Editorial

„Si-Fu, Du machst hier doch mit allen das Gleiche!“

Großmeister Kernspecht über die unterschiedlichen Kriterien, nach welchen er die Anforderungen an verschiedene Graduierungsstufen abprüft ...

Mit aller Gewalt hat mich eine neue, alte Liebe zurückgewonnen oder ich sie. Nach jahrelanger Abstinenz, verursacht durch dummen Frust über äußere Dinge, die nicht in meiner Macht standen, war ich ausgewichen und hatte mich auf andere Kampfplätze zurückgezogen. Zum Glück bietet uns das WingTsun soviele Betätigungsfelder körperlicher, geistiger und seelischer Art.
Ihr habt es erraten, meine alte Liebe ist nichts anderes und nichts weniger als Chi-Sao, dieses wichtigste, aber missverstandenste aller Trainings-Mittel im WingTsun.

Gestern war ich auf Einladung von Sifu Vilimek in Berlin und unterrichtete morgens vier Stunden die Schüler vom Anfänger bis zum 8. Schülergrad und dann nachmittags weitere vier Stunden die Fortgeschrittenen bis zum Programm des 5. Meistergrades.
Ich bin gerne in Berlin, zum einen wegen der Stadt, aber natürlich besonders wegen der ausgezeichneten WingTsun-Vertreter, die sich hier befinden und mich immer wieder inspirieren und fordern, mein Bestes zu geben.

Aber was ist mein Bestes? Was glaube ich Wertvolles zu besitzen und hergeben zu können, was meinen Schülern helfen kann, selbst besser zu werden?
Natürlich meine Erfahrung. Die Erfahrung und Praxis von über 46 Jahren Selbstverteidigung. Wenn ich auch nicht mehr so hoch treten kann wie einst, so glaube ich jetzt den klaren Durchblick zu haben, zu wissen, was nötig und unnötig ist in der Selbstverteidigung.

Etwas anderes als Selbstverteidigung mit und ohne Bindestrich hat mich in der Kampfkunst nie wirklich interessiert. Akrobatik, Formenvielfalt, Bruchtests, schöne Vorführungen, Kung Fu-Filme, Wettkämpfe alles nichts für mich. Und obwohl ich in vielen Bereichen für manche Leute erschreckend wandlungsfähig bin, wird sich an dieser Einstellung bei mir wohl nichts mehr ändern.

Nachdem ich den rituellen Kampf, die „Was guckst du so blöde-Situation“ als statistisch größte Gefahr für Männer (!) erkannt hatte, war mir klar, dass Reden und Kämpfen zusammen gehören und dass wir es mit Nahkampf zu tun haben. Für den Kampf in der Gesprächsdistanz eignet sich WingTsun besser als jede andere Methode. Das traditionelle WingTsun ist vornehm stumm und weiß nichts von Adrenalin, Körpersprache, Vetozeit und Spiegelneuronen. Aber es hat den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, soweit eine asiatische Kunst denn wissenschaftlich sein kann. Und so nahmen wir WingTsun beim Wort und halfen ihr zur Universität zu gehen. Großmeister Leung Ting war der erste, der an einem College unterrichtete, und mir war es vergönnt, WingTsun als Universitätsstudium zu etablieren. Das hat WingTsun vorangebracht und wird es in der Zukunft noch mehr voranbringen.

Nachdem ich durchschaut hatte, dass es falsch ist und ein Indiz dafür, dass man die Holzpuppenform nicht richtig verstanden hat, wenn man mit Man-Sao/Wu-Sao zwischen den Armen des Gegners steht (und dazu noch breitbeinig zum Genitalientritt auffordert), zog ich meine Konsequenzen und entwickelte die Außenpositionen. Zwangsläufig gehörte dazu auch die Schöpfung entsprechender Chi-Sao-Übungen. Denn wer etwas erkannt hat und daraus keine Konsequenzen zieht, wäre besser dumm geblieben. Die Erkenntnis, dass man in den ersten Augenblicken des Kampfes „armsteif“ ist, wurde ebenfalls in meinem Übungsprogramm umgesetzt. Ebenso, dass der Anfänger mehr Chancen hat, wenn er präventiv, aber unter Berücksichtigung der Gesetzeslage zum Vorwärtsverteidiger wird (siehe Schülerprogramme 1-3 als Konsequenz dieser Erkenntnis). Während der Fortgeschrittene bessere Chancen hat, wenn er reagiert und dadurch schneller ist als der Angreifer (vergleiche Schülerprogramm 4 und mein Buch „Der Letzte wird der Erste sein“).

Nach jahrzehntelangem Chi-Sao-Üben mit verbundenen Augen und der Analyse der Bewegungen meines genialen Lehrmeisters Leung Ting realisierte ich dann, dass es vor der Information durch den Berührungssinn noch mindestens zwei weitere entwickelbare Frühwarnsysteme gibt, mit deren Hilfe ich schon vor der Berührung reagieren kann und z.T. muss, wenn ich siegreich bleiben will.
Dass man im traditionellen WingTsun stets nur von den taktilen Reizen ausgeht und die Reaktion über das visuelle Erkennen nur bei kurvigen Angriffen, die nicht über die Zentrallinie gehen, zulässt, hat didaktische Gründe: Wie man traditionell den WT-Anfänger erst einmal steif macht, so dass er z.B. in der SNT-Form nur die Arme bewegen soll, bevor man ihm graduell mehr Freiheitsgrade gibt, deren Grenze beim Großmeister nur noch von den sog. Prinzipien gebildet werden, so beschränkt sich der Chi-Sao-Anfänger auf den taktilen Reiz und lernt, dem optischen Sinn nicht zu vertrauen, um nicht wie die Anhänger anderer Stile fintenanfällig zu werden.

Welcher Meister dieses Unterrichts-Mittel oder Zwischenziel aber als Endziel missverstand, dem gebührt ebenso viel Schelte, wie dem, der Chi-Sao als Ziel und Zweck einstuft, statt als Mittel, das geeigneterweise wichtige Selbstverteidigungsfähigkeiten verleiht, wenn man es denn richtig betreibt.

Selbst kämpfen zu können verleiht nicht zwingenderweise das kritische Urteilsvermögen, das nötig ist zu erkennen, wodurch man so kampffähig geworden ist und wie man seinen Schülern diese Fertigkeit schnell beibringt. Das gilt besonders fürs WingTsun, wo es der eigene Lehrer ist, der die essentiellen (Semi-)Reflexe pflanzt oder nicht. Man übergibt dem Meister den Körper und lässt ihn machen. Eine Art Massage, bei der der Schüler fast passiv unter Auschluss seines Verstandes bewegt wird. So habe ich Chi-Sao gelernt. Ich hatte keine Mitschüler, es gab noch keine Schülergrade, keine „WingTsun Kuen-Bibel“, keine Poster und keine Videos. Es gab auch nicht die heute als „Chi-Sao-Sequenzen“ bekannten Zweimann-Formen. Das alles waren Folgen unseres Erfolges, Yip Mans Kampfkunst bis ins kleinste Dorf zu tragen. Das Ziel ist längst erreicht, aber in manchen Bereichen ist Zielerfüllung kein Segen.
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Meine ersten Schüler hatten viel weniger WingTsun-Wissen, aber waren kampfstärker als heute. Einer meiner talentierten Schüler konnte mit dem 2. TG den Chinesen mit dem 10. Großmeistergrad besiegen, vor dem selbst der legendäre Bruce Lee Angst hatte und der Sohn des verstorbenen Altmeister Yip Man sowieso. Derart praktisch war der WingTsun-Unterricht damals bei uns. Wenn ich mich recht erinnere, waren es fast ein halbes Dutzend meiner Schüler, die sich auf diesen Kampf vorbereitet hatten und denen man es damals zutrauen konnte, und sie kannten nicht einmal die 3. Form!

Nein, ich bin nicht wehmütig, nicht negativ, sondern ich sage, es ist gut wie es gekommen ist und wie es jetzt ist. Amor fati. Ich sehe die Zukunft des WingTsun sehr optimistisch. Die Entwicklung hat es unseren Schülern und Lehrern ermöglicht, ein riesiges WingTsun-Wissen zu erwerben und aus erster Hand. Aber viel Wissen verwirrt. „Das Lernen vieler Dinge lehrt nicht Verständnis“, wusste schon Heraklit, der bestimmt WingTsun gekannt haben muss, denn von ihm stammt auch der berühmte Satz: „Kampf ist der Vater aller Dinge“. Weniger ist für die Praxis mehr. Was ist wichtig, was ist weniger wichtig? Was braucht man in der Ritualkampf-Situation nicht? Das heißt, was hilft nicht in vielleicht mehr als 80% aller Gewaltkonflikte, in die ein Mann unserer Zielgruppe geraten kann? Was braucht eine Frau, um sich für den Angreifer ungenießbar zu machen? Was braucht ein Kind?

