Editorial

Überwältigendes Interesse an den Tutorials

Mit großer Freude sehe ich, dass mein Angebot, direkt von GM Leung Ting auf den Tutorials zu lernen, begeistert angenommen wird. Tatsächlich ist das Interesse daran so groß, dass ich nicht einmal soviele Teilnehmer zulassen kann, wie ich Bewerber dafür habe ...

Etwas Geschichte: Die ersten 7 Chi-Sao-Programme usw.

Ich möchte an dieser Stelle noch einmal darstellen, wie die Programme historisch entstanden sind. Ich habe Anfang der 70er Jahre mit Wing Chun begonnen, als 2. Nicht-Chinese überhaupt. 1976 wurde ich Privatschüler von GM Leung Ting und lernte zusammen mit meiner Frau aufgrund unserer Vorkenntnisse und der Notwendigkeit, WT in Deutschland und dann in ganz Europa zu verbreiten, besonders schnell. Ich „lernte“ z.B. alle sieben Sektionen Chi-Sao während eines längeren Hongkongaufenthalts in einem Hotelzimmer, während Si-Mo so tat, als ob sie schlief. Si-Mo schrieb alle Techniken unter der Bettdecke mit. Und sobald Sifu Leung Ting gegangen war, sprang sie aus dem Bett und wir übten die Sektionen zusammen bis spät in den Morgen des nächsten Tages. Übrigens: Alle diese Programme sind von GM Leung Ting im Unterricht persönlich entwickelt worden, vor ihm existierten im wing chun keine festen Unterrichtsprogramme.

Die höheren Programme (Biu-Tze- und Holzpuppen-Chi-Sao) gab es noch nicht, als ich zu lernen begann, diese Programme entwickelte GM Leung Ting erst später, vor allem beim Unterricht mit mir.

Über die ersten 7 Sektionen Chi-Sao hinaus gab es also noch keine festformulierten höheren Programme wie heute, so dass ich selbst in den Genuss kam, bei den Geburtsstunden der höheren Programme dabei gewesen zu sein bzw. durch Input, Reaktionen, Fragen und später Vorschläge aktiv schöpferisch mitgewirkt zu haben.
Die Biu-Tze-Sao-Sektionen waren zunächst ziemlich rudimentär und entwickelten sich bei jedem Besuch von GM Leung Ting bei mir (er kam schon damals 3 bis 4 Mal im Jahr) mehr und gewannen aufgrund unseres Dialoges und Gedankenaustausches immer mehr Form. Zunächst entstanden auf diese Weise vier, dann fünf Sektionen Biu-Tze-Chi-Sao.
Für eine spätere geschichtliche Studie über die Entstehung der einzelnen Sektionen und über die Gründe und die Struktur ihrer Einteilung verfüge ich über eine Dokumentation aller Inhalte, die jemals in den einzelnen Sektionen waren und über die Gedanken und Gründe, weshalb die einzelnen Sektionen genau diese Techniken enthalten.
Man muss sich das Ganze wie sog. Meister-Partien im Schach vorstellen. Zwei Schachspieler spielen eine Partie und schreiben sich diese auf, so dass ihre Nachkommen diese Partie zu Übungsgründen nachspielen können. Allerdings gab es für diese Partien jeweils Vorgaben. Diese Vorgaben bestanden aber anders als bei einem Schachspiel, das willlürlich abläuft, aus bestimmten festen „Stationen“, die innerhalb der Sektionen angelaufen werden mussten, wobei die Reihenfolge von untergeordneter Bedeutung war. Das heißt, die Sektionen sind nicht etwa zufällig entstanden, sondern ihre Inhalte wurden durch die Formen und bestimmte Strukturen bestimmt. Auf den Tutorials geht GM Leung Ting auch auf die Gründe ein, weshalb welche Sektion so und nicht anders aufgebaut ist.

Holzpuppen-Chi-Sao

Nach der 3. Form gingen wir weiter zur Entwicklung der Holzpuppen-Chi-Sao-Sektionen, die es vor mir noch gar nicht gab. Da ich zu diesem Zeitpunkt weltweit vielleicht der einzige Schüler war, der sich Privat-Unterricht bei Sifu Leung Ting leistete, kam ich in den Genuss und die Ehre, zum Entstehen der Holzpuppen-Chi-Sao-Programme durch meine Reaktion und durch meine Fragen beigetragen zu haben. Vorher gab es nur einige separate, isolierte Holzpuppentechniken, die keinen inneren Zusammenhang hatten. In vielen hundert Stunden Privatunterricht entstanden in Hotelzimmern in Deutschland und später auch Italien durch Versuch und Irrtum die einzelnen Sektionen des Holzpuppen-Chi-Saos, die ich immer gewissenhaft mit Datum und Ort und Kommentaren in meine Trainingstagebücher eintrug. Oft schmückte sie GGM Leung Ting mit erklärenden Zeichnungen.

Ständige Modifizierung und Anpassung der Programme

Als ich dann mit meinem Si-Fu in ähnlicher Weise an den Waffen-Programmen arbeiterte, zeigte GM Leung Ting die bei uns entstandenen Programme seinen chinesischen Schülern und später seinen Schülern in USA und im damaligen Ostblock (z.B. Ungarn). Durch diesen Dialog erfuhren die Sektionen weitere Veränderungen und Anpassungen, die mit den Reaktionen und der Größe der neuen Chi-Sao-Partner zusammenhing, und z.T. Verschiebungen bestimmter Elemente. Das heißt, gewisse Techniken, die bisher in der Sektion X waren, rutschten nun in die folgende Sektion. Andere Elemente wurden z.B. aus dem 3. Form-Chi-Sao herausgenommen und fanden sich im Holzpuppen-Chi-Sao wieder an.

Da sich die Sektionen auf diese Weise wie ein lebender Organismus mit jeder Unterrichtsstunde, die das lebende Oberhaupt des WingTsun irgendwo in der Welt unterrichtet, minimal verändern müssen, gab es bald überall auf der WingTsun-Welt „andere“ Sektionen. Während wir in Europa z.B. in 5 Biu-Tze-Sektionen eingeteilt haben, spricht man anderswo von nur 4, in einem osteuropäischen Land, wo Sifu Leung Ting aber auch regelmäßig unterrichtet, sogar von 17 (!) Sektionen. Jeder einzelne Privatschüler meint mit Recht, im Besitze der „richtigen“ Sektionen zu sein, da er diese ja von GM Leung Ting erlernt hat.

Kurz, was fehlt, ist ein Standard, der weltweit gilt und eine Information an alle Länderchefs, sobald sich etwas geändert hat. Aber da diese Änderungen nicht deutlich, sondern schleichend und fast unbewusst „entstehen“ und dann durch die Gewohnheit gefestigt werden und alte Bewegungen in Vergessenheit geraten, sind regelmäßige Benachrichtigungen nie erfolgt und können auch nicht erwartet werden.

Freuen wir uns darüber, dass unser Großmeister lebt und kreativ ist.

Wir sollten uns nicht gleichzeitig darüber ärgern, dass sich bei unseren Unterrichtsinhalten „ständig etwas ändert" und gleichzeitig glücklich darüber sein, dass das Oberhaupt unseres WingTsun noch lebt und kreativ ist! Seien wir froh darüber, dass es so ist. Das Grundprinzip des WT ist die taoistische Veränderung, also können wir auch von unseren Schülern erwarten, dass sie diese nötige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit auch im Kopf haben und täglich leben.

Es ist nichts falsch an älteren, früher gelehrten Versionen der verschiedenen Sektionen, denn sie stammen alle von GM Leung Ting. Mit den neuesten Versionen verhält es sich wie mit den neuesten Versionen von Computerprogrammen; sie sind weiter entwickelt.

Die neuesten Versionen der Programme

Um sicherzustellen, dass weltweit derselbe Standard herrscht, und um ständig die neuesten Versionen der verschiedenen Programme zu kennen, sind GGM Leung Tings Tutorials für uns eine große Hilfe. Denn er lässt uns alle Programme aufzeichnen, so dass bald einheitlicher Standard gewährleistet ist. Dieser Punkt ist insofern immer wichtiger, da die WT-Welt zusammenwächst.

Wir haben nunmehr alle 7 Sektionen Chi-Sao und alle Sektionen Biu-Tze-Chi-Sao im Detail mit GM Leung Ting in den verschiedensten Tutorials durchgearbeitet und können keine gravierenden Änderungen wohl aber viele Verbesserungen erkennen. Z.B. gibt es im Programm des Chi-Saos der 3. Form keine Bewegung, die wir nicht schon vor Jahren unterrichtet hätten, allerdings z.T. an anderer Stelle. Wir werden uns mit dem Nationaltrainerteam und den Meistern darüber abstimmen, in welchem Zeitraum wir die Änderungen umsetzen, denn wir wollen dazu beitragen, dass überall auf der Welt nach demselben Programm unterrichtet wird und dieselben Bewegungen in derselben Sektion sind.

Keine Hast bei Anpassungen und Upgrading

Diese Anpassungen werden aber unverkrampft und ohne Hast mit entsprechender Übergangszeit vorgenommen werden, so dass keine Irritationen aufkommen. Sich anpassen und sich aufgrund der Veränderung des anderen zu verändern, ist das Grundprinzip des WT und das Gegenteil von Kopfstarrheit. Je schwerer uns dieses fällt, desto mehr haben wir dieses Umdenken dringend nötig für unser individuelles psychologisches Überleben. Im WT geht es nicht darum, derselbe zu bleiben und sich in vertrauten Schienen zu bewegen. Wer sich ändern will, muss anders denken, muss ein anderer werden und darf sich nicht dem Neuen und Anderen versperren. Wer sich bequem zurücklehnen und auf seinen Lorbeeren ausruhen will, beraubt sich selbst der Chance, sich „weiter“ d.h. in diesem Sinne „höher“ zu entwickeln. Und dabei spreche ich dieses Mal nur oberflächlich von der Technik oder von körperlichen Dingen. Wir müssen das werden, was GM Leung Ting gerne als „containable“ bezeichnet, also als „aufnahmefähig“. Leeren wir also immer aufs Neue unsere Tasse, schütten das aus, an das wir bis eben noch glaubten, stellen wir uns vor, nichts zu wissen, und geben wir ihm die Gelegenheit, uns frischen Tee in unsere leere Tasse zu gießen. Unvoreingenommen und ohne mit dem alten Tee zu vergleichen, können wir dann wieder das Erlebnis des kindlichen Staunens erfahren.

Die einzigartige Chance, ohne Filter zu lernen

Ursprünglich ist der traditionelle Unterricht im Kung Fu so aufgebaut, dass der Lehrer nur seinen Schüler unterrichtet und der wiederum seine eigenen Schüler. Auf diese Weise geht das ursprüngliche Wissen durch sehr viele Filter. Bekanntlich können wir von Millionen Sinneseindrücken nur ca. 16 oder so Bit bewusst aufnehmen, wenn wir diese weitergeben, kommen immer weniger an. Stattdessen gibt jeder Multiplikator seine eigenen Ideen dazu, wodurch sich die ursprüngliche Botschaft, ohne dass einer der Beteiligten das will, verändert. Jeder versteht an einer Lehre nur das, was er versteht, d. h. was bei ihm auf fruchtbaren Boden fällt. Um bestimmte Dinge wahrzunehmen, muss bei dem Aufnehmenden eine günstige Disposition dafür vorhanden sein. Manche Dinge, die mir GGM zeigt, kann ich aufgrund meiner völlig anderen Körperbeschaffenheit, meines andersartigen Temperaments usw. nicht mit Erfolg für mich übernehmen, aber anderen könnte es nützen! Ich wiederum kann manche Inhalte so auf meine Größe und Kraft anpassen, dass andere auch etwas damit anfangen können. Wenn zehn meiner Meisterschüler bei GGM Leungs Tutorial anwesend sind, dann entstehen in diesem Kreis oft fruchtbare Fragen, die Sifu Leung noch nie gestellt worden sind und auf die auch ich nie gekommen wäre. So lernt jeder der Beteiligten, die Dinge aus der anderen Perspektive der Kollegen zu sehen. Ich betrachte gerade dieses als das Wertvollste an den Tutorials überhaupt. Diese Offenheit und Transparenz, Fragen zu allen Themen und Zusammenhängen frei zu stellen, wird unserem WT in kürzester Zeit eine Entwicklung bringen, die alle unsere Erwartungen übertreffen wird!

Euer Feedback sofort nach jedem Tutorial ist erwünscht

In diesem Zusammenhang möchte ich in Zukunft alle Tutorialteilnehmer bitten, mir nach jedem Tutorial an Ort und Stelle einen Zettel zu geben mit allen Punkten, die für ihn neu waren oder über die er weiteren Aufschluss und Erklärungen wünscht. Denn nach jedem Tutorial habe ich ca. vier Tage Zeit, um mit meinem Si-Fu alles nachzubereiten.

Standardisierung der Programme und Fixierung für die kommenden Jahre

Die Tutorials sind f r e i w i l l i g, ihre Inhalte werden durch die Meisterschüler – nach der Vorgabe von GGM Leung Ting – in den weiteren Unterricht einfließen, denn es ist uns klar, dass sich nicht jeder a l l e Tutorials von GGM Leung Ting leisten kann oder will. Wir haben in den vergangenen 20 Jahren die Programme immer wieder upgegradet, ohne dies besonders zu betonen. So konnten aufgrund der Größe der EWTO nicht immer alle Informationen gleichzeitig in jedes Land und bis zu dem letzten Ausbilder getragen werden. Aufgrund der Tutorials, der Videomitschnitte, bevorstehender Publikationen, beabsichtigter Nationaltrainer-Konferenzen, spezieller Meister-Schulungen durch GGM Leung Ting und mich usw. haben wir jetzt die einmalige Chance, alle Programme für viele Jahre zu fixieren, zu standardisieren und transparent zu machen. Damit können wir auch der Tendenz entgegentreten, dass manche Lehrer „eigene“ Programme kreieren bzw. in Ermangelung der Kenntnis „eigene“ Variationen unterrichten, die sie dann leider oft als „die einzig richtige“ propagieren. Ich begrüße Kreativität bei unseren Lehrern, aber sie sollte bestimmte Grenzen haben und nicht mit dem falschen Anspruch auf „meine Version ist die einzig richtige“ einhergehen.

Zum Selbstkostenpreis: Zusätzliche Seminare der EWTO

Während wir in den vergangenen Jahren auf Ausbilderseminaren besonders an der praktischen Verteidigungsfähigkeit des Schülers arbeiteten (Blitzdefence), sollen die kommenden Jahre der Methodik und Didaktik des klassischen WT gewidmet sein. Zu diesem Zweck wird es für EWTO-Ausbilder 2003 zum Selbstkostenpreis spezielle Seminare geben, auf denen diese Themen schwerpunktmäßig behandelt werden: Es wird dabei an Themen gedacht wie: Formen, 1. Sektion Chi-Sao im Detail, klassisches chin. Lat-Sao, Notwehrrecht usw.

Mit lieben Grüßen und Dank für Eure Anregungen

Euer Si-Fu/Si-Gung

Keith R. Kernspecht
10. Meistergrad WingTsun
Gründer, Leiter und Cheftrainer der EWTO