Wiedersehen in Essen oder WingTsun – trotz Parkinson
Ich – Richard Hecks, 8. Schülergrad, 65 Jahre – gehöre zur alten Garde der WingTsun-Schüler: war 1976 auf einem der ersten Lehrgänge in Kiel, als ein fortgeschrittener Schüler wegen der großen Teilnehmerzahl auf der Fensterbank stand und die ersten Sätze der SiuNimTau vorführte und Sifu Kernspecht – der, worauf ich sehr stolz bin, auch mein SiFu ist – durch die Reihen ging und die Handhaltung um wenige Zentimeter korrigierte.
In den Anfängen
In den 1980er Jahren erlebte ich auf Schloss Langenzell noch wie DaiSifu Leung Ting und mein SiFu mit kleinen Fingerpuppen an den Händen gegeneinander „kämpften“. In einer Zeit, wo es verpönt war, auf andere Lehrgänge zu gehen, war ich auf einem Lehrgang bei Dan Inosanto, Schüler von Bruce Lee, in Speyer.
Und hatte das wahnsinnige „Glück“, auf dem Bild im Bericht der Zeitschrift Budo International deutlich sichtbar zu sein, was bei meinem SiFu damals bei meinem nächsten Lehrgang mit ihm zu einer „begeisterten“ Reaktion führte.
Damals in den 1980er Jahren trainierte ich bei meinem SiHing Andreas Tomczak in Essen bis zum 7. Schülergrad und ich kann mit Recht sagen, dass ich alles, was ich im WingTsun kann, bei ihm gelernt habe. Ich wohne in Bocholt und bin immer zum Unterricht nach Essen gefahren.
Später zusammen mit meinem Sohn Christian, damals noch ein Kind. Aufgrund meiner beruflichen Inanspruchnahme als Steuerberater habe ich dann irgendwann das aktive Training beenden müssen.
30 Jahre später
Mein Sohn ist in der näher an Bocholt gelegenen WingTsun-Schule in Wesel bis zum 12. Schülergrad gekommen und will seinen, wie wir früher sagten, 1. Techniker machen.
Ich schreibe meinem SiHing Andreas Tomczak, in der heutigen Zeit natürlich über Facebook, ob er uns noch kennt und Christian Privatunterricht geben könnte. Und ob er uns noch kannte. Inzwischen selbst 5. Meistergrad freute er sich riesig bei unserem ersten Wiedersehen in seiner Schule und war selbstverständlich bereit, meinen Sohn bei seinen Vorbereitungen für den 1. Lehrergrad zu unterstützen.
Aber mein Sihing tat noch etwas viel Wichtigeres. Er fragte: „Und was ist mit Dir?“ Ich sagte: „Nun, ich bin inzwischen 65 Jahre und seit 4 Jahren an Parkinson erkrankt. Mit mir hat das keinen Zweck mehr.“ „Das wollen wir doch erst mal sehen“, antwortete er.
Trotz Parkinson
So stand ich nach 30 Jahren plötzlich wieder in einer WingTsun-Schule mit meinem SiHing im ChiSao und musste feststellen, dass ich mich unglaublich wohl fühlte. Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben und ich nach langer Zeit wieder nach Hause gekommen. Aber was noch erstaunlicher war, meine vor vielen Jahren „eingefleischten“ ChiSao-Reflexe funktionierten noch – und das nach all den Jahren und trotz Parkinson.
Es war schon erstaunlich, dass die früher durch intensives Training erworbenen Reflexe noch erhalten waren. Aber warum funktionierten sie trotz Parkinson? Bei der Parkinson Erkrankung sind die Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Durch den vorhandenen Dopaminmangel funktioniert die Steuerung der Bewegungen nur verlangsamt – aber nicht beim ChiSao. Hier wird ja passiv reagiert. Der Gegner steuert meine Bewegungen und ich bin nach wie vor so schnell wie er, trotz Parkinson, weil ich von ihm bewegt werde! Ein bei der Erkrankung unglaublich befriedigendes Gefühl. Was macht es da aus, wenn die Schrittarbeit nicht mehr ganz so gut funktioniert, sich aber trotzdem durch das Training verbessert.
Ja, und dann bin ich ganz mutig geworden. Zusammen mit meinem Sohn absolvierte ich den Übungsleiter Lehrgang in Kiel, den Fachtrainer für Frauenselbstbehauptung bei Sifu Sabine Mackrodt in Kassel, den Fachtrainer für Kids-WingTsun bei DaiSifu Peter Thietje in Wentorf und den 8. Schülergrad bei meinem SiHing Andreas Tomczak in Essen.
Mein Sohn hat zwischenzeitlich seinen 1. Lehrergrad bestanden. Da kann ich noch nicht mithalten J. Und er hat seine Schule in Bocholt eröffnet – in der ich für das Senioren-WingTsun zuständig bin.
Wiedersehen in Essen
Vor Kurzem begegnete ich dann in Essen meinem SiFu, GM Kernspecht, wieder. War ein tolles Erlebnis nach all den Jahren! Er ermutigte mich auch, diesen Artikel für die WingTsun-Welt online zu schreiben und damit zu dokumentieren, dass man für WingTsun – und einen Wiedereinstieg – nie zu alt ist.
Text und Fotos: Richard Hecks