Editorial

Wer „KungFu“ sagt, muss auch „Indien“ denken

Aus Patriotismus stellt China gern den Taoismus in den Vordergrund, wenn es um die Entstehung des KungFu geht; denn der Taoismus ist eine chinesische Philosophie.
Die aber vielleicht sogar wichtigere Rolle des Buddhismus spielen chinesische Meister oder Autoren gern herunter, da diese Lehre bekanntlich erst aus Indien nach China gelangte.

Während meiner eigenen Ausbildung hörte ich deshalb auch oft die Behauptung, dass WingTsun bzw. KungFu überhaupt nichts mit alten indischen Zweikampf-Methoden zu tun habe. Ohne dieses kritisch zu hinterfragen, übernahm ich diese Auffassung.
Erst Prof. Horst Tiwald, der seine Doktor-Arbeit über Zen-Buddhismus geschrieben hatte, brachte mich zum Umdenken.

Der indische Prinz Bodhidharma, auch bekannt als Ta Mo und Daruma (498 - 561), kam gegen 520 im Shaolin-Kloster an. Von dort verbreitete sich seine Lehre der Blitz-Erleuchtung von Nord-China bis in den Süden.

Als er feststellte, dass die buddhistischen Mönche dort ihren Körper zugunsten ihres Geistes kläglich vernachlässigt hatten, soll er ihnen eine „Nata“ und zwei „Pratima“ der Bodhisattva Vajramukti-Methode beigebracht haben.

Die Nata hieß „Astadasajacan“, was man wörtlich als „18 Sieger“ übersetzen kann. Später wurde sie auf Chinesisch als „Shiba Luohan Shou“ (18 Handbewegungen der Unsterblichen) bekannt.
Sie bestand aus Atemübungen, Schritten, Muskelanspannungen und Meditationsübungen und war die Grundlage für „Quan Fa“ (quan = Faust; fa = Buddha), das man später „KungFu“ (= harte Arbeit) nannte.

Anders als man denkt, ging es in erster Linie um eine Art Psycho-Training, das zur Achtsamkeit und zum Selbsterkennen führte. Der automatisch mitgelieferte Nebeneffekt war hohe Kampfstärke aufgrund von der durch das Training entwickelten Kaltblütigkeit.

Der Mönch galt als „spiritueller Krieger“, der Menschen in Not schützte oder den Angriff nutzte, um den Aggressor zu belehren, wie sinnlos Gewalt sei.
Zu diesem Zweck übte er, um einen dreifachen Krieg zu gewinnen, auf den drei Kriegsschauplätzen:

  1. des Geistes,
  2. des Sprechens (Atmens) und
  3. des Körpers.

Diese Trinität von Geist, Körper und Sprechen (Atmen) heißt auf Chinesisch „Sanjin“ oder „Sanchin“.
Die gleichnamige Triangulations-Stellung verkörpert die Harmonie, also die Balance von Geist und Körper. Vor dem Lernen aggressiver Techniken standen (mit „Wute“, das Bodhidharma nach Shaolin gebracht hatte) spirituelle Entwicklung, Gesundheit und Ethik.

Aus diesem ursprünglichen buddhistischen Shaolin-Quanfa entstanden im Verlauf der Säkularisierung, bei der dieses KungFu auch Laien und nicht nur Mönchen zugänglich wurde, Hunderte verschiedener Kampfstile.

Der inzwischen wichtigste und weltweit verbreitetste Stil, der sich über die Jahre aus dem Shaolin entwickelte, ist neben Tai Chi Chuan unser WingTsun (zur selben Familie gehören die Varianten Ving Tsun und Wing Chun).

WingTsun (WT) und seine Varianten setzen sich aus mehreren älteren externen und internen Stilen zusammen, wobei die einzelnen Ursprungsstile nicht mehr bekannt oder ausgestorben sind.

Am Beispiel unseres WingTsun kann man die Verschmelzung chinesischer Tao- und indischer Buddha-Traditionen studieren.

Der übliche Stand im WingTsun, der Yee Chi Kim Yeung Ma, lässt sich ohne Mühe zurückführen auf den Sanchin-Stand, den man u.a. auch noch im Goju- und Kyokushin-Karate, aber auch im chinesischen Hsing-I Chuan (Chuan = Quan) als „Santi“ findet. Zumindest der vordere Fuß ist dabei nach innen gedreht. Sanchin, Santi oder Yee Chi Kim Yeung Ma sollen hier nicht nur für die Beinstellung als solche stehen, sondern für ihre Rolle und Gesamtfunktion im Lehrprogramm: das stille, unbewegliche Stehen, das innere Prozesse in Gang bringt, die Körper und Geist in Bereitschaft zum blitzschnellen Handeln bringen.

Sanchin, Santi oder Yee Chi Kim Yeung Ma haben am Ende einen gemeinsamen Zweck: die Entwicklung der Geistesgegenwart, die es möglich macht, im Kampf angesichts der komplexen Gefahr spontan und bewusst – aber nicht willkürlich – agieren (aber nicht reagieren!) zu können.

Man spricht im Taoismus auch von einer anderen Trinität, und zwar jener von Himmel, Erde und – als Brücke dazwischen – dem Menschen.

Im inneren WingTsun (iWT), das sich an der alten chinesischen Weisheitslehre orientiert, sehen wir uns eingespannt zwischen dem Erdboden und unserem Berührungspunkt mit dem Gegner (= dem, der uns „entgegen“-steht).

Beide Berührungspunkte – erstens mit dem Boden und zweitens mit dem Gegner – gelten uns wie ein einziger, so dass wir sie in gleicher Weise behandeln: gegen keinen von beiden stemmen wir uns, gegen keinen von beiden leisten wir Widerstand. 

Im Unterschied zum üblichen WingTsun, das – zusätzlich – auch äußere Kräfte nutzt, verwenden wir im iWT ausschließlich  „innere“, aber keine „äußeren“ Kräfte, das heißt, z.B. keine „Reaktions“-Kräfte“ aus dem Boden.
Dadurch ist es sehr schwer, einem iWT-ler das Gleichgewicht zu rauben, denn er ist ständig in Harmonie mit sich selbst.

Insofern berufen wir uns auf zwei Gründe, wenn wir zumindest vom iWT sagen, dass wir es von Anfang an als einen inneren Stil unterrichten:

  1. Wir beginnen vom ersten Tag an mit chan-buddhistischer Achtsamkeits-Schulung.
  2. Wir benutzen die taoistische Yin/Yang-Lehre, um unsere Kräfte so zu organisieren und zu raffinieren, dass wir stets im Gleichgewicht sind, so dass wir uns gleichzeitig mit dem Gegner verändern können, sobald er etwas verändert.

WingTsun steht gleichermaßen auf dem Fundament der indischen (Zen, Chan, Meditation) und der chinesischen (Tao) Tradition: Zur Strukturierung und für die beiden mentalen essenziellen Fähigkeiten aus der Liste der „Großen Sieben“, nämlich Achtsamkeit und Kampfgeist, greifen wir auf das Zen-buddhistische Psycho-Training (siehe Prof. Tiwalds Buch „Psycho-Training im WingTsun, Taiji und Budo-Sport“) zurück; was das kämpferische Bewegen angeht, liefert uns der Taoismus die Prinzipien.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht