Editorial

Mein Plädoyer für unsere WingTsun-Formen

Ich bin sicherlich der Letzte, von dem man ein Plädoyer für WingTsun-Formen erwartet.

Es ist erst eine Handvoll Jahre her, dass ich mich gegen überlieferte Solo-Formen aussprach und fast nur Partner-Übungen unterrichtete. Ich konnte als realitäts- und prinzipien-basierender Selbstverteidigungslehrer keine Vorteile erkennen, die ein Schüler aus dem Formentraining gewinnen kann; denn schließlich ist der Kampf kein Ein-Kampf, sondern mindestens ein Zwei-Kampf. Was sollte dort ein Formentraining nutzen, in dem jemand eine lange Folge fest vorgeschriebener und detaillierter Bewegungen (Techniken) mit Armen und Beinen in die Luft zeichnet. Westliches Boxen und Ringen, zwei hochwirksame Kampfstile, kennen solch ein Training doch auch nicht!

Meiner intensiven Beschäftigung mit den inneren Systemen ist es zu verdanken, dass ich meine Meinung allmählich differenzierte und völlig änderte.
Zunächst erwärmte ich mich für die Idee, dass es die einzelnen Formbewegungen („Techniken“) sind, die dem begabten Schüler am Ende das Prinzip beibringen.

Dann erkannte ich, dass ein Saturieren mit Stellungen und Bewegungen unser Bewusstsein erweitern kann.
Später wurde mir deutlich, dass das erste Ziel einer tiefer gehenden Kampfkunst Aufmerksamkeit, Konzentration und schließlich die Entwicklung einer mobilen Achtsamkeit ist. Eine solche differenzierende Achtsamkeit beachtet idealerweise zunächst sehr einfache Bewegungen. Dazu eignen sich Atmungsbewegungen und Handbewegungen, die uns schon vorher zur Selbstverständlichkeit geworden sein müssen. Die Hand ist deshalb so geeignet, weil sie uns so vertraut ist, dass wir sie sogar innerlich zu sehen glauben (motorisches Sehen), wenn wir mit geschlossenen Augen sehr, sehr langsam den 3. Satz der SiuNimTau üben.
Insofern ist das Üben der 1. Form in allererster Linie ein Üben der Achtsamkeit und noch kein Einüben von Kampftechniken.

Der Gedanke, seine Aufmerksamkeit statt auf Bewegungen des täglichen Lebens (Erbkoordinationen) auf kampfrelevantere Bewegungen zu richten, lag für unsere praktisch eingestellten WingTsun-Vorfahren auf der Hand.
Leider gewann dann diese Idee des zweiten Nutzens offenbar die größere Bedeutung und verdrängte die ursprünglich buddhistische Idee der Achtsamkeitsentwicklung.
Die zweite große Idee hinter dem Formentrainieren ist die Entwicklung von Struktur: sich im Einklang mit der Schwerkraft mühelos und nicht unnötig verspannt zu bewegen.
Die Entwicklung der richtigen Energien bei den entsprechenden Bewegungen ist der dritte wichtige Gedanke, den man hinter dem Formentraining beachten muss.

Das Einstudieren von Techniken, die man im Kampf anwenden kann, habe ich bei unserer Betrachtungsweise nicht in den Vordergrund gestellt.
Dennoch trifft dieses in gewisser Weise zu: Wir kämpfen mit den Bewegungen der Form, allerdings nicht, indem wir sie „anwenden“.

Idealerweise soll durch das formgemäße, auf sich selbst zurückführende und beziehende Bewegen auf allen 3 Ebenen, in 6 Richtungen, in 3 Dimensionen usw. nach der Art eines Gyroskopen ein Raum, eine Sphäre entwickelt werden, die von sich aus in der Lage ist, sich alles zu „einzuverleiben“ bzw. sich allem „anzupassen“, was uns ein Gegner als Problem vorwirft.
Insofern müsste in allen Bewegungen der Formen schon die DNA des WingTsun enthalten sein, damit durch das Formentraining eine Art Schutzschild um uns herum entsteht.

Diese Art des Sich-Bewegens muss man sich aber erst einmal allein erarbeiten; denn es hat zunächst gar nichts mit einem Gegner zu tun, sondern nur damit, wie ich mich ausbalanciert durch einen ausgewiesenen Raum bewege, zunächst nur mit den Armen und dann mit dem ganzen Körper.

In anderen Worten, durch das richtige Formentraining vereinigen wir uns mit uns selbst. Unseren so vereinigten Körper (und Geist) bringen wir idealerweise zum Partnertraining mit.
Erst wenn man diese Selbstvereinigung einigermaßen abgeschlossen hat, soll man zu den Übungen zur Vereinigung mit dem Gegner fortschreiten.
Wer hier zu früh ein spezifisches und intensives Partnertraining beginnt, hat nur am Anfang gegenüber jemand, der ein richtig geleitetes Formentraining betreibt, Vorteile; später wird dieser ihn unaufhaltsam und nachhaltig überholen.

Während der Formenübende an seiner „inneren WT-Maschine“ baut, die Prof. Tiwald als „Funktion nach Frege“ bezeichnete, übt jemand, der sofort ohne Formentraining beginnt, stets und nur auf seinen Gegner zu reagieren. Zum Beispiel. beruht seine Balance auf die buchstäbliche „Unterstützung“ des Gegners, gegen den er sich balanciert. Dadurch baut er ein reaktionsbasierendes Verhalten auf: Er hat kein Schutzschild und muss es dadurch ersetzen, dass er hektisch abwehrt bzw. ständig mit Ketten-Angriffen auf den anderen losgeht. Sobald er nicht mehr angreift, ist er nämlich ungeschützt.
Im Laufe der Jahre wird solch ein Übender immer nervöser und aggressiver, was sich auch auf seine Gesundheit und sein Verhältnis anderen gegenüber auswirkt.

Wir müssen in der Selbstverteidigungs-Kunst also zunächst üben, unser Selbst ohne äußeren Stress durch einen Trainingspartner zu vereinigen, damit es stark genug ist, seine Struktur und Energie auch gegen einen Gegner aufrechtzuerhalten.
Hierin sehe ich die wichtige Rolle eines Formentrainings.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht