Die Gasse
Einige Male musste ich erleben, dass ich – obwohl ich doch das „Kämpfen“ fleissig übte – in Kampfsituationen „auf der Straße“ nicht so recht wusste, wie ich mich am besten verhalten sollte. Mehr durch Zufall und Glück kam ich aber immer heil davon. Doch diese Unsicherheit gab mir zu denken. Konnte man sich nicht ganz speziell auch auf diesen Ausnahmezustand vorbereiten. Ein Freund empfahl mir dann das Buch „BlitzDefence“ von GM Kernspecht, in dem ich zum ersten Mal genau das Thema abgehandelt fand, das mich so sehr beschäftigte. Klar, dass ich natürlich auch gleich praktisch das BlitzDefence-Programm üben wollte. Wie es scheint, fing ich genau zum richtigen Zeitpunkt mit dem Training an, denn vor kurzem ist mir folgendes passiert:
Ich besuchte meine Freundin Sandra übers Wochenende, die momentan in X. studiert. Samstagnacht waren wir zum Tanzen in einem Club und hatten auch einen sehr schönen Abend. Ich kam irgendwann von der Bar zurück, hatte gerade neue Getränke für uns geholt, als Sandra sich über einen Typen beschwerte: „Oh, Mann! Der Typ dahinten glotzt mich schon die ganze Zeit an. Gut, dass du wieder da bist!“. Ich schaute mich kurz um, das einzige was ich beobachten konnte, war halt son Typ, der sich gerade wegdrehte und dann mit seinen Kumpels weiter unterhielt. Ich wollte mir ihn und seine Kollegen eigentlich nur etwas genauer anschauen, als ich auch schon Zentrum ihrer musternden Blicke wurde. Ich reagierte aber umgehend, und musste sofort an den Blitzdefence-Unterricht denken: „Ihr schaut denjenigen einen Augenblick zu lange an und schon fühlt dieser sich verunsichert oder provoziert!“, hatte uns unser Si-Hing immer wieder erzählt.
Ich schnappte mir Sandra, wir wechselten sofort den Standort und ließen die Leute mit ihren Blicken alleine. Ich fand diese Situation auch nicht weiter bemerkenswert, da es öfter vorkommt, wenn ich mit Sandra in der Öffentlichkeit unterwegs bin, dass sie angestarrt wird. (Scheint bei vielen Männern wohl zwanghaft zu sein!). So war die Situation auf jeden Fall bestens gelöst worden, und ich setzte mich auch keinem weiteren potentiellen Konflikt und Risiko aus. An dem Abend hatte ich auf jeden Fall nicht gedacht, dass diese Situation Auslöser war, für das was uns nächsten Tag widerfahren sollte …
Am nächsten Tag waren wir in der Altstadt zum Bummeln unterwegs und genossen das schöne Wetter. Wir schlenderten gerade durch eine schmale Gasse, als wir am Ende dieser Gasse drei Typen wahrnahmen, die uns ziemlich zügig entgegen kamen. Wir bemerkten das kurz und gingen etwas zur Seite, um Platz zu machen, damit wir nicht zusammenstießen. Irgendetwas war auf einmal anders, plötzlich konnte ich den Typen, der mir am nächsten war, als den Typen erkennen, der gestern Abend noch meine Freundin mit Blicken belästigte und wegschaute, als ich ihn mir ansehen wollte. Wohl zum gleichen Moment erkannte er uns auch und wir beide hörten fast zeitgleich auf zu reden. Seine beiden Weggefährten hörten kurz darauf auch auf mit ihrer Unterhaltung, da wir uns amrempelten bzw. anrempeln mussten, da der Typ keinen Platz machen wollte. Und wie sollte es auch anders kommen?
„Ey! Kannst Du nicht aufpassen, du Fucker!?“, dröhnte es mir auch schon entgegen. Ich wusste gar nicht so recht, was ich antworten sollte (sofern das überhaupt ne ernst gemeinte Frage war?) und so schmiss ich ihm einfach ein: „Ja, ja bleib mal ruhig, du Spinner!“ an den Kopf. Jetzt war die Sache auch schon am Eskalieren, einer der anderen beiden baute sich neben mir auf. Der mich anrempelte, stieß mir mit einem: „Was ist willst du!?“ an meine rechte Schulter. Ich konnte förmlich spüren wie er immer mutiger wurde, als sich dann auch noch der dritte mit einem: „Was isn das fürn Kasper!?“ einschaltete.
Ich konnte jetzt auch nicht weiter an mich halten, ich musste einfach handeln. Ich setzte einen Schritt zurück und schlug dabei den Arm des Typen zur Seite und schrie: „Ist gut jetzt, lass mich zufrieden!!“, gleichzeitig schob ich Sandra ein Stück zurück. Als ich mich kurz umdrehen wollte, um nach Sandra zu schauen, klatschte es auch schon an meinem Kopf, der Typ neben mir griff mich an und drückte meinen Kopf an die Mauer hinter mir und schob mich ein gutes Stück an dieser entlang. Als ich mein Gleichgewicht wieder hatte, konnte ich mich irgendwie losreißen, und den Typen wegschleudern, dabei konnte ich ihm ein Tritt ins Knie und einen Schlag auf den unteren Rückenbereich verpassen. Glücklicherweise riss er beim Stürzen noch den dritten im Bunde ein Stück mit.
Ich konnte gerade noch so einer Faust ausweichen, die von der Seite angeschossen kam, ich kontrollierte kurz den Arm und konnte dem Angreifer ein Knie in den Unterleib rammen und ihn mit einem Ellenbogen zum Kopf niederstrecken. Nun kam auch noch der Dritte auf mich zugelaufen, er hob die Arme und holte gerade zum Schlag aus, da hatte ich ihm auch schon zwischen die Beine getreten, er schrie laut auf und kippte nach vorne über, und so ich zerrte ich ihn zu Boden. Der Typ in der Tarnhose gab winselnd komische Laute von sich und krümmte sich am Boden. Die anderen beiden lagen ziemlich bewegungsunfähig rum. Ich schaute mich schnell zu meiner Freundin um und wir waren uns ziemlich einig: „Nichts wie weg hier, bevor die wieder aufstehen.“ Wir liefen zum nächsten Taxistand und ließen uns sofort nach Hause bringen. Erst im Taxi merkte ich wie ich noch total unter Adrenalin stand und Sandra total aufgedreht und leicht zitternd neben mir saß. Es dauerte noch eine ganze Weile, bis wir von diesem Stress runterkamen. Ich war den ganzen Sonntag noch innerlich total unruhig, fühlte mich aber doch irgendwie ausgeglichen und freute mich, gut aus dieser unangenehmen Situation heraus gekommen zu sein. Bei der Auseinandersetzung selbst stand ich total unter Strom und war auch selber wie weggetreten. Sandra hat mir im Nachhinein gesagt, dass sie die ganze Zeit geschrien hat, ich habe aber kein Ton davon hörte (das wird wohl das Adrenalin gewesen sein).
Auf jeden Fall war ich heilfroh, dass ich schon einiges aus dem WingTsun bzw. Blitzdefence-Unterricht gelernt habe. Gerade die Rollenspiele, die wir immer sehr konsequent im Unterricht durchspielen, haben mich in dieser Auseinandersetzung handeln lassen. Ab einem gewissen Zeitpunkt war ich nicht mehr Opfer, sondern wurde automatisch zum Agierenden (Ich höre meinen Lehrer immer noch sagen: „Ihr müsst eurem Gegenüber das Ruder aus der Hand nehmen und selbst zu Agierenden werden – Vorwärtsverteidigen!“). Die kurzen und direkten Wege des WingTsun haben mich als Sieger aus dieser Schlägerei hervor gehen lassen. Ich habe mir dabei lediglich die Hand etwas verstaucht, das mag wohl aber von meinen vielen Jahren Kickbox-Training gekommen sein, bei denen wir immer mit großen Handschuhen und mit einer ganz anderen Schlagtechnik gearbeitet haben.
Auch wenn ich nicht alles beherzigen konnte, was uns im Unterricht beigebracht wird, bin ich doch erleichtert darüber, wie es gelaufen ist, da es auch anders hätte ausgehen können. Ich habe diesen ganzen Konflikt auch noch mal mit meinem Lehrer aufarbeiten können, und wir sind auch noch mal diverse Szenarien durchgegangen; was noch alles hätte passieren können, und wann und wie ich was anders hätte machen können.
Vielleicht hätte eine ehrlich gemeinte Entschuldigung für das unbeabsichtigte Anrempeln die Situation gar nicht erst eskalieren lassen.