Editorial

Einsatz von Übungsmessern – um die „Großen 7 Fähigkeiten“ zu verbessern

Zu Beginn des neuen Jahres möchte ich Euch als Gasteditorial einen Text von DaiSifu Dr. Oliver König, der mit anderen Worten Zugang zu einem immer wieder diskutierten Thema bietet, nicht vorenthalten, in dem es ums Trainieren mit Übungsmessern und das Warum und Wieso geht. Hier sein Text:

Falsch verstandene Messerabwehr

Wenn wir in der EWTO mit Übungsmessern arbeiten, wird dies immer wieder missverstanden. Viele Außenstehende und sogar Schüler, die nur die Übungen sehen, ohne die zugehörige Erklärung zu hören, meinen, dass wir mit diesen Übungen die Abwehr von Angriffen mit Klingenwaffen üben wollen.
Das ist nicht der Fall!
Jeder, der sich mit der Materie ernsthaft auseinandergesetzt hat, wird wissen, dass die Erfolgschancen mit bloßen Händen gegen ein Messer gering sind, wenn der Gegner mit der Waffe umgehen kann oder auch nur wild und aggressiv in der Luft herumfuchtelt.
 

Eine Messerabwehr ist immer mit erheblichem Risiko verbunden!

In einer Auseinandersetzung sollte der Gegner vorab schon so kampfunfähig gemacht werden, dass er keine Waffe mehr einsetzen kann. Wenn es möglich ist, einer Auseinandersetzung mit einer Klingenwaffe aus dem Wege zu gehen, sollte man dies auf jeden Fall tun. Ist es gar nicht möglich, z.B. aus Platzgründen oder weil ein anderer bedroht wird, den man schützen muss, dann sollte man auf möglichst längere Gegenstände (Regenschirm, Stuhl usw.) zurückgreifen. Selbst Aktentaschen, Lampen, Laptops, Aschenbecher, Bierkrüge usw. sind besser als nichts.
 

Training der „Großen 7 Fähigkeiten“

Auch wenn die Abwehr von Angriffen mit Klingenwaffen nicht unser vordergründiges Ziel ist, mit Übungsmessern zu trainieren, bringt dieses Training mannigfaltige Vorteile mit sich, auf die wir auf keinen Fall verzichten wollen. Ziel hierbei ist es nicht, einzelne Techniken zu üben, sondern das funktionales Bewegen im Allgemeinen.
GM Prof. Keith R. Kernspecht hat in seiner wissenschaftlichen Arbeit die sogenannten „Großen 7 Fähigkeiten“ herausgearbeitet. Diese sind notwendig, um sich im Ernstfall erfolgreich verteidigen zu können.
Folgende Punkte werden trainiert:

1. Achtsamkeit
2.
Gewandtheit, Geschicklichkeit
3.
Gleichgewicht
4.
Einheit des Leibes
5.
Wahrnehmung (speziell durch den „Muskelsinn“)
6. Timing & Distanzeinschätzung
7.
Kampfgeist

Der erfahrene EWTO-Meister/-Lehrer/-Ausbilder kennt zahlreiche, auf die jeweilige Ausbildungsstufe angepasste Übungen, um die obigen Fähigkeiten zu steigern. Verwendet werden stumpfe Übungsmesser.

Einige Erläuterungen, wie die verschiedenen Attribute gefördert werden

1. Achtsamkeit

Das Üben mit Klingenwaffen, auch wenn sie stumpf sind, schärft die Achtsamkeit. Treffer werden deutlicher wahrgenommen. Für Fortgeschrittene können zur Verschärfung der Übung auch sogenannte „Shock-Knives“ eingesetzt werden. Diese versetzen bei Berührung mit der Klinge einen kleinen Elektroschock (Achtung: in Deutschland waffenrechtlich verboten! Verwendung nur in Länder wie z.B. Österreich und wo sie sonst noch erlaubt sind). Die Achtsamkeit steigt dann gleich beachtlich…

2. Mehr Gewandtheit, Geschicklichkeit

Die Abstands-Maße (Distanzen) des traditionellen WingTsun verändern sich. Der Schüler muss sich nun in allen Achsen mehr bewegen (vorbeugen, zurücklehnen, Gewicht verlagern in alle Richtungen, drehen). Dem Schüler wird die Körperbewegung klar, denn der Arm begleitet den gegnerischen Arm nur. Viele lernen erst durch das Üben mit Waffen das geschickte Bewegen des Körpers, um das Ziel wegzunehmen. Dieses Bewegungspotenzial verbessert das waffenlose WingTsun erheblich.

