Editorial

Der Widerspruch, der keiner ist

Manche Schüler, ja sogar Ausbilder und höhere Lehrer sind durch die in den letzten Jahren im Unterricht an sie herangetragenen Inhalte verwirrt: Erst lag einige Jahre lang der Schwerpunkt auf weiches Nachgeben, auf Anpassung (Adaptation).
Nun scheint das Führungsteam das Ruder herumgeworfen zu haben und das genaue Gegenteil zu predigen und zu unterrichten.

Haben wir denn nun vorher falsch unterrichtet oder tun wir es jetzt?
Nach unserer westlichen Logik kann doch nur das eine oder das andere richtig sein. Oder?

Seit Tagen denke ich darüber nach, wie ich Euch diesen scheinbaren Widerspruch plausibel machen kann. Da kam mir wieder einmal mein im April 2013 verstorbener Freund und Mentor Prof. Dr. Tiwald zu Hilfe.
„Zufällig“ öffnete ich auf Anhieb die richtige Seite unserer umfangreichen E-Mail Korrespondenz und las:


Hallo Herr Kernspecht,

ich habe gestern Abend die WingTsun-Welt Nr. 34 nochmals zur Hand genommen, systematisch durchgelesen und dabei mir auffällige Stellen gelb markiert.
Hier die Stellen aus dem Text: „Im Ernstfall zählen nur Wille und Entschlossenheit“.

Mein Kommentar:

Dies ist ein gutes Beispiel für die Jin-Kraft, welche der Körper in seinem erdverwurzelten Stand durch explosionsartiges Strecken und/oder Verwinden des Gestänges (Körpermitte, Hüfte) als Reaktionskraft aus dem Boden holt und durch das Gestänge bis in die Fingerspitzen zum Gegner leitet.

Oder aber auch so, dass durch explosionsartiges Verwinden des Gestänges im erdverwurzelten Stand die entspannten Arme blitzartig nach vorn zum Gegner geschleudert (bzw. gepeitscht) werden, um dann am Ende (durch explosionsartiges Strecken aus der Mitte heraus!) in einer Ganzkörper-Spannung die Reaktionskraft (als zweite Raketenstufe) bis in die Fingerspitzen schießen zu lassen.

Da gibt es natürlich je nach Einschätzung des Angriffes auch Möglichkeiten, durch Jin-Kraft (Sente) den Angriff des Gegners zu blocken und zu „zerstören, was da kommt“.
Das Nimm auf, was da kommt und das Zerstöre, was da kommt gehören aber zusammen wie Yin und Yang.
Es kommt eben immer darauf an, was für ein Argument des Gegners auf meine ergänzungsbedürftige „Funktiontrifft:
Im leichten Fall verwirklicht sich Plan A, im schweren Fall Plan B.
So erscheint es in der Kampf-Dialektik.
Beide Aussagen sind wahr, obwohl sie gegensätzlich erscheinen und der westlichen Logik nach nur eine wahr sein dürfte.
Das ist Dialektik!

Weil eben die Gleichzeitigkeit von Angriff und Abwehr in der Kampf-Dialektik fundamental ist.

Liebe Grüße
Horst Tiwald


Was kann ich dem noch hinzufügen?

Zum einen, dass unser WingTsun-Bewegen, wie Prof. Tiwald richtig erkannt hat, (schon, weil es anders nicht sein kann) zwei Optionen hat, mit dem Angriff bzw. dem Gegner zu verfahren:

  • Adaptation
    Anpassung an den Gegner, wobei ich mich ihm so anpasse, dass wir beide eins werden, um mich dann zu trennen und ihn zu besiegen: „Nimm auf, was kommt!“
     
  • Assimilation*
    Ich gleiche den Gegner und sein Bewegen mir an, um ihn mir dann einzuverleiben: „Stoße vor, wenn der Weg frei ist!“

Zum anderen, dass diese beiden Verfahren keine Gegensätze, sondern die Pole ein und derselben Sache sind, so wie das bekannte Yin-Yang-Symbol ein Einziges ist, das nur in scheinbare Gegensätze wie schwarz und weiß, weich und hart usw. geteilt ist, die aber zusammengehören.
Worüber man diskutieren kann, ist die Frage, welchen der beiden Aspekte des Ganzen man zuerst unterrichtet: den weichen oder den relativ harten? Da kann man verschiedener Auffassung sein.

Am Ende muss man aber beide Aspekte meistern, und zwar so, dass man sie voll bewusst, aber nicht willkürlich im Ernstfall – je nach Situation – realisieren kann.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht

*  Vgl. „Kurs-Buch: Inneres WingTsun“ 1. Auflage S. 17, 25, 34