Editorial

Was ich mit meinem neuen Buch bezwecke – Teil 1

Um zu verdeutlichen, worum es mir in meinem neuen Buch „Unbesiegbar mit nur 4 Automatismen – warum weniger mehr und das Weg das Ziel ist“ geht, möchte ich die nächsten Editorials nutzen.
In der Tat gliedert sich jedes Werk, das eine Theorie aufstellen will, in zwei Teile: Der erste ist der Zerstörung schon bestehender Theorien gewidmet oder besser der Kritik des gegenwärtigen Zustands. Dem zweiten Teil hingegen fällt die schwierige Aufgabe zu, die Dinge auf einer neuen Basis wieder aufzubauen.
Italo Svevo: „La novella del buon vecchio e della bella fianculla.“

In dem neuen Buch geht es mir nicht darum, detailliert das chinesische WingTsun zu beschreiben. Das wurde von mir und anderen Autoren schon in mehr als 120 Büchern geleistet.
Stattdessen möchte ich mein WT als geeignetes Mittel zur praktischen Selbstverteidigung vorstellen und (vor allem) ein wenig beachtetes soziales Problem lösen: Das Problem, wie man(n) sich vor den Gefahren eines entarteten Ritualkampfes oder Territorialkampfes innerhalb der Gruppe der männlichen Mitglieder der Spezies Mensch optimal schützen kann.

Der „menschliche Affe“ oder der „dritte Schimpanse“, wie ihn Biologen oft nennen, verteidigt – ähnlich wie seine tierischen Verwandten – sein „Territorium“. Das umfasst nicht nur seinen Platz in der Kneipe, seinen Bürotisch und sein Ehebett, sondern auch seine Position in der Gesellschaft, sein Ego oder sein Bild von sich selbst.
Dieser Kampf, im Englischen nennt man ihn bezeichnenderweise „Affentanz“ (Monkey-dance), ist – ähnlich dem Kampf zwischen anderen Exemplaren einer Spezies – nicht wirklich ein Kampf, sondern eine Art Konfliktmanagement der Natur, eine Show, um den Status quo zu bewahren und Leben (oder Gene) zu erhalten.
Der Konkurrent, das andere männliche Exemplar, soll aus dem Territorium durch Androhung von Gewalt vertrieben werden. Die Tiere kämpfen deshalb mit „behandschuhter Faust“: Giftschlangen verlegen sich aufs Ringen, Bären schubsen den Nebenbuhler aus ihrem Gebiet. Der gedemütigte Verlierer trollt sich und darf woanders weiterleben.

Der (entartete) Ritualkampf beim Mann verläuft seit ca. 30 Jahren bei uns in 5 Phasen:

1.    Blick
2.    Stimme
3.    a. Mit dem Finger auf den anderen zeigen
       b. Schubsen
4.    Wilder Schwinger (Heumacher) mit der dominanten Hand von oben nach unten zum Kopf
5.    Oft tödliche Tritte zum Kopf des Zu-Boden-Gefallenen

Wer seine Schüler darauf vorbereiten will, muss sie mit diesen fünf Eskalationsphasen und mit dem Effekt der Stresshormone vertraut machen. Diese Hormone werden im Englischen „Flight or Fight“-Hormone (Flucht- oder Kampf-Hormone) genannt, wobei es noch eine dritte adrenale Hormonwirkung gibt, die viel gefährlicher ist: das Gelähmtsein und die Unfähigkeit, sich zur Wehr zu setzen (engl. denial).
Fast alle Kämpfer berichten von Stresseffekten wie: trockener Mund, feuchte Hände, beschleunigter Herzschlag, Hyperventilation und Muskelzittern. Diese Symptome sind durchaus normal und der Kämpfer darf sie nicht als Zeichen dafür werten, dass er ein Feigling ist. Dennoch müssen sie dem Kämpfer als Hinweis dienen, dass er sich möglicherweise nicht mehr innerhalb seiner optimalen Herzschlagrate befindet.
Sobald diese 175 bis 200 Schläge pro Minute überschreitet, sollen nach (durchaus umstrittener) Ansicht namhafter amerikanischer Forscher

a.    feinmotorische und komplexe Bewegungen und peripheres Sehen schwerlich möglich sein und
b.    Entscheidungen zwischen mehreren Optionen lebensgefährlich viel Zeit erfordern.

Nur solche Methoden sind deshalb zur Selbstverteidigung geeignet, die im Kampf geringe Ansprüche an Feinmotorik und Hand/Augenkoordination stellen, und dem Kämpfer Entscheidungen ersparen.
Am besten werden diese beiden Probleme von Methoden gelöst, die wie unser WT taktil-kinästhetisch reagieren und sich Entscheidungen vom Tastsinn abnehmen lassen.

Obwohl die meisten Kampfsportarten damit werben, als Mittel zur Selbstverteidigung zu taugen, gehen sie auf die Bedürfnisse des Ritualkampfes und auf das richtige Verhalten in den fünf Phasen überhaupt nicht ein:

Was kaum irgendwo geübt wird:

1.    Es wird nicht geübt, wie man mittels Atemtechnik und Visualisierung den Herzschlag senkt.
2.    Es wird nicht geübt, ob, wie und wie lange man den Blick des anderen erwidern kann oder muss.
3.    Es wird nicht geübt, was man auf die Frage „Was guckst du so? Suchst du Streit?“ entgegnet.
4.    Man übt nicht das richtige Verhalten gegen das Zeigen mit dem Finger bzw. das ein- oder zweiarmige
       Wegschubsen.
5.    Kaum ein Kampfstil kann einen wilden Schwinger aus der Nähe abwehren.
6.    Und welcher Selbstverteidigungsstil lehrt den Schüler, wie man tödliche Kopftritte usw. überlebt, wenn
       man zu Boden gefallen ist?

Im nächsten Monat werde ich weitere Versäumnisse aufzeigen, um die Notwendigkeit zu verdeutlichen, weshalb man manchmal erst einmal „zerstören“ muss, bevor man etwas Neues aufbauen kann.

Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht