„Lieber Besserkönner als Besserwisser“
Liebe Mitglieder, liebe Schüler, liebe Kollegen,
Auf meine letzten Editorials, deren Stoßrichtung ich fortsetzen werde, bis mein Ziel erreicht ist, habe ich zahllose Rückmeldungen bekommen und ich möchte diese Feedbacks mit Euch teilen.
Wie Ihr Euch vielleicht erinnert, provozierte ich mit der Feststellung, dass mit der gewaltigen Wissensvermehrung innerhalb der EWTO eine Verschlechterung der Kampffähigkeit des Einzelnen zu beklagen ist.
Das dürfte keinen überraschen, der meinen persönlichen zwanzig Jahre alten kategorischen Imperativ „Weniger ist mehr“ in Erinnerung hat. Kein Vorteil ohne Nachteil. So ist es eben.
Und ebenso natürlicherweise wird es zu dieser Entwicklung aufgrund meines Gegenlenkens eine Antithese geben: die Überbetonung des heutzutage vergessenen und nahezu unbekannt gewordenen Reaktionstrainings.
Dass die wertvollen Sektionen aber nun nicht vernachlässigt werden, dafür sorgen schon die Prüfungsbestimmungen und die herrlichen Tutorials von meinem Si-Fu GGM Leung Ting, der gerade im Schloss weilt und den Hochgraduierten die Arbeit an der Tripodalpuppe, die Chi-Gerk-Sequenz und den nächsten Teil des Langstock-Programmes beibringt. Sein Wochenthema ist übrigens bemerkenswerterweise: „Es gibt keine festen Reihenfolgen.“
Wer einen Missstand entdeckt hat und ihn, so es in seiner Macht steht, nicht ändert, macht sich als Mittäter schuldig, das wusste schon Bertold Brecht, dessen Lyrik ich gerade mit Nutzen lese.
Chi-Sao war immer meine Stärke, sowie die daraus für die Selbstverteidigung genutzten reflexartigen Reaktionen. Ich persönlich will mich schwerpunktmäßig das ganze nächste Jahr, und wenn nötig, solange wie es dauert, dem sträflich vernachlässigten Einpflanzen von „WT-Reflexen“ widmen. Und ich werde in diesem Sinne auch die TG-Prüfungen sehr gewissenhaft durchführen. Vorbereitungszeit eingehalten zu haben und auswendig Gelerntes vorzutragen ist Voraussetzung, aber nicht genug und nicht das Wesentliche!
Denn ohne schnelle Reaktion aufgrund taktiler Reize gibt es kein richtiges WT. WT ist Umsetzen des kraftlosen taoistischen Prinzips des Nachgebens, aber nicht Abspulen choreographierter Partnerformen, mögen sie auch noch so ausgeklügelt sein.
Ich will nicht tatenlos zusehen, wie aus WingTsun-Könnern mit der Zeit Sammler toter Techniken und WingTsun-Besserwisser werden.
Der letzte Punkt meines EWTO-Prüfungszettels für TG- und Praktikergrade zeigt deutlich, welchen Wert ich immer auf das Wichtigste im WT gelegt habe und was für mich stets praktisches Prüfungsthema Nr.1 war und ist:
„Allgemeine Reaktion, Kampffähigkeit“!
Das war es, was ich immer vorzüglich prüfte, bei denen, die sich mir zur Prüfung vorstellten. Da es nur ein gutes halbes Dutzend kampfrelevanter semireflexartiger Reaktionen gibt, mache ich auf diesem Prüfungsgebiet, das es so nur bei mir in Europa gibt, tatsächlich „mit jedem dasselbe“.
Allerdings passe ich mich dem Niveau des Kandidaten an. Das bedeutet aber auch, dass ich einen Maßstab mit mir herumtrage, an dem sich die Reaktion des Betreffenden prüfen lassen muss: sozusagen mein „Chi-Sao-Meter“:
Wenn ich langsam angreife, dann erwarte ich, dass der Kandidat nicht schneller abwehrt. Auch seine Druckstärke soll meine nicht übertreffen. Muss er zur Abwehr mehr Schnelligkeit oder mehr Kraft aufwenden als ich beim „Angriff“, dann zeigt mir das, dass er eben nicht den WT-Prinzipien folgt.
Selbst, wenn er dann diesen Angriff – unter Aufbietung aller Kraft und Schnelligkeit – überstehen würde, gibt ihm das bei mir keine gute Note, denn durch seinen Widerstand und durch seinen mir übermittelten Impuls fällt er dem Folgeangriff zum Opfer.
Bei aller Vorliebe für „lebendiges“ Chi-Sao will ich jedoch mitnichten die (aus anderen Gründen) nötigen und bewährten Sektionen (Zwei-Mann-Chi-Sao-Formen) abschaffen oder ersetzen. Und schon gar nicht durch sog. „Freies Chi-Sao“.
Tatsächlich unterrichte ich nicht wirklich „freies Chi-Sao“. Auch das ist nicht die Lösung. Stattdessen gehe ich mit klarem Plan und dezidiertem Programm vor, wenn ich die essentiellen WT-Reaktionen „einpflanze“. Ich als „Reflexeinpflanzer“ muss dabei nachdenken, damit ich meinen Schüler in die Lage versetzen kann, später im Kampf nicht mehr nachdenken zu müssen. Von „freiem Chi-Sao“ oder genauer dem, wie es betrieben wird, halte ich weniger, weil man dabei unsystematisch und nur unvollständig lernt. Man ist dann nur auf die wenigen Angriffe vorbereitet, die die Spezialität des jeweiligen Si-Fus sind. Nur ein wissenschaftlich fundiertes und systematisches Unterrichtskonzept bereitet auf a l l e möglichen Situationen vor. Aber das könnt Ihr alles in GGM Leung Tings Werk „WingTsun Kuen“ nachlesen, dem ersten vollständigen Buch über die Kampfkunst seines Si-Fus Yip Man. Es ist nach wie vor das beste WingTsun-Buch auf dem Markt und maßgeblich und unverzichtbar!
Euer
Sifu Keith R. Kernspecht
Nun aber zu den Zuschriften:
Victor Gutierrez, 6. PG:
Das Imperium schlägt jetzt zurück
Ich war es schon seit langem leid, dass mich immer wieder Schüler nach irgendwelchen abenteuerlichen Techniken oder unwichtigen Variationen von Chi-Sao-Sektion fragten, die sie im Internet jemanden anders hatten machen sehen.
Nach den letzten turbulenten Jahren, mit den sich selbst überschätzenden Abspaltungen von früheren Schülern und Kollegen, wurde ich das Gefühl nicht los, dass unsere EWTO in eine gefährliche „Sektions-Falle“ geraten sei.
Auf der Suche nach möglichen Antworten reiste ich nach Deutschland und Italien, um mich bei meinem Si-Fu über den letzten Wissenstand und über möglicherweise neue und eventuell raffiniertere Chi-Sao-Sektionen schlau zu machen.
Ich stellte fest, dass viele Techniker, die vor Ort trainierten, die selben Verunsicherungen und denselben Frust spürten wie ich. Diese ständigen sinnlosen Sektionsänderungen und spitzfindigen Details brachten sie nur noch mehr durcheinander. Alle, mich eingeschlossen, warteten auf das Machtwort des einzigen, der dem unrealistischen Spuk ein Ende bereiten konnte. Aber zu diesem Zeitpunkt sah es so aus, als ob Si-Fu dem bösen Spiel einfach nur zusah, alles beobachtete, aber nicht eingreifen wollte.
Meine Wut darüber, dass Menschen, die bis dahin unsere Kollegen gewesen waren, sich einfach neue Bewegungen einfallen ließen, um sich damit von uns zu unterscheiden, sich eitel zu profilieren und uns die Schüler zu verunsichern und abspenstig zu machen, wuchs mit jedem Tag.
War es denn nicht so, dass alle, die WT in der Welt verbreitet hatten, wie ich Schüler von dem selben Si-Fu gewesen sind? Die Meister, die im Namen unserer Organisation auf der ganzen Welt WT verbreitet hatten, wurden auf einmal in Frage gestellt, und manche, die früher respektvoll „Si-Fu“ zu ihm sagten, nannten ihn jetzt, aus der sicheren Ferne der Reichweite seiner Arme, „Herr Kernspecht“.
Ich fühlte mich auf mich allein gestellt und begann mich an meine Anfänge zu erinnern, und daran, dass unser aller Si-Fu immer gesagt hatte, dass WT nicht aus einzelnen, aneinandergereihten „toten“ Techniken besteht, sondern ein geniales Konzept ist, wo Feinfühligkeit und Anpassungsfähigkeit über Detailwissen herrscht. Si-Fu hatte mich zum Meister ernannt, also wollte ich mich würdig erweisen und begann, in der Zeitschrift „Kampfkunst International“ meines Freundes Alfredo Tucci Artikel zu schreiben über alle die Ideen und Interpretationen des Grundprinzips, die mir aufgrund dieser Erinnerung an die Lehre meines Si-Fus kamen.
