Editorial

„Alles Wichtige wird in der ersten Unterrichtsstunde gelehrt!“ – Interview statt Editorial zweiter Teil

Hier wie versprochen die Fortsetzung des Interviews – mit aktuellen Antworten auf weitere wichtige Fragen.

 

 

 
      Markus Senft interviewte GM Kernspecht für die WTW online
 

Bei unserem letzten Gespräch sagtest Du, dass Du schon immer, seit über 50 Jahren, auf der Suche seiest nach einem Selbstverteidigungssystem, das mit möglichst wenigen Bewegungen alle möglichen Probleme löst.

Du hast den Anfang und das Ende unseres Austausches also nicht vergessen. Meine „unspezifischen“ Bewegungen. Inzwischen – nach dem Studium bei Prof. Tiwald – würde ich lieber von unspezifischem „Bewegen“ sprechen; denn es handelt sich nicht um spezifische Techniken gegen etwas Bestimmtes, sondern um eine allgemeine Art des Sichbewegens.

Ich hatte, nachdem ich so etwas Ähnliches bei dem Koreaner Masutatsu Oyama gesehen zu haben glaubte, die Vorstellung, dass man mit „ventilatorflügelartigen“ Armbewegungen alle Faustangriffe abwehren und eventuell kontern könnte.
Je tiefer ich ins Karate einstieg, desto mehr vergaß ich diese Idee, denn ich ließ mich mit Bewegungen (Techniken) überfrachten. Die Mittel überwucherten den Zweck.

Du sahst den Wald nicht mehr vor lauter Bäumen?

Ich hatte vergessen, weshalb ich damit angefangen hatte. Ich lernte jetzt Karate. Aber ich wollte doch lernen, mich zu verteidigen.

Sie brachten Dir nicht bei, Dich zu verteidigen …,

… sondern ihren Karate-Stil.

Sie unterrichteten nicht Dich …,

... sondern Karate! Ich sehe mit Freude, dass meine sprachlichen Gemeinheiten auf fruchtbaren Boden gefallen sind.

Wie stehst Du überhaupt zum Karate? Hast Du nicht sogar den 3. Dan?

Ich habe 10 Jahre lang erst Kempo, dann Karate im „Budo-Zirkel Kiel“ unterrichtet. Dabei fällt mir jetzt ein, dass es in dem Kempo-Stil, den ich von einem Belgier oder Holländer lernte, eben solche „ventilatorflügelartigen“ Bewegungen gab, in denen sich der Angriff des Gegners verfangen musste. Und ich weiß jetzt auch, dass Meister Oyama Kempo, also ursprüngliches KungFu, gelernt hatte.

Ich bin sicher, dass Du auch den chinesischen Ursprungsstil gefunden hast.

Du kennst mich gut. Ich habe ihn auch eingehend studiert. Er führte mich dann später zum Wing Chun, das ich Anfang der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts im Londoner Chinaviertel von Sifu Joseph Cheng, dem Schüler von GM Lee Sing, erlernte, bis Joseph mich 1975 zu GM Leung Ting „überwies“, von dem ich bis zum 10. Meistergrad und auch noch darüber hinaus WingTsun lernte.

Hast Du Deine unspezifischen Bewegungen im WingTsun gefunden?

Ja, aber auch hier lenkten mich die überwuchernden und detaillierten Partnerform-Techniken vom eigentlichen Zweck ab. Es ist so wie im Restaurant, wenn der Kellner mich fragt, wie ich das Steak fand. Ich sage dann: „Versteckt unter der ertränkenden Sauce und den Sättigungsbeilagen!“

Und wo hat sich das Unspezifische in unserem WT versteckt?

In meiner „Essenz“ behaupte ich: „Alles Wichtige wird in der 1. Unterrichtsstunde unterrichtet.“
Das gilt im Anfängerbereich für das unbewegte Stehen bei der SNT-Form. Und bei den Fortgeschrittenen betrifft es die allererste ChiSao-Übung, das „Rollen der Arme“ (PoonSao).
Im „Rollen der Arme“ steckt wie in einem Nukleus schon alles, verbunden mit den drei Ebenen und der Idee des dranbleibenden und einlullenden Sichanpassens, des Führungübernehmens und im richtigen Augenblick raubvogelartigen Herabstürzens auf die Beute.

Du zitiertest in Deinem Buch „Vom Zweikampf“ den klassischen Ausspruch: „Ich fürchte den Leser des einen Buches!“

Ja, irgendwie ist das unterschätzte und wohl auch mit der falschen Einstellung praktizierte PoonSao dieses eine Buch, in dem alles enthalten ist, was es braucht.

Wirklich alles?

Nein, natürlich nicht. Es fehlt noch die richtige Energie. Schlagtechnik. Schrittarbeit. Die Großen Sieben.

Deine Großen Sieben sind Achtsamkeit, Gewandtheit, Balance, Körpereinheit, Staffel der Sinne, Timing und Abstandsgefühl, Kampfgeist.
Also die unerlässlichen Fähigkeiten, über die ein Kämpfer als Voraussetzung verfügen muss, um sich zu verteidigen?

Um sich mit „unserem WT“ zu verteidigen! Will er sich z.B. mit Kickboxen verteidigen, braucht er ganz andere Fähigkeiten. Dann braucht er Kraft, Bewegungsschnelligkeit, Ausdauer, Einsteckvermögen usw.

Und wie oder wo entwickelt der Schüler diese sieben Voraussetzungen?

Nach klassischer Auffassung durch das Üben der Soloformen. Mein chinesischer Meister hat sie dann zusätzlich durch seine Partnerformen ergänzt. Also durch Anwendungsformen.

Und Du? Was hältst Du davon?

Ich experimentiere mit Übungen, die diese Fähigkeiten gezielt, einfach und ohne Umwege entwickeln. Ohne die Formen, ohne Gedächtnisleistungen. Also auf direktem Wege.

Viele sorgen sich, dass Du die klassischen WT-Formen abschaffen willst.

Das wäre Quatsch! Wir haben doch sowieso nur vier kurze Boxformen. Ich will sie weder abschaffen, noch verändern.

Worin besteht denn Deine Kritik an den Formen?

Sie dürfen nicht das Hauptunterrichtsmittel sein. Ein angeleitetes Partnertraining, das die Großen Sieben direkt ansteuert, ist mindestens genau so wichtig.

Und sonst?

Wenn ich von der 3. Form und vielleicht der Holzpuppenform absehe, werden mir die Formen nicht fließend genug praktiziert. Ständiges Abstoppen und Verharren in den Endpositionen ist kontraproduktiv zu den Zielen des WT als Kampfsystem.

Was ist daran Schuld?

Ein falsches Verständnis vom Motto „Dim dim ching“ (Jeder Punkt deutlich). Der Schüler ist sich ständig unsicher, ob er die Technik richtig macht, überprüft die Endposition im Spiegel oder wartet auf das Okay seines Lehrers, bevor er weitermacht. Der Schüler verinnerlicht dieses Verharren in Endpositionen und entwickelt nicht das Fließen, den „Flow“.

Aber das ist doch eher ein Unterrichtsproblem.

Ja, es bedarf der Aufklärung des Lehrers. Am WingTsun ist grundsätzlich nichts falsch. Aber die Unterrichtsmethode muss wissenschaftlich hinterfragt werden dürfen. Da dürfen wir keine pietätvolle Scheu haben.

Aber dafür muss man die Ziele kennen, die man mit WT erreichen will, die Prinzipien usw.

Ein Ziel ist die Herstellung der Fähigkeit, sich selbst zu schützen.
Ein anderes die Entwicklung der Achtsamkeit.
Ein weiteres der Erhalt oder die Wiederherstellung der Gesundheit.

Aber am Anfang stand wohl der Wunsch nach persönlicher Sicherheit.

Deshalb wollen wir das nächste Mal darüber sprechen, wie wir in der EWTO mit Hilfe des WT dieses erste Grundbedürfnis schnell befriedigen, nämlich durch BlitzDefence.


Fortsetzung des Interviews mit Markus Senft im November …