Wissenswertes

Das System hinter dem System

Warum gibt es im WingTsun Graduierungen?
Im alten WingTsun wurden keine Graduierungen vergeben – es funktionierte eher als Familiensystem: Ein Meister hatte nur wenige Schüler, die meist auch bei ihm auf dem Hof lebten, kannte den Entwicklungsstand eines jeden Einzelnen und förderte diesen individuell – dabei wurde jeder Schüler unterschiedlich trainiert – einen roten Faden zu erkennen oder zu vergleichen war schwierig.

Am Ende, also nach vielen Jahren, so war sich der Meister sicher, würden die Schüler alle das System jeder auf seine Weise und unter seiner individuellen Anleitung gemeistert haben.
Was aber, wenn ein Schüler früher den Hof verlassen musste?

Wie kann man die Vermittlung eines solchen Systems in unserer heutigen Zeit sicherstellen?

Selbst in großen Trainingsgruppen ermöglicht das Graduierungssystem den individuellen Unterricht des einzelnen Schülers.

Bereits in den 1970er Jahren wurden in China sog. „Techniker“- und „Praktiker“-Graduierungen eingeführt, d.h. die Schüler trainierten einige Jahre und einige von ihnen bekamen dann den ersten Technikergrad verliehen. Dies wird auch heute noch so in Hongkong praktiziert.

Als WingTsun durch die EWTO in Europa bekannt wurde, erkannte Großmeister Keith R. Kernspecht schnell, dass eine weitere Unterteilung bis hin zum ersten Technikergrad erforderlich sei, um die Schüler besser und individueller zu betreuen.

Ein Lehrer hatte nun bis zu 100 Schüler, die natürlich weder bei ihm wohnten, noch gleich häufig am Unterricht teilnahmen. Ein Aufbau in Technik-Klassen war daher nicht möglich.
So wurden 12 Schülergrade in das System implementiert, die den Weg bis zum ersten Technikergrad in kleinere überschaubare Lernabschnitte unterteilen.

Zu jedem Schülergrad gibt es ein Unterrichtsprogramm, das die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Schülers sukzessive erweitert. Damit schafft er nach erfolgreicher Bewältigung die Voraussetzung, eine Lernstufe mit einer Prüfung abzuschließen und das nächste Lernkapitel zu beginnen. Zu Beginn der Ausbildung beträgt je nach Trainingspensum und individuellem Fortschritt die durchschnittliche Vorbereitungszeit auf den nächsten Schülergrad drei bis vier Monate.

Die komplexen Unterrichtsinhalte in den Schülergraden folgen dabei einem roten Faden. Der systematische Aufbau wurde in den letzten 40 Jahren immer wieder aktualisiert und an die jeweiligen Anforderungen der Zeit angepasst.

Profitieren ebenfalls vom Graduierungssystem:
Meisterschüler von GM Kernspecht

Die Schülergrade sind ein wichtiger Baustein des Trainings. Sie fördern den Schüler einerseits individuell und sichern somit den Lernfortschritt jedes Einzelnen. Andererseits ist durch entsprechende Aufgabenstellungen des Lehrers dennoch ein Training innerhalb einer Gruppe möglich.

Der Schüler bekommt produktives Feedback vom Prüfer, so dass keine größeren Lücken in der Entwicklung der Fertigkeiten und Fähigkeiten entstehen. Mit den Prüfungen behält er selbst die Kontrolle über das, was ihm der Lehrer beibringt.
Auch für den Fall, dass der Schüler umzieht, ist gewährleistet, dass er in seiner neuen EWTO-WingTsun-Schule mit seiner Graduierung nahtlos weitertrainieren und an seiner bisherigen Ausbildung anknüpfen kann.
Nach dem Vorbild von GM Kernspecht wurden später auch in den USA diese 12 Graduierungsstufen für Schüler übernommen.

Text: Dominque Brizin
Fotos: mg