Editorial

Klingonen verdreschen

Es ist mir eine besondere Freude, Euch das neue Buch meines Schülers Thomas Glavinic vorstellen zu dürfen. Vielen, die gern Romane lesen, dürfte Thomas als einer der namhaften deutschsprachigen Schriftsteller bekannt sein. Die meisten WT-ler kennen ihn aus der Jubiläumsausgabe der WT-Welt Nr. 40, in der er ein großes Interview mit mir führte.

Thomas ist nicht nur ein begnadeter Schreiber, er trainiert auch seit vielen Jahren begeistert WingTsun an der EWTO-Akademie Wien. Kein Wunder also, dass er sich in seinem jüngsten Werk des Themas der Selbstverteidigung angenommen hat. Exklusiv in der WT-Welt online veröffentlichen wir einen Ausschnitt aus seinem Buch „Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung“. 

Ich kann es jedem empfehlen, der an realistischer Selbstverteidigung interessiert ist. Nicht nur weil Thomas darin die Vorzüge unser WingTsun für die Selbstverteidigung beschreibt, sondern weil ich noch kein vergleichbares Buch zu diesem Thema gelesen habe.

Euer SiGung/SiFu
Keith R. Kernspecht
 

Hier nun der Vorabdruck aus dem am 01. September 2017 veröffentlichten Buch „Gebrauchsanweisung zur Selbstverteidigung“ des Autors Thomas Glavinic mit freundlicher Genehmigung des Verlages. Das Buch ist erscheint im Piper-Verlag, umfasst 224 Seiten und kostet 15 €. EWTO-Mitglieder können es auch im EWTO-Onlineshop bestellen.
Nun viel Spaß bei der Lektüre. Das Wort hat der Autor:

„… WingTsun gefiel mir so gut, dass ich ein- bis zwei- und gelegentlich dreimal* die Woche trainierte, was bei jemandem, der sein Leben ohne Zögern gegen das in einer Hängematte an einem karibischen Strand eintauschen würde, viel über seine Begeisterung aussagt.
*  Dreimal die Woche aber nur, als ich Liebeskummer hatte.

Am Anfang war ich sicher, ich würde das Siu-nim-tao, die »kleine Idee«, nie kapieren. Den Katas im Karate ähnlich, stellen seine acht Sätze eine einzelne Abfolge von Techniken dar, mit denen dem Schüler die Grundbewegungen des Wing Tsun beigebracht werden. Aber es dauerte gar nicht lange, und ich konnte sie meinem Trainer ohne große Fehler präsentieren. Viel Spaß machte mir natürlich das Schlagtraining, und noch mehr gefiel es mir, die mannigfaltigen Möglichkeiten zu lernen, einer Umklammerung durch einen Stärkeren zu entkommen.

Meine Probleme mit dem Gruppenunterricht bestanden darin, dass ich mit sehr unterschiedlichen Menschen trainierte, zu denen ich erst ein Verhältnis aufbauen musste, und dass wir unseren Meister nur alle paar Minuten zu Gesicht bekamen, weil er durch den Saal ging und mal hier, mal da einem trainierenden Paar Anweisungen gab. Das führte zu einigem Leerlauf, bis wir wieder fragen konnten, ob wir eine Übung richtig ausführten.

Mit einem anderen Schüler ein vorübergehendes Trainingspaar zu bilden gefiel mir nicht. Wem man zugeteilt wurde, entschied der Zufall in Form des Meisters spontaner Eingebung. An einem Tag bekam ich es mit einem alten Herrn zu tun, der jede Übung falsch machte und für Verbesserungsvorschläge taub war, am nächsten Tag war mein Partner ein Mann, der ununterbrochen über Frauen und Kinofilme redete, und der Schlimmste war ein junger Malerlehrling, der es nicht schaffte, seine Schläge kurz vor dem Kontakt mit dem Trainingspartner zu stoppen, egal, wie oft man ihn bat, das zu lassen. Ich hatte ihn im Verdacht, dass er absichtlich zuschlug, und eines Tages, nachdem er mich beim gemeinsamen Üben viermal getroffen hatte, beließ ich es bei einem Schlag gegen seine kurzen Rippen auch nicht mehr bei der Andeutung. Darauf war er tödlich beleidigt.

Aber nach all dem Lamento über meine sozialen Adaptionsdebakel habe ich für Sie eine gute Nachricht: Sie sind nicht ich. Es ist nur mein Leben, durch das sich eine endlose Reihe gescheiterter Versuche von Anpassung und Geschmeidigkeit zieht, und selbst wenn Sie ähnliche Probleme kennen, sollten diese weniger gravierend sein. Zumindest wünsche ich Ihnen das.

