Editorial

Dennoch machen Formen Sinn …

In diesem Monat folgt ein weiterer Auszug aus meinem in Arbeit befindlichen neuen Buch. Dieses Mal geht es um die Sieben Fertigkeiten.

Bei den Sieben Fertigkeiten handelt es sich vor allem um die klassischen sechs von Yip Man – dem verstorbenen letzten Führer des noch vereinten WingTsun-Systems – überlieferten Formen:

   1. SiuNimTau-Form
   2. ChamKiu-Form
   3. BiuDjie-Form
   4. Holzpuppenform
   5. Langstockform
   6. Doppelmesserform

       und außerdem (und das betrifft nur den LeungTing-Stil des WingTsun)

   7. um 26 Sequenzen von Partnerformen, wobei alle Bewegungen im Armkontakt mit dem Partner (!)
       begonnen werden.

Insgesamt haben wir im LeungTing-Stil also 32 Formen, eine Menge, wenn man bedenkt, dass unser WT-Motto lautet:
Im WingTsun gibt es nur wenige Formen. Sie sind leicht zu lernen, aber schwer zu meistern.
Warum nennen wir sie die Sieben „Fertigkeiten“? Nun, weil sie „fertig“ sind, weil sie schon eine fertige Form angenommen haben, um auf eine bestimmte Frage zu antworten.

Was sind die drei Hauptziele von Formen?

Egal, um welchen Stil es sich handelt, Formen sind Sätze oder Serien von meist bis ins Letzte detailliert vorgeplanten „Techniken“ in einer festgelegten Reihenfolge.

Ihre drei Hauptaufgaben sind es, bewährtes Wissen:

   1.  zu bewahren, dass es nicht in Vergessenheit gerät,
   2.  weiterzugeben,
   3.  durch ständiges Wiederholen der Techniken zu verinnerlichen,
        so dass sie Teil des Kämpfers werden.

Zu 1:
Bewahren könnte man die einzelnen Bewegungen, ohne sie auswendig lernen zu müssen. Unsere Vorfahren kannten einzelne Teile der Bibel auswendig, bevor es Bücher für jedermann gab. Wir müssen keine langen Texte mehr auswendig lernen, seit es Filme, Videos und Internet gibt. Dennoch machen Formen Sinn …

Zu 2:
Techniken weitergeben kann man, ohne sie in Formen zu gruppieren. Dennoch greift das Argument. Z.B. war es eine Ursprungsidee, Bewegungen in Partnerformen anzuordnen, so dass der Lehrer immer weiß, in welcher Reihenfolge der einzelne Schüler zu unterrichten ist. Man brauchte ihn nur zu bitten: „Zeig mir deine letztgelernte Bewegung der (Partner-)Form“, dann wusste man genau, wie weit er gekommen war und was der Stoff für die folgende Unterrichtseinheit sein muss. Insofern war es für den Lehrer hilfreich, die genaue Reihenfolge der Formen zu kennen. Auf diese Weise konnte er jeden fremden Schüler desselben Stiles, ohne ihn zu kennen, sofort einordnen und unterrichten, ohne unnötig zu wiederholen oder im Stoff vorzugreifen. Allerdings könnte er diese Aufgabe auch mit Hilfe von Wandpostern oder Aufzeichnungen lösen. Dennoch machen Formen Sinn …

Zu 3:
Inwiefern es von Vorteil sein kann, dass bis ins letzte Detail vorfabrizierte Techniken Teil des Kämpfers werden, erschließt sich mir nicht. Aber ich muss dieses Argument referieren, da es gerne von Vertretern der diversen Stile angeführt wird. Auch wenn Argument Nr. 3 nicht greift, machen Formen Sinn … Aber darüber im nächsten Editorial mehr.

Euer SiFu/SiGung

Keith R. Kernspecht