter Praxis erfahren wir dabei einen Quellpunkt der Bewegung des Gegenüber, der ihm selbst jedoch mangels „Einfühlungsvermögen“ unbekannt ist. Natürlich können wir beim Gegenüber nur eine Tiefe von Bewegung wahrnehmen, wenn wir diese generell bei uns selbst wahrnehmen können. Daher kommt zuerst immer die Selbst(er)kenntnis. In der Praxis bedeutet dies: Immer steht das Formtraining vor den Schiebenden Händen. Es erklärt sehr gut den alten Spruch von Laotse: „Wer den anderen kennt, ist klug, wer sich selbst kennt, ist weise.“ Oder auch den Klassiker: „Man muss zuerst den inneren Feind besiegen, bevor man den äußeren Feind besiegen kann.“ Wir nehmen das sehr wörtlich. Daher spielt die Energiearbeit bei uns eine so große Rolle. Eine jegliche Regung, sei es physisch oder mental, ist aus unserer Sicht, immer erst eine Folge innerer Energetik. Ähnlich wie man normalerweise nicht die Energie selbst, sondern immer erst deren Wirkung wahrnimmt. Dschuang Dsi spricht hier vom „Fasten des Herzens“, um auf eine Ebene hinzuweisen, die vor den uns bekannten Wahrnehmungen (unseres Selbst und darüber auch des Anderen) liegt. Das bedeutet, man muss den Bereich wahrnehmen, der vor dem Fühlen liegt. Daoistisch: Man muss das Nicht-Fühlen fühlen. So kann der Weise „im verborgenen handeln“, bzw. „nicht handeln und doch bleibt nichts ungetan“ (Laotse). Denn dieses Handeln findet in einem Bereich statt, der vor der Wahrnehmung eines Untrainierten liegt und bleibt ihm daher verborgen. Bzw. er kann keine Handlung erkennen. So sagt unser Stilbegründer Chen Wangting (17. Jahrhundert): „Niemand kennt mich, wobei ich alle kenne.“
So ähneln wir uns auch in dem Satz auf Seite 37 Ihres Buches: „Verfolge nicht die Arme, sondern den Körper“. Aufgrund vorangegangener Darstellung würde ich jedoch eine Stufe weiter (nach innen) gehen und sagen: „Folge nicht den Bewegungen des Gegners, sondern seinem Zentrum.“ Dieser Satz wird auch bei den meisten Ausübenden im Taijiquan falsch verstanden. Sie versuchen, den Bewegungen (und so schließlich und endlich auch den Armen) zu folgen, und dies sogar auch dann noch, wenn sie durch diese real gar nicht mehr bedroht werden oder vielleicht tatsächlich auch nie bedroht wurden (und dies nur nicht bemerkt haben). Folge (oder besser) (Beg-)leite ich jedoch die Bewegungen des Gegners aus seinem Zentrum, übernehme ich die Schirmherrschaft gleich von Anfang an. Im Ideal hieße das: Der Gegner kommt in dem Sinne gar nicht erst vor, und der Kampf wird zu einem „Nichtkampf“. In der Praxis bedeutet dies den Sieg im allerersten Moment.
Immer mehr zur Quelle der Bewegung vorzudringen bedeutet, dass die Bewegungen immer kleiner und daher auch subtiler werden, worauf wiederum folgender Satz innerer Kampfkunst beruht: „Große Bewegungen sind nicht besser als kleine Bewegungen. Kleine Bewegungen sind nicht besser als Nicht-Bewegungen. Aus der Nicht-Bewegung entsteht wahre Bewegung.“ Um all diese Phänomene wahr zu nehmen, müssen wir natürlich eine tiefe Reise in uns selbst antreten. Das erklärt die Ausübungsweise des Taijiquan und seine so genannte „innere Energiearbeit“, das Qigong. Daher wird Taijiquan und speziell der Inhalt von Formentraining von Außenstehenden oft missverstanden. Wichtig ist daher, nicht die Formen einfach zu machen, sondern ihre wirkliche tiefgehende Bedeutung zu verstehen und sie daher als Werkzeug innerer Arbeit zu verstehen und nicht bloß als äußere Technikansammlung. Letztere hätte als solche keinen Wert, und Sie selbst wissen, wie Sie mir erläutert haben, um den Wert des „Zeitlupentrainings“.
Es ist interessant, zu meiner Anfangszeit habe ich mich gefragt, wie man mit so einem langsamen Training bloß „kämpfen“ könnte, und guckte ein wenig neidisch zu meinen Freunden in der äußeren Kampfkunstwelt hinüber. Inzwischen scheint es mir genau gegenteilig: Es ist mir fast unverständlich, wie man durch „schnelles Training“ überhaupt eine gewisse Tiefe erreichen kann.
Natürlich kommt man durch dieser Praxis schnell auf das spirituelle Konzept der „Ich-Aufgabe“, um nämlich genau die Dimensionen dahinter, besser: davor kennen zu lernen und sich besser in diesem Bereich zu positionieren.
Hier sehe ich auch ein weiteres Konzept zu Ihrer Idee auf Seite 50 und vor allem Ihren Ideen der „Angstbewältigung“: Die Angst ist schon noch da, nur man selbst ist quasi nicht mehr dort, wo die Angst ist. Es ist, als wenn es zwar immer noch regnet, aber ich stehe nicht mehr im Regen, sondern sitze drinnen (innen) im Trockenen und bin quasi nur noch Beobachter des Regens, bzw. dieser Angst. Natürlich ist die Dimension vor dem „Ich“ in dem Sinne nicht mit dem „Ich“ wahrnehmbar, was aber auf diese Weise erklärt, warum ich so viel effizienter (bei richtigem Training) agiere in Zeitmomenten, die „ich“ im wahrsten Sinne nicht mitbekomme. Zum Beispiel einer wirklichen, aber spontanen oder überraschenden Auseinandersetzung, in der die Angst ebenso wenig Zeit hat, die Situation zu realisieren und zu entstehen, wie „ich“ es selbst habe. „Angst“ und Erkennen kommen erst in dem Moment, wo der andere schon geschlagen am Boden liegt. Es ging also sozusagen viel zu schnell, um verlieren oder auch Angst haben zu können. Erst im Nachhinein realisiere ich das Geschehene und eine quasi „Nachangst“ setzt ein. Eine intuitive Situationskontrolle ist gegeben durch das Konzept des Taijiquan „Bewegt sich der Gegner langsam, bewege ich mich langsam. Bewegt er sich schnell, bewege ich mich schnell.“ Dies bedeutet konkret, dass ich mich immer in der Energie des Gegenübers bewege. Simpel: Ist der Angriff ernsthaft, bin ich es auch, ist er nur sporadisch, bin ich auch nicht anders. So laufe ich nicht Gefahr, über oder unter zu reagieren. Diese Prozesse jedoch verlaufen zu schnell, als dass ich sie über den Verstand kontrollieren könnte. Natürlichkeit und richtige Energetik ist also wieder einmal ausschlaggebend. Denn die (Re-)Aktionen sind im Ernstfall intuitiv und meist nicht bewusst gesteuert. Sehr gut hat mir Ihr Beispiel gefallen, wie Aggression gerade dazu dienen kann, Gewalt zu verhindern, während Emotionslosigkeit hochgradig gefährlich sein kann (S.14-15). Sicherlich ist aber auch hier ein hohes „Einfühlungsvermögen“ und dadurch eine richtige Einschätzung der Person und Situation erforderlich, um nicht doch im falschen Moment zu provozieren. Was mich aber letztendlich besonders gefreut hat, ist ihre Hervorhebung der sogenannten Außenposition. Die Außenposition ist mir schon immer die liebste und hat mir oft einen angenehmen Vorteil eingebracht. Die Außenposition ist in unseren Schiebenden Händen immer die vorrangige, was mich bisher immer zu der Einsicht brachte, das hier u.a. ein Unterschied zwischen unserem Taijiquan und Ihrem WingTsun-System liegt. Ich freue mich daher, dass ich diesen Gedanken nun über Bord werfen darf.
Ich hoffe, nicht zu lang ausgeführt zu haben, und verbleibe mit lieben Grüßen und vielleicht ja bis bald,

Jan Silberstorff
4.7.2004

 

GM Keith R. Kernspecht antwortet:

Sehr geehrter Herr Silberstorff,

Für Ihre Ausführungen zur 1. Auflage meines Buches danke ich von ganzem Herzen, denn ich fühle mich verstanden, obwohl Sie einen ganz anderen Stil praktizieren. Ich darf aus Ihrem Brief zitieren: „Der Gegner bewegt sich, ich bin schon da." Dies entspricht dem Beispiel vom Rennen zwischen dem Hasen und dem Igel aus meinem Buch „Vom Zweikampf", wo der Igel sagt: „Ich bin schon da." Ihre Forderungen: „Man muss zuerst den inneren Feind besiegen, bevor man den äußeren Feind besiegen kann." und „Zuerst kommt immer die Selbst(er)kenntnis" oder „Wer den anderen kennt, ist klug, wer sich selbst kennt, ist weise." finden sich auch in der höheren oder inneren Ebene des WingTsun.
„Wir versuchen, weit in den Gegner hineinzugehen und ihn in seiner Bewegung bereits vom tiefsten für uns wahrnehmbaren Zentrum aus zu begleiten, eigentlich sogar eher zu führen" könnte eine WT-Beschreibung sein, ebenso wie Ihre Feststellung: „Immer steht das Formtraining vor den Schiebenden Händen." Dem WT-Kämpfer, der glaubt, dass das taktile Erspüren das letzte Ziel im WT sei, könnte man mit Ihnen vorhalten: „Man muss den Bereich wahrnehmen, der vor dem Fühlen liegt."
„Folge nicht den Bewegungen des Gegners, sondern seinem Zentrum." ist eines der bekannten WT-Mottos, ebenso wie der „Sieg im allerersten Moment." unser Ideal ist.
Ihre Worte zur Angstbewältigung: „Die Angst ist schon noch da, nur man selbst ist quasi nicht mehr dort, wo die Angst ist. Es ist, als wenn es zwar immer noch regnet, aber ich stehe nicht mehr im Regen, sondern sitze drinnen im Trockenen und bin quasi nur noch Beobachter des Regens, bzw. dieser Angst." entspricht unserer Auffassung ebenfalls.
Sehr gefreut hat mich Ihr Satz: „Bewegt er sich schnell, bewege ich mich schnell.", denn dies ist die WT-Einstellung zur Geschwindigkeit, die bei uns auch aufgrund des Chi-Saos und unserer kurzen Wege nicht die überragende Rolle spielen muss wie in anderen Stilen. Wir sprechen im WT davon, dass wir selbst nicht schnell sein müssen, weil wir auch die Schnelligkeit vom Gegner borgen. „Was mich aber letztendlich besonders gefreut hat, ist ihre Hervorhebung der sogenannten Außenposition." Dass Sie sich darüber gefreut haben, freut nun wieder mich auch, denn für mich bedeutet die Außenposition eine größere Sicherheit als die Innenposition, was besonders für nicht so Chi-Sao-Erfahrene von Bedeutung ist.
Wir beide haben nur gegenseitig die Bücher des anderen gelesen und einmal beim Essen ein sehr angenehmes Gespräch gehabt, wobei wir ohne die Arme kreuzen zu müssen feststellten, dass wir dieselbe Sprache sprechen und mit unseren Auffassungen von Kampfkunst sehr dicht beeinander liegen, während ein oberflächlicher Beobachter, der uns bei der Arbeit zusieht, meinen würde, dass sich unsere Bewegungen erheblich unterscheiden. Ein klügerer Mann als ich benutzte dafür den Turmbau zu Babel als Symbol. Wir erinnern uns, dass es dabei um die „Verwirrung der Sprachen" ging und darum, dass jeder danach eine andere Sprache benutzte und die anderen nicht mehr verstand. So ist es heute mit den verschiedenen Religionen, aber auch mit viel profaneren Dingen wie Kampfkünsten. Jeder glaubt, im Besitze der alleinigen Wahrheit zu sein und lächelt offen oder insgeheim über das, was der andere für richtig hält. Der normale Kampfkunstausübende sieht nur die äußere Form der Bewegung, die Technik, die Formen, die Übungen, die Reihenfolgen der „Partner-Tänze". Er kann Schnelligkeit, Kraft, Dynamik, Gelenkigkeit und Artistik würdigen, aber sein Verständnis dringt kaum unter die Oberfläche. Ein Meister aber muss den Dingen auf den Grund gehen und sein Verständnis muss in die Tiefe dringen, wobei in die Tiefe nach „innen" bedeutet, zur Mitte. Dies meint Herr Silberstorff mit der „tiefen Reise in sich selbst", die zugleich eine tiefe Reise in die Kampfkunst ist. Unser Wesen, unser Verständnis bestimmt dabei auch unser Verständnis von der Kampfkunst.
Ich möchte zur Verdeutlichung das Bild eines Kreises benutzen. Auf der Oberfläche des Kreises habe ich x-beliebige Stile eingetragen wie WingTsun, Aikido, Taijiquan, Escrima, Shaolin, Muay Thai, Pakua. Ich hätte auch Judentum, Christentum, Islam, Buddhismus, Taoismus, Konfuzianismus oder Hinduismus schreiben können, denn auch Religionen haben ihren oberflächlichen Anteil wie Kampfkünste und auch die Reise zu den Religionen ist immer die Reise zu sich selbst.
In den großen, „exoterischen" Kreis habe ich einen zweiten Kreis gezeichnet, der den Radius drittelt, diesen nenne ich den „mesoterischen" Kreis. Noch dichter am Mittelpunkt ist der „esoterische" Kreis. Der Name „esoterisch" ist heutzutage u.a. durch unseriöse Marktschreier in Verruf geraten, so dass man sich fast schämt, dieses Wort zu gebrauchen, das eigentlich nur soviel wie „innen" bedeutet. Esoterisches Wissen ist „Insiderwissen" von Leuten, die in den inneren Kreis vorgedrungen sind. Was ist nun der Weg des WingTsun oder des Aikido oder des Shaolin? Meine Zeichnung zeigt es ganz deutlich: der Strahl, der von dem entsprechenden Stil direkt zum Mittelpunkt des Kreises zielt, ist das, was man gemeinhin als Do, als Tao oder als „den Weg" bezeichnet. Und so wie viele Wege nach Rom führen oder zum Mittelpunkt der Erde, so führen viele verschiedene Wege zu dem, was alle Kampfkunst im Innersten zusammenhält.
Und nun wird auch klar, weshalb zwischen uns beiden, obwohl wir zwei deutlich verschiedene Stile vertreten, eine größere Übereinkunft, eine verständnisvollere Nähe und eine stärkere Affinität besteht als z.B. zwischen Ihnen und den meisten Praktizierenden Ihres Stiles. Unsere Schüler achten auf vertraute Körperhaltungen, auf technische Ausführungen, auf Sequenzen, kurz auf Äußerlichkeiten. Wir sehen mit dem Herzen.

Halten wir fest, dass es exoterisches, mesoterisches und esoterisches WingTsun und äußeres, mittleres und inneres Taijiquan gibt ebenso wie es z.B. Aikido-Leute geben muss, die äußere, mittlere und innere Aikidoka sind, je nach ihrem Verständnis.