3. Gleichgewicht

Das schnelle Bewegen, um sich selbst als Ziel zu entfernen, setzt ein hohes Gleichgewicht voraus. Die „Großen 7 Fähigkeiten“ hängen alle zusammen und ohne Gleichgewicht ist ein zielgerechtes Bewegen zum Zwecke der Selbstverteidigung nicht möglich.

4. Körpereinheit (Einheit des Leibes)

Manche denken bei Körpereinheit im WingTsun nur an die Gleichzeitigkeit bei Abwehr und Gegenangriff. Aber die Körpereinheit ist weit mehr als das. Viele Schüler legen ihre Aufmerksamkeit zum Beispiel erst einmal nur auf die Arme, anstatt Arme und Körper in Abstimmung mit dem Gleichgewicht zu bewegen.

5. Wahrnehmung

Die Wahrnehmung wird auch als „Staffel der Sinne“ bezeichnet, denn beim Waffentraining wird erst das Auge und das Fühlen geschult. In erster Linie, aber mehr die Achtsamkeit als die Sinne!

6. Timing und Distanzeinschätzung

Timing beinhaltet den richtigen Umgang mit Distanz, Geschwindigkeit und Rhythmus. Dies ist bei der Waffe ganz besonders wichtig! Die Abwehr darf nicht zu früh kommen, sonst folgt der Gegner dem Ziel oder dem abwehrenden Arm. Kommt sie zu spät, resultiert ein Treffer. Auch beim Gegenangriff ist das Timing entscheidend.

7. Kampfgeist

Speziell im Training für Fortgeschrittene werden die Übungen anspruchsvoller, funktionaler und schneller. Das fordert wiederum den Kampfgeist.

Verbesserung des WingTsun und damit einhergehend der Selbstverteidigungsfähigkeit

All die obigen Fähigkeiten werden im waffenlosen WingTsun zur Verbesserung der Selbstverteidigungsfähigkeit benötigt und hervorragend mit der Hilfe von Übungen mit Trainingsmessern verbessert.

Die Überlebenschancen steigen

Die obigen Übungen sind nicht vordergründig zur Abwehr von Klingenwaffen gedacht, trotzdem dürfen wir das Thema „Angriff mit Klingenwaffen“ nicht vernachlässigen. Auch wenn das Thema heikel ist, entzieht sich die EWTO nicht der Verantwortung und hat spezielle Programme kreiert, in denen sich der Schüler mit der Problematik der Abwehr von Waffen und im Speziellen von Klingenwaffen auseinandersetzt.

Wird jemand, der ständig mit einer Klingenwaffe übt, irgendwann mit einer solchen angegriffen, wird er bessere Chancen haben, zu überleben. Er wird besser reagieren können als jemand, der keine Bewegungserfahrung mit der Waffe hat. Die Chance, trotzdem verletzt zu werden, ist hoch, aber die Intensität der Verletzung ist dann wahrscheinlich geringer, und der Gegner kann davon abgehalten werden, weiteren Schaden anzurichten.

Hierbei ist die Einschätzung der Gefährlichkeit der Situation sehr wichtig. Der Einsatz von Behelfswaffen in solchen Notsituationen ist ein weiterer Inhalt.
Dieser Unterricht muss unbedingt durch Szenario- und Stresstraining unterstützt werden, um die Chancen bei einem richtigen Angriff zu verbessern.
 

Text: Dr. Oliver König