Ich hoffte damit, die Schüler und uns Lehrer selbst aufzurütteln und aus der Lethargie und dem Teufelskreis des Erfindens eigener Variationen von noch mehr „toten“ Techniken zu lösen und wieder auf den bewährten, alten Weg der EWTO zu führen und uns aus der teuflischen Falle zu befreien, die uns vorlügt, dass „Mehr mehr ist“.
Ich weiß, dass viele meiner Kollegen es so aufgefasst haben als ob ich vorgab, etwas Neues erfunden hatte, als ich etwas von „Re-Evolution“ schrieb. Aber ich weiß, dass ich Si-Fu alles verdanke und dass man im WingTsun nichts Neues erfindet, jeder kann das ewige Konzept des WT nur neu oder anders interpretieren, je nach dem Grad seines Verständnisses oder Unverständnisses.
Als Si-Fu dann endlich dieses Jahr zu mir nach Barcelona kam und mit jedem meiner Techniker-Schüler im Chi-Sao und Lat-Sao „spielte“, jede Frage überzeugend und auch körperlich mit größter Leichtigkeit beantwortete, ergriff mich wieder die alte Begeisterung. Kurz darauf reiste ich zu Si-Fu nach Kiel und nahm zwei Tage lang Chi-Sao-Unterricht: Dieses Erlebnis war mehr als überzeugend!
Zu meiner Verwunderung stellte ich dann fest, dass Si-Fu die Gesamtsituation mehr oder weniger genau so einschätzte wie ich. Und dass Allerbeste ist, dass sein superweiches Chi-Sao sich 100%ig auf die oben genannten Grundsätze stützt. Es war ein Hochgenuss, von meinem alten Si-Fu (damit meine ich nicht sein Lebensalter) zu lernen, der in absoluter körperlicher Hochform und unglaublich motiviert und enthusiastisch das purste und technikloseste WingTsun hervorbringt, das ich mir jemals erträumen könnte. Gefühlvoll, hinreißend, großmeisterlich, aber völlig ohne Meisterallüren trainierte er mit mir jeden Mittag drei Stunden in der Sonne auf seinem Balkon. Da gab es keine festen Bewegungsabläufe, die Bewegungen entstanden wie von selbst oder genauer durch meine Impulse, wenn ich mich bemühte, seine fließenden Angriffe abzuwehren, um mich damit nur noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen ...
WT in Vollendung, Chi-Sao nicht als verspieltes Endziel, sondern endlich als Vorbereitung zum realistischen Kampf.
Das ist genau mein Traum, an dieser aufregenden Entwicklung möchte ich mitwirken, als Schüler, als EWTO-Meister und Nationaltrainer und als Herold und Vertreter der EWTO!
Ich hoffe, dass das gesamte Studiensemester der EWTO im Januar 2007 mit den bulgarischen Professoren ihr auswärtiges WingTsun- und Sport-Studium auf Teneriffa durchführt, damit ich meinen Kollegen die Schönheiten unserer Insel zeigen und mit ihnen unter meinem Si-Fu trainieren kann.
Auf die Zukunft und eine starke gemeinsame EWTO!
Victor Gutierrez
6. Meistergrad WingTsun
Nationaltrainer Spanien und Portugal
Wer sich an der Diskussion über Chi-Sao beteiligen möchte, kann seinen Text per E-Mail an die WT-Welt-Redaktion schicken (wt.welt@ewto.com). Die Zuschriften werden auf den Seiten der WT-Welt online veröffentlicht.
Weitere Zuschriften:
- Editorial: „Lieber Besserkönner als Besserwisser“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Ernst Krause“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Bodo Seibold“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Markus Senft“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Thorsten de Vries“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Peter Thietje“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Stephan Bollen“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Kasper Lund Nielsen“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Michael König“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Andreas Tomczak“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Dai-Sifu Oliver König“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Sifu Jörg Kilian“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Christoph Brük“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – David Silvester“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Pavan“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Oliver Hofmann“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Mike Heymann“
- „Lieber Besserkönner als Besserwisser – Klaus Puntke“