WingTsun

Die Geheimnisse des WingTsun

Zum Auftakt der Tutorialreihe 2003 lud GM Keith R. Kernspecht seinen Si-Fu GGM Leung Ting in die WT-Akademie von Frank Schmalz, 5. PG, und Rainer Wagner, 4. TG, nach Kiel ein. Von dort aus ging es dann zusammen mit Henning Daverne, 5. PG, dem kampfstarken dänischen Nationaltrainer, weiter nach Kopenhagen, danach nach Süddeutschland in die Germeringer Schule (bei München) von Peter Grusdat, 4. TG, und schließlich in die Zentrale der Europäischen WingTsun Organisation auf Schloss Langenzell. GGM Leung Ting strukturiert den Aufbau der Tutorials entsprechend den Unterrichtsprogrammen seines WingTsun-Systems – von der Siu-Nim-Tau über die Cham-Kiu und der Biu-Tze zur Holzpuppe, um schließlich das System mit dem Langstock und den Doppelmessern abzuschließen.

In der konzentrierten Unterrichtsatmosphäre der Tutorials hat der Großmeister auch die Möglichkeit, auf die Hintergründe des WingTsun-spezifischen Unterrichtkonzeptes einzugehen. Schnell wird deutlich, dass dieses einzigartige Lehr- und Lernprogramm das komplexe und stets in dynamischer Entwicklung begriffene Ergebnis einer Vielzahl verschiedener Faktoren ist. Das Erbe einer Generationenfolge genialer Kampfkunstmeister, in dem sich das Wissen der alten chinesischen Hochkultur widerspiegelt, konnte GGM Leung Ting durch Elemente abendländischer Pädagogik, weitreichenden physikalischen und psychologischen Erkenntnissen, jahrzehntelanger Unterrichtserfahrung und nicht zuletzt seinem außergewöhnlichem Bewegungstalent bis zum heutigen hohen Standard weiterführen. Die größte Bereicherung für den chinesischen Kung Fu-Stil, der bis vor wenigen Jahrzehnten als Geheimstil gehütet wurde, ist aber wohl die kongeniale Zusammenarbeit des Lehrers Leung Ting mit seinem Meisterschüler Keith R. Kernspecht. Ein wahrer Glücksfall, denn über die scheinbare Unvereinbarkeit der immensen kulturellen Gegensätze zwischen Asien und dem Abendland wurden bereits Dutzende Bücher geschrieben.

Hohes „WT-Bildungsniveau“

Als das WingTsun vor fast 30 Jahren über Deutschland (Budo-Zirkel Kiel) seinen Einzug nach Europa hielt, herrschte in der damaligen kleinen Kampfkunstszene das Kung Fu-Fieber, ausgelöst durch die Filme Bruce Lees. Jede Bewegung, die auch nur entfernt als Kung Fu-Technik bezeichnet werden konnte, wurde begierig gelernt und trainiert. Wer wollte nicht werden wie der „Kleine Drache“.

Schon damals hob sich das WingTsun-System GGM Leung Tings durch sein einzigartiges, logisches Unterrichtskonzept hervor, wenngleich dies aber nur wenigen bewusst wurde. Was weiß ein Erstklässler bei seiner Einschulung schon von dem Grundgedanken und der Zielsetzung seiner schulischen Ausbildung? Erst mit zunehmendem Wissen und Verständnis stellt sich viel später die Frage nach den Hintergründen des Unterrichtssystems.

Nachdem Generationen von europäischen WT-Schülern viele Jahre lernten und trainierten, ist heute das allgemeine „WT-Bildungsniveau“ hoch genug, dass Interesse und Verständnis am Wie und Warum des Unterrichtsystems selbst besteht. Ein neuer Abschnitt des Lernens, aber auch des Lehrens ist angebrochen. Nicht zuletzt deswegen bietet GM Keith R. Kernspecht seinen fortgeschrittenen Schülern die Möglichkeit, in privaten Tutorials mit GGM Leung Ting tiefer in das Verständnis des WingTsun vorzudringen.

Besonders zwei Umstände veranlassten GGM Leung Ting das Unterrichtssystem des WingTsun maßgeblich weiterzuentwickeln. Zum einen lernte er als sog. „closed door“-Schüler des Great Grandmaster Yip Man die fortgeschrittensten Konzepte des WingTsun, die sich zum Teil erheblich von dem unterschieden, was Leung Ting selbst in vielen Jahren vorher bei seinem Wing Chun-Lehrer gelernt hatte. Andererseits sah er sich durch den großen Erfolg seiner Unterrichtstätigkeit und den rasant wachsenden Schülerzahlen gezwungen, die traditionelle Lehrmethode zu modifizieren, in der der Lehrer nur wenige Schüler individuell unterrichtet.

Techniker, Praktiker und „Nachtanken"

GGM Leung Tings Unterrichtskonzept liegen die Ideen der „Techniker/Praktiker“-Einteilung und des „Nachtankens“ zu Grunde. Traditionellerweise kennt man in den chinesischen Kampfkünsten lediglich die Graduierungseinteilung in Meister/Schüler, die durchaus Sinn macht, wenn ein Lehrer nur wenige Schüler über viele Jahre lang intensiv unterrichtet. Auch eine Einteilung der Lerninhalte des WingTsun in bestimmte Programme ist überflüssig, da der Lehrer jeden seiner Schüler persönlich kennt und immer genau über dessen momentanen Leistungsstand informiert ist.

Ist jedoch diese persönliche Lehrer/Schüler-Verhältnis nicht mehr gegeben, werden festgelegte Unterrichtsprogramme notwendig, die das Leistungsniveau und den Lernfortschritt der Schüler standardisieren. GGM Leung Ting entwickelte deswegen aus den vorhandenen Konzepten und losen Übungen des traditionellen wing chun unter dem besonderen Aspekt der fortgeschrittensten Ideen seines Lehrers Yip Man die sogenannten „Chi-Sao-Sektionen“. Diese Partnerübungen vermitteln aufeinander aufbauend die Prinzipien des WingTsun und führen den Schüler so sicher ans Ziel des Verständnisses seines Stils. So lange der Schüler sich mit Hilfe dieser Sektionen weiterentwickelt, erkennt man seinen jeweiligen Wissensstand an seiner „Techniker“-Graduierung. Der „Praktiker“ hat die Ideen und Prinzipien des waffenlosen WingTsun verinnerlicht und erweitert sein Verständnis durch die Waffen Langstock und Doppelmesser.

Der stufige Aufbau des Unterrichtssystems über die verschiedenen Formen, die jeweiligen Anwendungen und Chi-Sao-Sektionen, bietet dem Schüler die Möglichkeit, auf seinem Weg zum Ziel immer wieder neues Wissen „aufzutanken“. Eine andere Methode wäre es, bildlich gesprochen, am Beginn der Reise so viel Sprit zu tanken, dass man ohne weiteren Zwischenstopp bis ans Ziel kommen würde. Sprich: Der Lehrer zeigt dem Schüler sofort den ganzen zu lernenden Stoff und entlässt ihn dann auf seinen Weg. Beide Konzepte können zum Erfolg führen, doch GGM Leung Ting meint, dass es bezeichnend für WingTsun ist, „entlang der Bogensehne zu gehen, wenn alle anderen den Um-Weg über den Bogenrücken wählen; auch wenn das Ziel das gleiche bleibt.“

Von entscheidender Bedeutung für das Verständnis des WingTsun ist aber in jedem Fall, dass der Schüler letztendlich die Grundideen hinter den Programmen, Formen und Übungen versteht und sich von den Techniken lösen kann. Erst dann wird WingTsun zum berühmten „formlosen" System, wie schon Bruce Lee schwärmte.

Das „Chi“ in der ersten Form

Doch Hintergrundwissen ist nicht der einzige Unterrichtsinhalt der Tutorials von GGM Leung Ting. Detaillierter und weitreichender als es auf einem normalen Lehrgang jemals möglich wäre, kann der Großmeister auf alle Fragen und individuellen Probleme der Teilnehmer eingehen. Darüber hinaus bestimmt der fortgeschrittene Leistungsstand der „Schüler“ – die meisten sind selbst bereits Lehrer, viele sogar Meister des WingTsun – das hohe Niveau dieser Seminare.
So erläutert GGM Leung Ting in den Siu-Nim-Tau-Tutorials in allen Einzelheiten die Bedeutung der richtigen Atmung bei der Ausführung der ersten Form des WingTsun. Den meisten ist der Begriff des „Chi“ geläufig, doch nur wenige wissen, was sich dahinter verbirgt, und kaum einer kann sich vorstellen, inwiefern „Chi“ im praktischen Training eine Rolle spielt. Es zeichnet GGM Leung Ting als herausragenden Pädagogen aus, dass er es versteht, auch komplexe und schwierige Themen bildlich und leicht verständlich zu erklären und darüber hinaus jedem einzelnen Schüler in kürzester Zeit die praktische Umsetzung des theoretischen Verständnisses zu vermitteln. Nach nur einer Unterrichtseinheit weiß jeder einzelne Teilnehmer des Tutorials aus eigener Erfahrung wie sich das bis dahin ominöse „Chi“ anfühlt und kann dieses Wissen zukünftig in sein eigenes Training einbauen.

Die Großmeister-Tutorials mit dem Oberhaupt des Leung Ting-WingTsun-Stiles werden das WT-Wissen und -Können unter den Schülern der EWTO immens erweitern und vertiefen, sie werden aber auch durch das entsprechende Feedback positive, zukunftsweisende Impulse auf die Entwicklung des Systems selbst geben.

Text: Markus Senft

Fotos: EWTO