Nun zurück zum Berlin-Lehrgang, dem ich die Idee zu diesem Editorial schulde. Mit größtem Genuss machte ich stundenlang bis zur Erschöpfung mit allen Anwesenden Chi-Sao allerdings mit starker Orientierung auf solche Techniken, die mir bei einer Auseinandersetzung auf der Straße den Sekundensieg garantieren.

Der Kollege Mario M. sah mir zu, wie ich vom 1. bis 4. TG prüfte und stellte mir die Frage, die ich erst gar nicht verstand: „Du machst ja hier mit uns allen dasselbe. Egal welche Graduierung. Und wir fühlen uns alle als Anfänger. Nach welchen Kriterien prüfst du eigentlich? Wir müssen doch für dich alle gleich sein!“

Erst hielt ich die Frage für Kritik, dann spürte ich den Frust dahinter, und dann ging es mir auf, dass Mario wissen wollte, nach welchen Maßstäben ich die Techniker prüfe.
Zum ersten Mal sah ich mich genötigt, darüber nachzudenken und eine schnelle Antwort zu geben. Da ich nicht weiß, ob ich Mario befriedigen konnte, hier eine ausführlichere Antwort.

Ursprünglich und traditionell erhielt man in unserem Weltverband TG-Graduierungen für sein Wissen und Können, das man beim Unterricht, bei Lehrgängen und Tutorials erworben hat. Es reichte der Nachweis, sich die erforderlichen Fertigkeiten angeeignet zu haben, die entsprechende Vorbereitungszeit und der Besuch des Graduierunglehrganges. Eine Prüfung, so wie ich sie durchführe, also mit einem schriftlichen (Theorie) und einem praktischen Prüfungsteil, der nach meinem Willen aus mindestens 2, aber auch 6 separaten und an verschiedenen Terminen abzuprüfenden Teilen besteht, gab es traditionell nicht.
Von Technikergraden wird erwartet, dass sie die „Techniken“ kennen und können. Sie müssen heutzutage ein sehr umfangreiches und detailliertes Wissen erwerben und viele Solo- und Partner-Formen mit schwer zu merkenden Variationen. Dazu erlernen sie schon einmal theoretisch die WingTsun-Prinzipien, die ihnen später als Meister und Großmeister helfen werden, um sich von kopflastigem Wissen zu befreien und nur noch den Prinzipien zu folgen.

So weit so gut. All das oben Genannte ist Gegenstand der Prüfung, sozusagen die Voraussetzung, sich überhaupt der Prüfung zu stellen.
Aber all das macht noch nicht den WT-Kämpfer, der sich vor den Gegner stellt und gelassen sagen kann: „Greif mich ruhig an, wenn du nicht anders kannst. Mach was du willst, ich werde sicher damit fertig werden.“

Um das zu können, bedarf es neben einem psychologischen Training eines größeren und sicheren Könnens. Hier sind die Dinge gefragt, die ich eingangs ansprach. Hier gilt „Weniger ist mehr“! Jede Technik, die man zuviel weiß, kostet lebensgefährliche Gehirnschaltzeit! Jede Technik, die man links und rechts kann, könnte weitere bit kosten. Hier ist auch Knock-out-Schlagkraft gefragt.
Weshalb nun prüfe ich diesen Teil der Prüfung, der mir der wichtigste ist, bei jedem gleich? Nun, ich prüfe nicht wirklich die gleiche Technik, aber der Mensch hat halt nur zwei Arme und Beine, und so viele sinnvolle Angriffe, wie manche Euch glauben machen wollen, gibt es gar nicht.
In vielen Jahrzehnten und Tausenden von Stunden, die ich Chi-Sao mit meinem Si-Fu Leung Ting trainierte, dem weltbesten WingTsun-Könner, hat er, wenn es um Chi-Sao-Sparring mit mir ging, wo jeder sich bemühte, den anderen richtig zu treffen, niemals exotische und fragwürdige Techniken gegen mich eingesetzt. Was in diesen Augenblicken der Wahrheit zählte, war alleine die Wirksamkeit, die Eigenrisiko durch verspielte Techniken völlig ausschloss.

Durch diese Bevorzugung realistischer Angriffe meinerseits mag bei Prüfungen der Eindruck aufkommen, dass ich alle „in gleicher Weise“ ungeachtet ihrer Graduierung angreife. Aber das ist nur der persönliche Eindruck des Beobachters, aber nicht meine Wirklichkeit. Tatsächlich greife ich sehr differenziert an entsprechend dem Kenntnisstand des Prüflings auch passe ich meine Kraft und Schnelligkeit an. Es gibt zwar nur wenige Grundtypen von praktikablen Angriffen, aber ich kann jeden auf hundert verschiedene Weisen ausführen, in verschiedenen Winkeln, mit gebrochenem Rhythmus, mit Ablenkungen und Täuschungen. Die größte Schwierigkeit bietet das Timing. Um mich abzuwehren, müsste der andere mit mir wechseln können ...

Soviel zum falschen Eindruck, ich griffe alle gleich an.

Bevor ich nun zu philosophieren beginne, das Vorrecht des Alters, möchte ich Euch noch von einer falschen Vorstellung befreien: WT ist nicht so kompliziert, wie es Euch erscheint. Es ist eigentlich ganz einfach und braucht nur wenig: Neben einem guten Stand, einem kurzen Schritt, einer guten Wendung, 3 bis 6 guten Angriffstechniken kommt man in allen Situationen klar, wenn man Tan-, Bong-, Cham- und Kao-Sao beherrscht. Aber diese Frohe Botschaft hatte ich eigentlich schon Mitte der 80er Jahre in „Vom Zweikampf“ verkündet.

Nun aber zu einem fast philosophischen Problem: Welche Abstufungen des Könnens (nicht Kennens) gibt es für mich?

Ist Können überhaupt abstufbar? Führe ich solchen unsichtbaren Maßstab mit mir herum?
Oder gibt es nur „von mir Getroffenwerden“ und „von mir Nichtgetroffenwerden“? Damit gäbe es nur einige wenige Könner und ein tausendfaches Heer von Nichtkönnern. Dass diejenigen meiner Schüler, die ich bei Prüfungen treffen kann, ihrerseits täglich als Angehörige von Eliteeinheiten der Polizei oder des Militärs, als Personenschützer, Türsteher usw. fast „alles weghauen“ (um mit Karl Koch zu sprechen), was sich ihnen zum Kampf stellt, zeigt, dass es zwischen den beiden Extremen wohl doch noch etwas gibt.

Es ist in der waffenlosen Kampfkunst wohl doch nicht so wie beim Schießen, wo es egal ist, ob man 1 Zentimeter vorbeischießt oder das Ziel um 1 Meter verfehlt.

Wäre das unser Beispiel, dann müssten wir mit dem Training aufhören. Das Ziel des Schülers sollte es nie sein, seinen Lehrer zu besiegen, sondern sich selbst zu steigern, jedenfalls habe ich das immer so gesehen, nie hätte ich auch nur darüber nachgedacht, ob ich bei gleicher Graduierung meinen von mir bewunderten Meister schlagen könnte.

Wenn ich einen Brief Senecas für meine Zwecke verändern darf, dann würde das so aussehen:
„Gibt es unterhalb dessen keine Abstufungen? Ist unmittelbar neben dem Können des Meisters ein jäher Abgrund? Ich glaube nicht, denn wer Fortschritte macht, gehört zwar zu der großen Zahl derjenigen, die weniger Können haben als ihr Meister, wird aber dennoch durch einen großen Abstand von ihnen getrennt. Gerade auch unter denen, die Fortschritte machen, gibt es große Unterschiede.“

Aber wir müssen nicht die Stoiker bemühen, auch die Christen, die viel von ihnen lernten, kennen eine vergleichbare Ethik: Der Bekehrte ist zwar immer noch ein Sünder, der die vollkommene Gerechtigkeit vor Gott nicht besitzt. Dennoch besteht ein tiefgreifender Unterschied zwischen Bekehrten und Unbekehrten.

Wem das alles zu kompliziert ist, die Message lautet: Training lohnt sich immer noch, weniger ist mehr und die guten alten Zeiten kommen wieder ...

Liebe Grüße aus Stralsund

Euer

Sifu Kernspecht

P.S. ... aber ohne das neu erworbene und wertvolle Kopfwissen zu vernachlässigen. Lasst uns versuchen, es mit geeigneten Unterrichtsmethoden, die ich liefern werde, zu Körperwissen zu machen.