Meine erste Begegnung mit ChiSao Kuen
Leider war es mir nicht möglich, bei der offiziellen Premiere, als mein SiFu, GM Kernspecht, auf Teneriffa zum ersten Mal seine neue Unterrichtsmethode vorstellte, dabei zu sein. Umso gespannter erwartete ich das Wochenende 15./16. Februar in Norderstedt, wo das nächste Mal ChiSao Kuen auf dem Programm stand.
Mitte Februar war es endlich soweit. Gebrieft durch den Text, den GM Kernspecht im Dezember veröffentlicht hatte, stand ich in der Schule von Frank Aichlseder und war bereit, mich praktisch auf diese neue, SiFus eigene systematische Unterrichtsmethode, die Könner im ChiSao ausbilden soll, einzulassen. Ich war neugierig, ob ich vielleicht einen Aha-Effekt erleben würde. Wo sich mein ChiSao funktionaler gestalten ließe – trotz schon vieler Jahre intensiver WingTsun-Erfahrung. Aber das ist ja das Tolle am WingTsun: Selbst nach so langer Zeit gibt es immer noch Neues zu entdecken, kann man sich immer noch weiterentwickeln und immer noch sein WingTsun verbessern. Wenn man es will …
Um WingTsun optimal zu lernen, haben wir die große Ressource EWTO und allen voran meinen SiFu GM Keith R. Kernspecht. Er hat mit seinem ChiSao Kuen wieder einen Meilenstein gesetzt, an dem sich die WingTsunler orientieren können.
Als ich mit WingTsun begann, waren die Formen entsprechend der chinesischen Tradition die Hauptgrundlage des Unterrichts. Sie und auch andere Übungen lernten wir, indem der Lehrer die Bewegungen vormachte und wir sie nachmachten. Mit unterschiedlichem Erfolg …
Aber Prof. Kernspechts Methode ist heute – nicht zuletzt geprägt durch universitäre Studien und, wie er sagt, durch seinen Mentor, Prof. Horst Tiwald – ganz anders: Nachdem sein Augenmerk Jahrzehnte lang auf den überlieferten Prinzipien und Mottos war, liegt es seit ca. 2012 auf der Funktion.
Er will, dass die Schüler lernen, auf die Situation zu blicken und eine maßgeschneiderte Lösung zu finden. Diese drängt sich oftmals schon durch die Bewegungsfrage des Gegners nahezu auf. Im ChiSao-Kuen-Unterricht stellt er deswegen den Schülern eine Bewegungsaufgabe, die sie lösen sollen: Er sagt z.B.: „Deine Arme berühren von außen die des Gegners. Greife ihn so an (Kopf oder Körper), dass du ihn treffen kannst, aber er dich nicht!“
Wir erarbeiteten uns dazu auf dem Lehrgang gemeinsam mit einem Partner – zunächst nach der Versuch-und-Irrtum-Methode, dann mit Hilfe von Tipps durch SiFu – einen geeigneten Angriff.
Es geht hier nicht darum, eine schon eingeführte Technik anwenden zu wollen, sondern eher darum, WingTsun noch einmal neu zu erfinden, indem man alles in Frage stellt, sogar die Mottos und tradierten Prinzipien (z.B.: „Welchen Zweck hat es, die Ellenbogen tief und eng vor dem Körper zu halten?“) Die Funktion einer Bewegung ist SiFu wichtig, nicht ihr Aussehen. Bei ihm folgt die Form der Bewegung ihrer Funktion (dem Zweck). „Form follows Function!“ Damit gelangen wir schließlich zu einem funktionalen WingTsun. Dieses gründet sich auf das, was SiFu „Organische Biomechanik“ und „Combatologie“ nennt.
Mit ChiSao Kuen soll jeder letztendlich selbst die ungeschriebenen Gesetze der Kampflogik entdecken und sie formulieren lernen. Ein wahrer [Groß-]Meisterstreich!
Übrigens, beim dreitägigen Osterlehrgang in Großwallstadt wird SiFu, GM Kernspecht, einen weiteren Teil seines ChiSao-Kuen-Programms unterrichten. Die Reihenfolge der einzelnen zwölf Programmbausteine ist nicht wichtig. Man muss nicht bei eins anfangen. Und selbst für gestandene Meister wird es die berühmten Aha-Effekte geben, die es einfacher machen, die Schüler in ihrem Bestreben, WingTsun zu lernen, zu unterstützen.
Bis bald in Großwallstadt!
Euer Andreas Groß