Der Waliser und die verhexte Uhr beim Internationalen Lehrgang 2010
In den frühen Morgenstunden des 21. Mai sattelten die kleinen Drei aus dem Tal ihr Auto und machten sich auf den Weg, um die großen Sieben in Hockenheim zu treffen. Während die Kilometer vorbeiflogen, stieg die Vorfreude und die Spannung: darüber alte Freunde wiederzusehen und darauf neue Leute kennen zu lernen.
Mir, Alun (48), gehen während der Fahrt Fragen durch den Kopf: Was kann ich von diesem Wochenende erwarten? Kann ich in meinem Alter überhaupt sechs Stunden Unterricht pro Tag, drei Tage lang schaffen?
Als wir abends in unserer Unterkunft ankommen, werden wir schon herzlich von unseren Freunden begrüßt und treffen gleich auf weitere angereiste WingTsunler, die im Laufe der Tage zu neuen Freunden werden sollten.
1. Lehrgangstag
Die Atmosphäre der Stadthalle von Hockenheim strahlte schon bis zum Stadtrand. Weil alles so gut ausgeschildert war, das Finden eines Parkplatzes kein Problem, erreichten wir am nächsten Morgen schnell unser Ziel.
Ein Meer von weiß, grau, rot, mit kleinen Sprenkeln von gelben T-Shirts dazwischen, und große Fahnen und Banner der EWTO, die im Winde wehten: Ein überwältigender Anblick! Wir sind angekommen!
Unsere Lehrgangsanmeldung geht schnell und reibungslos über die Bühne und wir orientieren uns erst einmal anhand des Lehrgangsprogramms, wo es losgehen soll.
Nach einer schönen Begrüßung durch Großmeister Kernspecht im großen Saal werden wir in die drei Graduierungsgruppen aufgeteilt, damit der Lehrgangsunterricht starten kann.
Ich komme zusammen mit meiner Frau Johanna in die Gruppe 1, in der alle WT-Schüler bis zum 11. Schülergrad trainieren werden. Unser erster Unterricht ist in der Mehrzweckhalle im Untergeschoss mit vier hochgraduierten Meistern. Der Lehrgang soll 1½ Stunden dauern. Obwohl die Zeiger der Uhr an der Wand tatsächlich von 9.00 Uhr bis 10.30 Uhr wandern, sind es nur gefühlte 15 Minuten bis die Zeit vergangen zu sein scheint.
Es bringt super Spaß mit Leuten von anderen Schulen zu trainieren und selbstverständlich ist es echt cool, von Meister Giuseppe Schembri (8. PG), Meister Oliver König, Meister Andreas Groß und Meister Thomas Schrön, alle 7. PG, unsere Techniken gezeigt und verbessert zu bekommen. Aber leider ist es wahnsinnig schnell schon wieder vorbei.
Das blieb das ganze Wochenende so: Gerade dachte man, es hat angefangen, da war es schon wieder vorbei.
In der halben Stunde Pause, die wir draußen im Sonnenschein genießen können, habe ich die Gelegenheit, Master Bill kennen zu lernen.
Weil ich ihn nur auf Deutsch reden höre, bin ich mir zunächst nicht sicher, ob er Engländer oder Amerikaner ist. Da ich selbst von der britischen Insel stamme, bin ich natürlich neugierig und glücklicherweise ergibt es sich, dass ich den Großmeister des Escrima danach fragen kann. „English“, antwortet der Großmeister mit einem sehr angenehmen südostenglischen Akzent. Er will wissen, woher ich komme: „Ich komme aus Wales.“ „God help us all! The Welsh are here!” ruft er mit einem riesigen Lächeln, während er sich umdreht und weggeht. Ich weiß jetzt, dass das Offlining mit ihm heute Nachmittag lustig werden wird.
Aber jetzt muss ich erst einmal nach unten, um meine ersten Erfahrungen mit ChiKung zu machen. Ich erwarte so etwas Ähnliches wie traditionelles TaiChi.
Das ist jedoch nicht der Fall. Aber ich genieße den Unterricht und es sind ganz entspannende 1½ Stunden mit dem Themenschwerpunkt „Beweglichkeit“. Das ChiKung-Team ist echt gut drauf und sorgt für eine sehr angenehme Atmosphäre.
Dann kam die Mittagspause. Das Büfett war super ausgelegt mit vielen unterschiedlichen Angeboten.
Na ja, nicht meine Tasse Tee. Ich liebe mein Steak mit Kartoffeln. Aber alle anderen griffen mit großer Begeisterung am mittäglichen Buffet zu.
Ich kann mich nicht wirklich auf meinen Mittagsgenuss konzentrieren, weil ich weiß, dass ich am Nachmittag Unterricht bei Großmeister Bill und anschließend Großmeister Kernspecht haben werde. Ich bin aufgeregt wie ein Schuljunge vor seinem ersten Schultag.
Als Erstes auf meinem Nachmittagsmenü steht: „Offlining“ bei Master Bill. Nach dieser Einheit bin ich mir sicher, dass die Uhr spinnt. Ich glaube heute noch nicht, dass es mehr als fünf Minuten waren. Das Training ist sehr intensiv und ich lerne viel in der scheinbar so kurzen Zeit über Aufmerksamkeit, Gleichgewicht und Beweglichkeit im Escrima.
Dass ich als schon nicht mehr ganz so junger Mann schwächeln könnte, habe ich längst vergessen. Die Devise lautet stattdessen: „Give me more!!!“
Mit einem traurigen Herzen gehe ich noch einmal in die Pause, aber ich beruhige mich wieder, weil ich weiß, dass ich morgen wieder eine Unterrichtseinheit mit Master Bill und seinem Team habe.
Als Dessert nach der Pause ist Unterricht bei Großmeister Kernspecht. Er beginnt ihn über Messerabwehr in englischer und auch in deutscher Sprache, damit alle Studenten ihn verstehen können. Obwohl es ein ernsthaftes Thema ist, demonstriert GM Kernspecht alles hervorragend und deutlich und mit viel Humor, so dass alle in der Halle es vollkommen verstehen, was sie üben sollen und sie genießen die Art, wie er die Übungen erläutert.
Jetzt muss ich mit meinem neuen Gummimesser meine Frau Johanna– nach 18 Jahren – zum ersten Mal attackieren. Aber keine Chance! Auf meinen Angriff mit dem in der Realität so gefährlichen Werkzeug reagiert sie nach den Anweisungen von GM Kernspecht mit: „StopSao (PakSao), GrabSao (LapSao), WhackSao (Fauststoß) und Geh-aus-dem-Weg-Sao“. Und weil meine Frau schnell und sehr lernfähig ist, haut sie mir einfach eins ins Genick und lächelt dazu.
Was? Das war’s schon? Der erste Tag soll tatsächlich vorbei sein? Zum letzten Mal für heute werfe ich einen misstrauischen Blick auf die Uhr in der Mehrzweckhalle. Die Zeiger sind angeblich wirklich wieder 90 Minuten weitergewandert.
Aber einen Vorteil hatte es dennoch, dass die Zeit so rasend vergangen war: mein Steak war jetzt zum Greifen nah!
Früh morgens hatte ich meine Aufmerksamkeit genutzt, um einen Gasthof zu lokalisieren, wo es Steak und gutes bayrisches Bier gibt. Bald konnte ich beides zusammen mit meiner Frau und meinem SiHing genießen. Da wir alle drei einen anderen Blickwinkel auf die Erlebnisse des Tages hatten, tauschten wir unsere unterschiedlichen Erfahrungen aus und stellten fest, dass wir uns beim Gelernten gut ergänzen. Es war ein toller erster Lehrgangstag!
Müde, aber auch ein bisschen aufgeregt und mächtig positiv motiviert fielen wir ins Bett, um einigermaßen ausgeruht in den zweiten Tag starten und möglichst viel Wissen mit nach Hause nehmen zu können.
2. Lehrgangstag
Am nächsten Morgen gab es nach einem guten (teils englischen) Frühstück kein Halten mehr: Start in den zweiten Lehrgangstag!
Unserer Lehrgangsbroschüre ist zu entnehmen: WingTsun-Unterricht bei den vier Meistern. „Oh nein! Jetzt habe ich echt etwas vermasselt“, schießt es mir durch den Kopf, „dabei habe ich mich doch eigentlich gut auf die ChamKiu vorbereitet.“ Aber für mehrere Sekunden auf einem Bein bei der ChamKiu zu stehen, war bislang nicht ganz mein Übungsschwerpunkt. Ich stand also gefühlte Stunden auf einem Bein und schwankte wie ein Halm im Wind. Okay, zugegeben, es sind nur wenige Sekunden, aber in diesem Moment ist mein Selbstvertrauen erst einmal weg. Und schon wackle ich noch mehr. Ein heimlicher Blick in die Runde zeigt mir, dass ich nicht der einzige bin. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich meine Prüfung auf den dritten Schülergrad nie bestehen werde.
In der ersten Pause nach dieser Unterrichtseinheit suche ich meinen SiHing, der in der zweiten Gruppe trainiert, auf, um ihn zu fragen, ob er mit mir noch einmal die ChamKiu üben kann. Ich bin so verunsichert.
Mein SiHing lässt mich zwei Mal die ChamKiu machen und stellt fest, dass ich einfach viel zu nervös bin. „Entspann‘ Dich! Genieß‘ den Lehrgang und denk‘ nicht an die Prüfung!“, ist sein gut gemeinter Rat, der mich zu dem Zeitpunkt dennoch nur geringfügig beruhigt.
Nach meiner kleinen persönlichen Katastrophe muss ich trotzdem lachen, als als Nächstes auf dem Plan ChiKung mit dem Thema „Einheit des Gesamtkörpers“ steht und ich mich erneut auf nur einem Bein wiederfinde.
Komisch, heute geht meine Uhr an der Wand deutlich langsamer als gestern, aber meine Balance verbessert sich nach und nach.
Nach der Mittagspause ist wieder eine Lehrgangseinheit mit GM Kernspecht. Der Schwerpunkt ist dieses Mal Balance gegen Schubsen. Es ist ganz komisch: Dieser Lehrgang soll auch wieder 1½ Stunden dauern. Ich bin so beschäftigt, alles aufzunehmen, was mein SiFu erzählt und erklärt. Kann ich das alles in Erinnerung behalten?
Großmeister Kernspecht kommt durch die Reihen und trainiert mit jedem. Als ich an der Reihe bin, veranlasst mich drei Mal ein gut getimter großmeisterlicher Schubser mühelos zu einer Landung auf dem Po. Als ich mich gerade wieder erhebe, ist der Unterricht doch schon wieder vorbei. Schade! Jetzt reicht es mir wirklich mit der Uhr!
Es tröstet mich, dass ich nach der Pause noch einmal Escrima mit Master Bill machen darf. Dieses Mal findet der Unterricht draußen bei herrlichem Sonnenschein statt – ohne die verzauberte Uhr an der Wand.
Heute bin ich in der Gruppe, die von Escrima-Meister Thomas Dietrich betreut wird. Ich mag ihn, seine Art zu unterrichten und seinen Humor sofort. Ich erzähle ihm deshalb auch, dass ich gestern nicht erfolgreich war, meine Frau mit dem Messer zu treffen. „Darf ich es heute mit meinem Stock versuchen?“
„Um Himmels willen! Bloß nicht! So etwas wird hier nicht gemacht. Du kennst das Gesetz: Wir trainieren miteinander, nicht gegeneinander!“
Meine Frau verfolgt den Dialog. Meister Dietrich entfernt sich zwei Schritte und kommt dann zurück. Er flüstert schmunzelnd in mein Ohr: „Wenn du es kannst. Aber ich habe das nicht gesagt!“ Auch das entgeht meiner Frau nicht.
Was mit der Uhr passierte, daran erinnere ich mich nicht mehr. Ich weiß nur, das letzte Ding, was durch meinen Kopf gegangen ist, war der Stock von meiner Frau … und dass der Lehrgangstag vorbei ist!
Nach einem kurzen Blackout finde ich mich frisch umgezogen im Party-Outfit auf der Abendveranstaltung wieder. Bei der Ankunft werden wir persönlich von den Meistern mit Handschlag begrüßt. Das finde ich eine sehr nette Geste der Wertschätzung und der Verbundenheit.
Der Abend ist klasse. Zuerst die Escrima-Demonstration: Das Demo-Team hat eine tolle Choreografie einstudiert, die zeigt, dass Escrima durchaus alltagstauglich sein kann.
Anschließend wird das Büfett eröffnet: wie für Kaiser mit einer beeindruckenden Vielfalt. Die überlasse ich gerne den anderen. Ich bin mit den angebotenen Steaks mehr als zufrieden.
Danach rockt es ordentlich! Zuerst eine Schweizer Band, die „Zibblings“, wie ich mir sagen lasse. Die schaffen es tatsächlich, dass ich auf die Tanzfläche gehe.
Ich hätte die ganze Nacht durchfeiern können, aber ich weiß, dass wir morgen weiter trainieren werden und deswegen verlassen wir drei vom Tal die Feier schon kurz nach Mitternacht.
Ich habe mir erzählen lassen, dass noch zwei weitere Bands auftraten und für Stimmung bis in die frühen Morgenstunden sorgten.
3. Lehrgangstag
Mit ein bisschen Nebel im Kopf erschienen wir am nächsten Morgen wieder in Hockenheim.
In der ersten Lehrgangseinheit dieses Tages übten wir Kampf und Abwehr mit Rollenspiel. Da musste man voll auf Empfang sein, was durch die läutenden Kirchglocken zum Teil erheblich erschwert wurde.
Auch der Rest des dritten Tages war ebenso inspirierend wie die Tage davor: ChiKung mit der Staffel der Sinne, Geschmeidigkeit inklusive Katapult bei GM Kernspecht und einer für dieses Mal letzten Gelegenheit eines Escrima-Unterrichts.
Um 16 Uhr startete die Abschiedszusammenkunft mit Urkundenverleihung.
Irgendwie wusste ich, dass meine Frau ihre Prüfung bestanden hatte und genoss mit riesigem Stolz ihr strahlendes Lächeln, als sie ihre Urkunde entgegennahm. Das allein schon machte mich glücklich.
Aber hallo! Das ist ja mein Name, der da gerade aufgerufen wird. Das habe ich nach meiner Wackelpartie – trotz der ansonsten unbeanstandeten Prüfungen – nicht erwartet: Ich habe meine Prüfung auch bestanden. Da lacht das Herz!
Mir schießt noch eine Idee durch den Kopf: Die Uhr aus der Mehrzweckhalle könnte ich doch bis zum nächsten Jahr eigentlich ausleihen. Ich hänge sie an meine Bürowand, so dass meine Arbeitszeit zu Hause ebenfalls so schnell vergeht, wie die Stunden des Lehrgangs in Hockenheim.
Abschließende Überlegungen zum Lehrgang
Ich hatte nicht gewusst, was an diesem Wochenende auf mich zukommt. Ich war unsicher, ob ich fit genug sein würde, die Tage komplett durchzuhalten. Es hat bestens geklappt.
Ich habe viel mitgenommen vom gesamten Lehrgang und bin jetzt topfit und voller Power und Motivation. Es war eine fantastische Zeit. Eine Erfahrung, die mich bis zum Internationalen Lehrgang im nächsten Jahr begleiten und tragen wird!
Einen großen Dank an GM Kernspecht, GM Bill und ihre Meisterteams und an alle, die dieses Wochenende ermöglichten.
Text: Alun Graham
Fotos, soweit nicht anders erwähnt: Markus Gensichen/Jiri Schwertner
PS: Das Einzige, was ich nicht mitgenommen habe, ist die Uhr. Ich habe mir gedacht, dass ich sie nächstes Jahr brauche, wenn ich wieder nach Hockenheim komme. Hoffentlich tickt meine Uhr zuverlässig, bis wir uns wiedersehen.