Weil ich nun einmal sozial nicht besonders kompetent bin, wechselte ich zu meinem SiFu Matthias Gold, bei dem ich nun seit zwei Jahren Einzelstunden nehme, in denen er meinen geistigen und körperlichen Handicaps einschließlich der unleugbaren Tatsache, dass meine Beinarbeit nur unwesentlich besser ist als die eines Hydranten, mit viel Humor, Geduld und Sanftmut begegnet.

Gehen wir davon aus, dass Sie wie die meisten Menschen in der sozialen Situation funktionieren oder sogar aufblühen, also versuchen Sie es mit Gruppentraining, das ist weniger kostenintensiv, und Sie lernen nette Leute kennen.

Wenn Sie wie ich eher ein Sonderling sind, rate ich Ihnen zu einem Privattrainer. Die Kosten für den Einzelunterricht sind natürlich höher als die Monatsbeiträge für das Gruppentraining. Das klingt erst mal nach einem ziemlich teuren Hobby. Setzt man diesen Zahlen jedoch entgegen, dass die Trainingszeit mit einem überdurchschnittlichen Pädagogen, nach der man sich gegen die meisten Testosteronbomben durchsetzen kann, 25 bis 30 Einheiten beträgt, erscheint die investierte Summe nicht mehr so hoch. Natürlich kommen auch individuelle Voraussetzungen wie Ehrgeiz, Alter, Bewegungstalent und so weiter zum Tragen, aber mit einer einzigen intensiven Trainingsstunde in der Woche kann man bereits nach einem halben Jahr street-fit sein.

Das kann man nicht von allen Selbstverteidigungssystemen behaupten, ist aber auch nicht das Ziel von altehrwürdigen Disziplinen wie Karate und Judo. Um Einseitigkeit zu vermeiden: Mit Krav Maga und BlitzDefence geht es ähnlich schnell.

Mein SiFu, der Wiener Matthias Gold, ist so ein überdurchschnittlicher Pädagoge. Er ist Meister des sechsten Höheren Grades, was bedeutet, er hat die Kampfkraft eines Außerirdischen.* Sein SiFu und somit mein SiGung, Großmeister Kernspecht, ist sogar einer von zwei Menschen auf diesem Planeten, die den zehnten Höheren Grad tragen.**

Beiden möchte ich an dieser Stelle danken. Dass ich Todai*** der beiden sein darf, hat meinen Zugang zur Selbstverteidigung, aber auch zu mir selbst und zu dem, was ich zu leisten vermag, von Grund auf verändert und sogar meine lebenslange Abneigung gegen Hierarchien relativiert. Ein Schüler ist ein Schüler, ein Meister ist ein Meister. Ein Meister hat viele Jahre harter Arbeit hinter sich und verdient den Respekt und die Dankbarkeit seiner Schüler. Das gilt nicht nur für Kampfkunst, es gilt für alle Gebiete, auf denen jemand das Geschenk des Wissens bekommt.
*     Was bedeutet, er würde sogar einen Klingonen verdreschen.
**   Was bedeutet, er würde sogar drei Klingonen verdreschen.

*** Todai: chinesisch für Schüler.

Ob wir für eine Unterrichtseinheit bezahlen oder nicht: Etwas gelehrt zu bekommen, ist ein Geschenk. Wir alle bedanken uns zu selten bei anderen. Wir nehmen und nehmen. Und wir nehmen alles für selbstverständlich, nur weil wir dafür etwas Ordinäres wie Geld zurückgeben.

Dabei ist Geld nichts. Geld hat nicht den geringsten inneren Wert. Geld hat unsere Welt schlechter gemacht und buchstäblich Milliarden Menschen ins Unglück gestürzt. Deshalb sollten wir allen Menschen, die ihr Wissen und ihr Können mit uns teilen, dankbar sein, ob es Karatemeister sind, große Musiker oder Universitätsprofessoren. Und wir müssen es ihnen sagen, oft und öfter, denn sie haben es sich verdient.

Kernspecht gründete in den Siebzigerjahren die EWTO (European WingTsun Organisation) und war damit so erfolgreich, dass er von verschiedenen, zum Teil dubiosen Seiten angefeindet wird. Die Kampfkunstszene ist klein, viele wollen partizipieren, und so schießen allerorts neue Schulen aus dem Boden, die von Menschen geleitet werden, die weder den Ausbildungsstand noch den passenden Charakter haben, um Schüler in diesem gefährlichen System auszubilden.

Das Gesagte soll keine Schleichwerbung sein. Es gibt nicht nur die EWTO, sondern auch andere seriöse Anbieter in diesem Bereich, so wie WingTsun natürlich nicht das einzige Selbstverteidigungssystem ist, das Erfolg verspricht.

Ich trainiere mit meinem SiFu einmal die Woche. Aufwärm- und Kraftübungen beanspruchen nicht wie andernorts die halbe Zeit der Unterrichtseinheit, weil man bei uns der Meinung ist, Muskeln könnte jeder zu Hause oder im Studio aufbauen, und die Zeit in der Trainingshalle sollte für das Lernen der Technik genützt werden.

Natürlich kommt man gewaltig ins Schwitzen, aber man kann es überleben. Normalerweise werden Intensität und Dauer des Aufwärmens an den Schüler angepasst, denn jemand, der nach hundert Liegestützen und dreißig Minuten Hindernislauf durch den Saal japsend am Boden liegt, wird nicht mehr viel Information aufnehmen können.

Unser Training umfasst Schlagtechnik, Angriffsvarianten, unterschiedliche Methoden,  atürlich auch Anweisungen, wo man einen Gegner am besten treffen sollte. Es gibt nämlich Stellen, an denen man den Gegner besser nicht treffen sollte. Keiner von uns will ein Menschenleben auf dem Gewissen haben, und ich hoffe – und bin da auch ganz zuversichtlich –, Sie werden niemals dazu gezwungen sein, mit jemandem auf Leben und Tod zu kämpfen. Aber wenn Sie vor der Wahl stehen, er oder ich – nun, diese Angelegenheit haben wir bereits mit der gebotenen Diskretion besprochen.

Merke: Der Glaube kann noch höhere Berge versetzen als der Wille.

Manche Menschen sind überzeugt, sie würden nach einem intensiven Lehrjahr bei einem Meister der waffenlosen Selbstverteidigung jeden Zusammenstoß mit einem aggressiven Lianenschwinger gewinnen, auch wenn dieser Troglodyt seinen Muskeln nach zu schließen jede Suppe weggeschlabbert hat, die ihm seine Mutter in seiner Kindheit kredenzt hat. Manche Meister sind der Ansicht, mit dieser Einstellung fordere man das Schicksal heraus, denn von übertriebener Selbstgewissheit bis zur Unachtsamkeit ist es nicht weit.

Auch das Freeze-Phänomen sollte man nicht außer Acht lassen. Die Zahl der Turnhallenchamps, die Auge in Auge mit einem Radaubruder am Kebab-Stand erstarrt sind oder von einem Moment auf den anderen alles vergessen hatten, was sie an Verteidigungskünsten über Jahre hinweg gelernt hatten, ist nicht gering.

Andere meinen, Selbstgewissheit erhöht sogar die Erfolgschancen im Ernstfall, jedenfalls solange sie nicht an der Schwelle zum Größenwahn kratzt. Wer zusätzlich zu seinem praktisch abrufbaren Können auch Zutrauen in sich selbst hat, wird den Streit zwischen zwei Männern und einem in die Ecke gedrängten Jugendlichen mit höherer Wahrscheinlichkeit zugunsten des Opfers regeln können.

Im Allgemeinen verhält es sich so, dass regelmäßiges Training in waffenloser Selbstverteidigung dem Auftreten eines Menschen jene gewisse Nachdrücklichkeit verleiht, die benötigt wird, um Missverständnisse rechtzeitig zu klären. Rechtzeitig bedeutet: innerhalb der Zeitspanne, in der miteinander noch Worte gewechselt werden und in der es den Wüterichen vor Ihnen noch gelingt, die seltsamen abstrakten Bewegungsmuster in ihrem Kopf als Gedanken zu interpretieren.

Missverständnis ist der behübschende Ausdruck für jene Art von Dissens, bei dessen Klärung verletzter Stolz eine dominantere Rolle spielt als der Verstand. So weit sollte man es nicht kommen lassen. Das Selbstbewusstsein, das Sie sich im Training angeeignet haben, sollten Sie in ernsthaften Konfliktsituationen zum Ausdruck bringen, ohne den anderen zu reizen oder herauszufordern. Auf diese Weise können Sie womöglich einen Streit beilegen, ehe eine Eskalation nicht mehr zu verhindern ist.

…“