Editorial

„Nachgeben“

In seinem Buch „Die Großen Sieben“ spricht WingTsun-Großmeister Keith R. Kernspecht von den essenziellen sieben Fähigkeiten, die man in seinem WingTsun entwickeln muss, um sich auch gegen Stärkere erfolgreich verteidigen zu können.

Diese essenziellen sieben Fähigkeiten sind:

  1. Achtsamkeit
  2. Beweglichkeit
  3. Gleichgewicht
  4. Leibeseinheit
  5. Wahrnehmung
  6. Timing
  7. Kampfgeist

Damit hat Prof. Kernspecht einen weiteren Grundstein gelegt, um den Prozess der Transformation des – seiner Meinung nach – deutlich mehr externen (äußeren) als internen (inneren) WingTsun zu einem überwiegend inneren System fortzusetzen.

Wenn man die inneren Stile studiert, wie ich es mit GM Kernspecht seit über einem Jahrzehnt mache, fallen einem gewisse gemeinsame Merkmale bei ihnen auf, die ich hier ohne jegliche Ordnung und Reihenfolge vorstellen will, bevor ich auf eines von ihnen, nämlich auf das Nachgeben, näher eingehe:

  • Langes Stehen in einem sog. verwurzelten Stand
  • Armübungen, die Klebrigkeit erzeugen sollen
  • Einheit des Körpers und des Geistes
  • Ausrichtung
  • Entspannung
  • Verwandlungsfähigkeit
  • Vollsein (Fülle)
  • Bewusstsein der Mitte
  • Konstanter Vorwärtsdruck zur Masse des Gegners
  • Ständige Bereitschaft
  • Fajin/Fali – Energieübertragung zum Zwecke des Angriffs
  • Nachgeben
     

Merkmal Nachgeben

* Widerstand und Nachgeben sind übrigens falsche Wörter, die den tatsächlichen Vorgang nicht korrekt wiedergeben. Ich verwende sie hier nur, weil sie in unsere Alltagssprache Eingang gefunden haben. Leider reicht der Platz hier nicht aus, um gebührend auf sie einzugehen und bessere Erläuterungen zu ihnen zu geben.

Ich beginne nun mit ein paar Gedanken zum „Nachgeben“*, die aber nur mein derzeitiges Verständnis wiedergeben.

Die Fähigkeit des Nachgebens* spielt im Yip Man-wing chun eine große Rolle und im Leung Ting-Wing Tsun innerhalb der Yip Man-Richtung eine ganz besondere, denn er gilt wohl als der weichste unter den wing chun-Stilen.

Das EWTO-WingTsun zeigt schon durch die Schreibweise Wing Tsun, dass wir uns vor allem an dieser Stilrichtung orientieren, wobei wir aber auch andere wing chun-Konzepte der verschiedenen Stilrichtungen des wing chun in die EWTO aufgenommen haben.
 

Zur Begriffserklärung „wing chun“

Wenn wir „wing chun“ in Kleinschreibung verwenden, meinen wir damit immer das gesamte System, das über Ng Mui zu dem Mädchen Yim Wing Chun gelangte, das dieser Kampfkunst ihren Namen gab.

Darunter fallen dann nicht nur alle Stile, die sich auf Yip Man berufen und von den diversen Schülern Yip Mans abstammen und sich entweder „Ving Tsun“, „Wing Chun“ oder „Wing Tsun“ (Leung Ting!) schreiben, sondern auch Mischstile aus ihnen, aber auch Stile, die gar nichts mit Yip Man zu tun haben, wohl aber zur großen Familie gehören.

Tatsächlich gibt es mehr wing chun-Stile, die nicht von Yip Man stammen, als solche, die sich auf ihn zurückverfolgen lassen.

Wenn ich hier das Merkmal „Nachgeben“ aufgreife, möchte ich vorausschicken, dass die verschiedenen „wing chun“-Stile verschiedene Auffassungen von Nachgeben haben.

Das wichtigste Motto im wing chun spricht auch nicht wirklich von Nachgeben, wenn es fordert: „Klebe an dem, was kommt!“

GM Kernspechts verstorbener Mentor und Freund, GM Wang Kiu, einer der gebildetsten Schüler Yip Mans und seines Zeichens Dolmetscher, übersetzte dieses Motto, das die meisten wing chun-Stilisten als das Gebot nachzugeben verstehen, sogar mit: „Stoppe, was kommt!“

Großmeister Kernspecht dagegen entwickelte vor über 10 Jahren mit seinem Trainingskonzept „ReakTsun“ den genauen Gegensatz, ein WingTsun, das nicht einmal den leichtesten Widerstand leistet. Dennoch unterrichtet er zurzeit ein WingTsun, das manche (Nichteingeweihte) für „hart“ und „frei von Nachgeben“ halten (müssen).

Wir erkennen also, dass hier keineswegs ein allgemeines Übereinkommen darüber besteht, dass man im wing chun „nachgebenmuss.

GM Kernspecht beharrt aber weiterhin darauf, dass man im WingTsun keinen Widerstand leisten soll, das wäre für ihn ein „No-Go“, denn Widerstandslosigkeit ist für ihn ein nicht verhandelbares Merkmal des wing chun überhaupt.

Wie ist diese scheinbare Diskrepanz zu verstehen?

Widerstand bedeutet für uns, der Kraft des Gegners die eigene rohe Kraft direkt entgegenzusetzen. Solch ein Verhalten, das bei Ungeübten gang und gäbe ist, verstößt per definitionem gegen das Sprichwort „Der Klügere gibt nach!“. Und wer von uns wollte nicht der Klügere sein.

Mit Kraft gegen Kraft anzugehen, würde dem Stärkeren grundsätzlich die besseren Chancen geben. Und schon Prof. Tiwald schrieb, dass der Gegner nur dort stark sein kann, wo wir ihm Widerstand geben.

Deshalb ist es grundsätzlich falsch, dem Stärkeren Widerstand zu leisten, das nennen wir falsche oder rohe Kraft, im Gegensatz zur sog. raffinierten und klugen „KungFu-Kraft“, die eben nicht auf Widerstand beruht.

Und warum lässt GM Kernspecht dennoch seine Schüler im Training direkt gegen den Arm des Gegners drücken, statt wie in seinem ReakTsun bei nahezu der ersten leichten Berührung nachzugeben und den Angreifer ins Leere laufen zu lassen?

Es ist nur ein Übungsschritt, der mit einer überraschenden Erfahrung zu tun hat, die wir schon vor über 10 Jahren mit diversen inneren chinesischen Stilen machten (Hsing-I, Yi Chuan, Taiki Ken, Pakua und später mit I Liq Chuan, Zhong Xin Dao) und mit dem südlichen inneren Gottesanbeter und dem Stil der Weißen Augenbraue, den ihr vielleicht aus „Kill Bill 2“ kennt, den ich jetzt gerade im Fernsehen sehe.

Diese Stilrichtungen können – unter bestimmten Umständen – mit verschiedenen Energien gleichzeitig angreifen. Übrigens entdeckten wir auch einen, allerdings völlig unbekannten wing chun-Stil, der diese Fähigkeit vorzuweisen hat, allerdings stammt er nicht von Yip Man ab, sondern ist älter.

Wahrscheinlich gibt es weltweit vielleicht nur ein Dutzend Könner, die diese Art von Energien erzeugen und noch weniger, die sie auch im Faustkampf ohne jeglichen vorherigen Berührungskontakt an den Mann bringen können.

Zugegeben, es handelt sich hier praktisch gesehen, um eine völlig akademische Überlegung, denn die Wahrscheinlichkeit, jemals im Leben kampfmäßig mit so einem Experten zusammenzustoßen, geht gegen Null.

Nun ist GM Kernspecht aber schon immer ein Perfektionist gewesen, in allem, was er tut. Deshalb hat er viele Jahre darangesetzt, hinter diese „Methode“ zu kommen, ursprünglich, um sich dagegen verteidigen zu lernen. Und natürlich will er auch seine Meisterschüler in diese Lage versetzen.
Denn nur wenn man selbst diese Energie zumindest ein wenig einsetzen kann und weiß, worauf sie beruht, hat man in einem später folgenden Lernschritt die Möglichkeit, sie zu vermeiden.

Zuerst muss man deshalb lernen, wie man mit seinem Unterarm auf dem des Gegners „landet“, um sich eine brauchbare Berührungsstelle einzurichten, von der man weitere Kraft-Strahlen (Vektoren) zu dessen Masse aussenden kann.

Und was hat das Gesagte nun mit „Widerstand“* zu tun?

Alles, denn wenn man bei der ersten, leichten Berührung schon gleich WingTsun-typisch „nachgibt“* (vgl. Erläuterung weiter oben), funktioniert das zwar bei Fortgeschrittenen in 99,9 % aller Fälle, aber so erlernt sich das Einrichten einer anwendbaren Berührungsstelle nie.

SiWau fragt sich:
„Wann gibt da endlich jemand nach?“

Um zu „landen“ und einen ausbalancierten Berührungspunkt einzurichten, muss man mit etwas mehr direktem Druck arbeiten, als es im WingTsun sonst der Fall ist.

Wenn GM Kernspecht aufgrund dieser Erkenntnis der Tatsachen, die ich hier vereinfacht und damit nicht wirklich korrekt dargestellt habe, nun als 1. Übungsschritt lehrt, dem Angriffsdruck des Gegners übertrieben stark entgegenzugehen, um auf dem Arm des Gegners zu „landen“ und einen ausbalancierten Punkt aufzubauen, dann gilt das nur für eine gewisse Trainingsperiode, danach wird der direkt entgegengebrachte Druck Stück für Stück wieder reduziert.

Und wie schützt man sich nun davor, dass einer dieses Dutzends weltweit vorhandener Experten uns im Nahkampf mit diesen mehreren Vektoren angreift?

Die Lösung ist einfach, aber nicht leicht:

Man darf sie nicht „landen“ lassen.

Und wer die Voraussetzungen für das eigene „Landen“ auf dem Unterarm des Gegners erkannt hat, weiß auch, welche Konditionen er seinerseits dem Gegner nicht bieten darf.
 

Viel Spaß beim Landen und Nicht-landen-Lassen!

Eure Natalie
 

Fotos: aw/Kernspecht