Muskelkraftverächter?
Das neue Jahr hat begonnen und es wurden viele Vorsätze fürs neue Jahr gefasst – auch fürs WingTsun-Training. Der eine möchte „weicher“ werden, der andere „härter“, indem er sich ausgiebiges Krafttraining vornimmt.
Manche denken, dass ich von dem „200-kg-Wegdrücker“ der 1980er und 1990er Jahre zu einem „Kraftverächter mangels Masse“ mutiert bin und mir nun seit einer Schulterverletzung das Schwachsein „schönreden“ will.
Es stimmt: Ich kann meine Delta-Muskeln nicht mehr mit Press-behind-the-Neck-&-Co zur Größe von Kokosnüssen aufpumpen, ohne nach nur drei Trainingseinheiten nervende Schulterschmerzen zu haben.
Aber ich liebe dicke Muskeln und das durchblutete, pralle Gefühl. Und schätze Kraft. Sehr! Immer noch!
Mit Kraft kann man Bewegung bewirken, das heißt, man kann diese Kraft auf seinen Gegner wirken lassen. Das kann durch Wegschubsen, Schlagen, Treten usw. geschehen.
Nun, ganz abschreiben muss ich meine Kraft trotz meines Gelenkproblems nicht.
Obwohl dies ja fast ein Segen wäre, wenn man den 1. Kraftsatz des WingTsun missversteht.
Sich von seiner Kraft freizumachen, die uns die Möglichkeit bietet, Bewegung hervorzurufen, kann nicht im Sinne des Erfinders des WingTsun sein.
Warum sollten wir so dumm sein, uns freiwillig zu entmachten?
Was also ist damit wirklich gemeint, wenn der 1. Kraftsatz lautet:
„Mach dich frei von deiner eigenen Kraft!“
Es ist damit gemeint, dass wir unsere Muskeln nicht unnötig anspannen sollen, denn sie haben noch eine zweite Rolle: Sie sind nicht nur Kraftlieferant, sondern – was vielleicht mindestens so wichtig ist – das größte Wahrnehmungsorgan (Tasten, Fühlen). Diese Rolle können sie aber umso weniger erfüllen, je mehr sie angespannt sind.Entsprechend sollte auch die SiuNimTau-Form geübt werden: ziemlich (aber nicht völlig) entspannt!
So soll man beim Fauststoß nicht Trizeps und Bizeps gegeneinander anspannen, was ebenso kontraproduktiv wäre, wie wenn man sich beim Autofahren gleichzeitig auf Gaspedal und Bremse stellt (Lies Leung Ting „Wing Tsun Kuen!).
Wenn ich einen Fauststoß in die Luft mache, der mir kräftig vorkommt, dann ist er gerade das nicht.
Den 2. Kraftsatz „Mach dich frei von der Kraft des Gegners!“
könnte man sich eigentlich fast sparen, wenn man sich an den ersten Satz hält und nicht unnötig sich oder anderen Widerstand leistet.
Ich bin nämlich nur in der Gewalt des Gegners, wenn ich ihm widerstrebe. Und der Gegner kann nur dort kräftig sein, wo ich ihm Widerstand leiste.
Und nur im Widerstandleisten spüre ich meine eigene Kraft, die Kraft nämlich, mit der ich gegenhalte.
Beim 3. Kraftsatz „Benutze (borge) die Kraft des Gegners!“
kann man fragen, was mit „Benutzen“ oder „Borgen“ gemeint ist.
Niemals kann damit gemeint sein, dass ich den Gegner „machen lasse“ und der „alles“ zu seiner Niederlage selbst liefert. Mir bleibt auch noch etwas zu tun übrig!
Wenn ich mir ein Auto für 10.000 Euro (100 %) kaufen will, obwohl ich selbst nur 5.000 Euro (50 %) habe, kann ich mir den fehlenden Rest borgen. Mit 7.000 Euro auf der hohen Kante geht‘s noch besser. Wer selbst nichts hat, bekommt auch selten etwas geborgt.
Je weniger Eigenkapital ich habe, desto schwieriger stellt sich das Borgen dar; denn wenn man an „Borgen“ denkt, sollte man auch das „Zurückgeben“ im Blick haben bzw. das Zurückschlagen („angereichert“) mit der Kraft des Verleihenden.
Wenn die Bank mir nämlich (was nicht zu erwarten ist), statt der Überweisung der benötigten 5.000 € den Geldtransporter mit 5 Millionen Euro in Form von Münzen schickt, würde mich diese Wucht buchstäblich „plattmachen“.
Vielleicht könnte ich auch deshalb nichts „zurückzahlen“, weil ich mit dem versehentlich ausgezahlten Geld lieber auf eine exotische Insel flüchte, bevor die Bank ihren Irrtum bemerkt.
Man muss zwischen „Benutzen“ (Wozu?) und „Borgen“ (Aufnehmen, um es zurückzugeben) unterscheiden.
Ein recycelndes Borgen und Zurückgeben ist hehres Ziel bei den (klassischen, selbsterklärten) Inneren Stilen, zu denen ich mein WT, so wie ich es verstehe, auch zähle.
Aber der Auffassung, dass wir, wie man es oft liest, die gesamte auf uns einwirkende Kraft des Gegners speichern würden, bevor wir sie zurückgeben, vermag ich mich nicht anzuschließen.
Ich muss nämlich auch meinen Teil leisten, ohne den es nicht geht:
Zunächst muss ich „in Vorkasse gehen“, d.h. der Kraft des Gegners begegnen und ihr soweit mit eigener Kraft entgegenhalten, dass ich mit meiner eigenen Kraft meine eigene Sehne spannen kann.
Was gespeichert wird, ist also nicht die Kraft des Gegners, sondern bloß jene Menge meiner eigenen Kraft, mit der ich dagegenhalte
Dadurch baue ich mir also in der Muskulatur – mit seiner unfreiwilligen Hilfe – eine Vorspannung auf.
Zu den drei Kraftsätzen gibt es noch diesen Zusatz:
„Füge Deine eigene Kraft hinzu!“
Bei dieser „eigenen Kraft“ handelt es sich um die ohnehin schon in meinen Sehnen gespeicherte Energie. Eben diese addiere ich zu der durch die Vorspannung mit Hilfe des Gegners gewonnenen Kraft.
Um ein echtes „Kraftborgen“ kann es sich hier nicht handeln. Das heißt aber nicht, dass unser WT das nicht zu bieten hätte.
Dies erklärt Prof. Tiwald durch spiraliges Umleiten und Zurückleiten der vom Gegner empfangenen Bewegung, wozu aber oft ein sanft dämpfendes Berühren (Tastsinn!) und eigenes Ausweichen reicht, um dann im geeigneten Moment noch eigene Energie hinzuzutun und vorzustoßen.
Ich kann den gegnerischen Angriff, der mehr oder weniger auf mein Zentrum zielt, vorerst gewandt – mit meinem „beweglichen Gestänge“ auffangen und dabei aus der Schusslinie „herausgehen“, so dass der Gegner mich nur mit einem exzentrischen Kraftstoß erwischt, der mich also mit seiner Energie in eine Rotation (Wendung) bringt.
Diese Rotation kann ich dann z.B. mit der Standard-Technik Tan- oder Fook/Dar-Wendung nützen, um in einer Spiralbewegung die Bewegungsrichtung umzukehren (das Geborgte zurückzahlend) und sie mittels des sog. „Schulterpfades“ auf den Gegner zu richten.
Der Gegner dreht mich also mit seiner Energie auf seiner Angriffsseite von sich weg, auf der anderen Seite aber zu sich hin, so dass ich ihn mit meinem freien Arm (am besten über seine Arme hinweg) in Form eines Fauststoßes (Dar) wirkungsvoll treffen kann.
Mein Rotationsimpuls stammt in diesem Falle großteils vom Gegner. Durch meine gezielte Gewandtheit schaffe ich mir zusätzlich die Möglichkeit, auf die vom Gegner bewirkte Rotationsbewegung meine eigene Energie impulsgebend „aufzusatteln“.
Ich zahle also mit Zinsen zurück! Dieses kann man dann aber mit Recht als ein
„Borgen der gegnerischen Kraft“
bezeichnen!
Auszug aus meinem neuen Buch „Die Essenz des WingTsun“, das im neuen Jahr erscheinen wird.
Ich wünsche allen ein erfolgreiches und gesundes Trainingsjahr!
Euer SiFu/SiGung
Keith R. Kernspecht