An der Oberfläche (exoterisch) sind WingTsun und Taijiquan weit entfernt. Dies ist der Ort und die Phase in der wohl 70% unserer Schüler stecken. Fortgeschrittene gehören zum mesoterischen Kreis und haben sehr viel mehr Verständnis für andere, die zum mesoterischen Kreis anderer Stile gehören. Wer aber nach zig Jahren der inneren Beschäftigung mit dem Thema in den innersten (esoterischen) Kreis seines Stiles Eingang gefunden hat, wird sich dort auf intimer Tuchfühlung mit dem Intimkenner eines anderen Stiles befinden, wie sehr sich dieser auch oberflächlich unterscheiden mag.
Bezeichnenderweise können wir zwei uns auch besser verständigen als ich mich z.B. mit einem Meister eines anderen wing chun-Stiles, obwohl seine Stilrichtung der meinen eigentlich näher ist als Ihre. Dies liegt daran dass, Stile, die sich anfangs nur in wenigen Punkten unterscheiden, diese wenigen Unterschiede besonders herausarbeiten und zu einer unüberwindlichen Mauer ausbauen, um sich noch mehr zu unterscheiden. Dies liegt in der Natur der Bildung einer „reference"- oder „psychological group", weshalb ich mich resignierend wieder unserem Thema zuwende. Wenn nun der Radius der jeweilige Weg des Stiles ist, ist dann jeder Weg gleich schnell? Ist dieser Weg in jedem Stil schon bis zum Ende durchschritten worden? Ist ein Weg beschwerlicher als ein anderer? Gibt es für jeden Weg Reisende, die schon da waren und als Reiseführer dienen können?
Und was hat es mit dem Spruch auf sich, dass der Weg wichtiger ist als das Ziel? Wofür ist der Weg das Ziel? Was ist das Ziel? Was ist das Ziel? Bleibt der nicht in Gefahr, ein ewiger Schüler zu sein, ein ewiger Suchender zu bleiben, der ständig seinen Si-Fu oder Sensei oder Guro wechselt, der sich selbst programmiert hat, nicht ankommen zu „wollen"? Aber erkannte nicht auch Max Planck, sich auf Lessing stützend, dass nicht der Besitz der Wahrheit, sondern das erfolgreiche Ringen um sie das Glück (des Forschers) ausmacht; denn alles Verweilen ermüdet und erschlafft auf Dauer. Darüber sollten wir uns das nächste Mal beim Essen unterhalten.

Ihr
Keith R. Kernspecht

P.S.: Je tiefer man gräbt, je mehr man von der Oberfläche nach innen, zum Ursprung, zur Mitte vordringt, desto weniger wirkliche Unterschiede, die Wahrheit betreffend, findet man.
Das wird mir jetzt wieder bewusst, wo ich mich in die Bedeutung der Qumran-Rollen vertiefe, die man zwischen 1947 und 1956 rund 30 km östlich von Jerusalem in Höhlen fand. Dieses brisante Material hob zwar nicht die christliche Kirche aus ihren Angeln, wie manche voreilig prognostizierten, da sie heute wohl eher eine soziale, kulturelle, politische und ökonomische Funktion erfüllt. Aber, um M. Baigent zu zitieren, „lassen (die Schriftrollen vom Toten Meer) die drei dem Nahen Osten entstammenden großen Religionen in einem neuen Licht erscheinen. Je näher man diese Religionen in Augenschein nimmt (ich würde sagen, je tiefer man zum Inneren vordringt), desto mehr stellt man fest, wie sehr sie sich überschneiden und wieviel sie gemeinsam haben, ja, dass sie im Grunde genommen alle derselben Quelle (ich würde sagen „Mitte") entspringen und dass das Ausmaß der Streitigkeiten unter ihren Anhängern, wenn sie nicht auf Missverständnissen beruhen, weniger aus geistlichen Werten herrühren als aus der Politik, aus Neid, Selbstsucht und einer Interpretation unter dem Blickwinkel voreingenommener Arroganz."
Dieser Aufzählung würde ich gerne noch den blinden Fanatismus hinzufügen, diese schlimme Ausdrucksform der Identifikation.