Ein einschneidendes Erlebnis
Im Vorfeld als „Überlebensstrategien gegen Messerangriffe“ angekündigt, erwarteten viele eine Erweiterung oder Erneuerung der Selbstverteidigungsprogramme. Was Großmeister Kernspecht jedoch vermittelte, übertraf allerdings die meisten Erwartungen. Bewaffnet mit allerlei Stichwerkzeug betrat er stets bestens gelaunt die Gruppen und unterrichtete zunächst Teile seines ReakTsun-Programms. Doch nach kurzer Zeit bereits hielt er ein Messer in der Hand, um seine neue Übungsmethode zu zeigen.
Und dieser Punkt ist wichtig zu verstehen:
Es handelt sich um eine Übungsmethode zur Verbesserung der Tastfertigkeiten im ChiSao und damit letztlich im Kampf. Dass man durch den regelmäßigen Umgang mit Messern auch seine Überlebenschance im Ernstfall gegen einen mit einem Messer bewaffneten Gegner erhöht, ist eher ein Zusatznutzen. Allerdings auch einer, der nicht zu verachten ist. Doch die Übungsmethode steht im Vordergrund. Und wer sich plötzlich im ChiSao mit einem Messer konfrontiert sieht, wird sofort den rapide ansteigenden Aufmerksamkeitspegel bei sich selbst registrieren. Es stellt sich eine Wachsamkeit ein, die nicht mehr nachlassen will. Ein großer Vorteil im ChiSao. Haben im nächsten Schritt beide Partner ein Messer, führt dies zur sofortigen Aktivierung beider Hände. Während die eine Hand nachgibt, stößt die andere Hand mit dem Messer unweigerlich zu. Nur zu oft beobachten wir im ChiSao, dass diese gewünschte Gleichzeitigkeit nicht wirklich vorhanden ist. Bereits nach 15 Minuten Messer-ChiSao, und die Sache ohne Messer sieht gleich ganz anders aus.
Ein weiterer Effekt des Trainings mit der Waffe: Der Körper bewegt sich willig mit, da zu Recht die Angst besteht, vom Messer getroffen zu werden. Diesen Einsatz des ganzen Körpers propagiert GM Kernspecht schon lange. Das Messertraining führt hier zu sofortigen positiven Veränderungen. Habe ich nämlich erfahren, dass ich sehr viel besser auf den Druck und die Bewegungen meines Gegenüber reagieren kann, wenn ich nicht bloß meine Arme, sondern den ganzen Körper einsetze, dann werde ich diesen Vorteil immer nutzen wollen – egal, ob mein Gegenüber eine Waffe hat oder nicht.
Einen weiteren Effekt möchte ich noch als Folge des Trainings mit Messern aufführen: Hatte ich vorher Angst vor einem unbewaffneten Gegner und konnte mich überwinden, mit einem mit einem Messer Bewaffneten zu üben, verliert natürlich der Unbewaffnete seinen Schrecken. Derselbe Effekt tritt beim ReakTsun auf, wenn ich Tag ein und Tag aus gegen zwei oder mehr Gegner gleichzeitig kämpfe. Dann erscheint mir ein Einzelner als nicht mehr so gefährlich. Somit haben wir es bei den Übungen mit Messer mit einer Methode zu tun, die nicht nur die Aufmerksamkeit und die gleichzeitige Koordination schult, den Körper in Bewegung versetzt und den Reaktionszeitpunkt nach vorne verlegt, sondern auch mit einem gezielten Anti-Stress-Training.
Und bitte nicht verwechseln:
Es geht hier nicht darum, dass wir in Zukunft professionelle Messerstecher sein wollen, noch hat die Methode etwas mit unserem speziellen Doppelmesser-Training zu tun. Obwohl natürlich Doppelmesserkenntnisse mehr als hilfreich sind.
Text: Frank Aichlseder
Fotos: Markus Gensichen; hm