EWTO

WingTsun Revisited

Unter diesem Motto stand der 1. EWTO-Leadership-Kongress am 21. Mai 2010 in der Stadthalle in Hockenheim, zu dem alle am Leadership-Programm teilnehmenden Schulleiter eingeladen waren. Einen Tag lang – von morgens 10 Uhr bis abends fast 21 Uhr – versorgten sich die anwesenden Schulleiter, die nicht nur aus dem deutschsprachigen Raum Deutschland, Österreich, Schweiz kamen, sondern auch aus Bulgarien, Großbritannien und der Tschechischen Republik angereist waren, mit theoretischen und praktischen Informationen: 7 Fähigkeiten, 7 Fertigkeiten, Üben der Partnerformen, Programm gegen Messerangriffe, stufenweiser Aufbau des Schülergradprogramms, neue Gefahrensituationen, Rückwärtsplanung, modifizierter Stand, EWTO-Lehrerprogramm inkl. neuer Prüfungszettel, standardisierter Aufbau des Gruppenunterrichts, BlitzCombat, neue Bücher „Kampflogik“ und „Das Weg ist das Ziel“, Kooperationen für Film und Bonbons…

Bevor es in Hockenheim losging
Bevor Großmeister Kernspecht und die drei DaiSifus Andreas Groß, Oliver König und Giuseppe Schembri gemeinsam den Startschuss für das Mammutprogramm in Hockenheim gaben, hatten die Schulleiter Gelegenheit zur Besichtigung der neuen Trainerakademie in Heidelberg. Markus Senft machte mit ihnen eine Führung durch die Räumlichkeiten. Hinterher beim Verlassen des Gebäudes konnte man durch eine offene Tür spähen und bekam einen Eindruck davon, wie spartanisch es in der Etage vorher ausgesehen hatte. Man war sich einig: Dazwischen liegen Welten.

Start in Hockenheim
DaiSifu Andreas Groß übernahm es, den Anwesenden zunächst einen Überblick über die Themen und Abläufe des Tages zu geben. Er kümmerte sich auch im weiteren Tagesverlauf darum, dass alles nach Plan verlief.
Nach der Vorstellung einiger „Offizieller“ – wie die Verantwortlichen für WingTsun, Escrima, ChiKung, EWTO-Gewaltprävention, die verschiedenen Referenten, das WingTsun-Welt-Redaktionsteam und das Organisationsteam – wurde dann der Themenreigen eröffnet.

Was heißt WingTsun Revisited?
Was es mit diesem ungewöhnlichen Begriff auf sich hat, erläuterte zunächst der Leiter der Leadership-Ausbildung DaiSifu Oliver König: „Der Begriff ‚revisited‘, wörtlich übersetzt ‚wiederbesucht‘, bedeutet, dass Großmeister Kernspecht die traditionellen Programme unter heutigen Gesichtspunkten – wie z.B. geänderte Gefahrenlage durch verändertes Angreiferverhalten, Auswertung aktueller statistischer Daten – und unter wissenschaftlichen Aspekten analysiert und angepasst hat.“
„Um die Umsetzbarkeit seiner modernen, anwendungsbezogenen Programmteile zu testen“, so DaiSifu König, „reist unser Großmeister durch das Land und unterrichtet sie quasi im Feldversuch. Diese Veränderungen in seinem Unterricht führten vor Ort manchmal zu Irritationen, weil die Programme nicht verstanden wurden. Gesamtzusammenhänge wurden nicht erkannt bzw. der Grund für die Änderungen nicht erfasst. Um das Ganze so transparent wie möglich für alle zu machen, gibt es Weiterbildungsveranstaltungen für Schulleiter wie z.B. diesen 1. Leadership-Kongress, aber auch die Leadership-Praxisteile I bis III oder für die Lehrer und Ausbilder die Ausbilderlehrgänge.“

Was hat WingTsun Revisited für Auswirkungen?
An diesem Tag gab es nun eine Fülle von Informationen dazu, weshalb und wie das traditionelle WingTsun der heutigen Zeit angemessen neu zu betrachten ist.

7 Fähigkeiten und 7 Fertigkeiten
Als Basis dessen stellte zunächst Großmeister Kernspecht die „Großen 7 Fähigkeiten“, auch Thema des am darauf folgenden Tag beginnenden Int. Lehrgangs 2010, einzeln vor:

1. Bewusstsein, Energie, Aufmerksamkeit
2. Beweglichkeit
3. Gleichgewicht
4. Körpereinheit
5. Sinnliche Wahrnehmung
6. Timing
7. Kampfgeist

Er machte anschließend deutlich, dass diese nicht mit den 7 Fertigkeiten – den Formen des WingTsun – verwechselt werden dürfen:

1. SiuNimTau
2. ChamKiu
3. BiuDjie
4. Holzpuppenform
5. Langstockform
6. Messerform
7. Partnerformen (26 Sequenzen)

Sie sind lediglich Mittel zum Zweck, sollen die verschiedenen zuvor genannten Fähigkeiten hervorbringen. Was sie aber nicht vermitteln können, ist die taktile Wahrnehmung. Auch die Partnerformen leisten dies nur sehr eingeschränkt, da der Partner meist nicht so drückt, dass die nach Choreografie geforderte Reaktion entsteht, und das Timing nicht stimmt.

Reaktionsprogramm
Deswegen wurde als Verbesserung zum traditionellen WingTsun-Programm das EWTO-Reaktionsprogramm von Großmeister Kernspecht entwickelt, wobei ihm sein Team, seine Studenten, seine Privatschüler und Schüler und sein eigenes wissenschaftliches Universitätsstudium die notwendigen Grundlagen lieferten. DaiSifu Giuseppe Schembri übernahm es, den stufenweisen Unterrichtsaufbau dazu vorzustellen, bei dem der Schüler in kleinen Portionen die verschiedenen Reaktionen eingepflanzt bekommt:

1. Stufe: Der Anfänger verteidigt sich durch Angriff. (Unterstufe = 1. bis 3. SG)
2. Stufe: Koopetives Programm (Mittelstufe = 4. bis 6. SG)
3. Stufe: Kooperatives Programm (Oberstufe = 7. bis 12. SG)

Dabei soll der Lehrer den Schüler nicht überfordern und ihm Zeit zum Lernen geben; denn es braucht Zeit, bis das Programm greift. Im Schülergradbereich werden die Übungen jeweils nur auf einer Seite ausgeführt, d.h. beim Rechtshänder ist der linke Arm der fühlende und rechts der schlagende.
Erst im Lehrerprogramm wird auch die andere Seite trainiert. Das Gehirn hat aber bereits „intern“ vorgearbeitet und so werden die Reaktionen auf der zweiten Seite mit einem geringeren Zeitaufwand konditioniert.

Anpassen des WingTsun an die heutige Gefahrensituation
Dies war ein weiterer großer Themenbereich des Kongresses. DaiSifu Oliver König legte zunächst die Hintergründe dar und untermauerte das Ganze mit beispielhaften Videos.
Er kristallisierte zwei Fragen heraus, die man sich stellen muss, wenn man realistische Selbstverteidigung (SV) betreiben will:

1. Was passiert in einer SV-Situation?
2. Was sind die gefährlichsten Situationen?

Was passiert in einer SV-Situation?
In der Praxis lassen sich heutzutage fünf Phasen des Ritualkampfes, der 70 - 85 % aller Selbstverteidigungssituationen ausmacht, unterscheiden:

1. Blickkontakt
2. Verbale Phase (Stimme)
3. Schubsen und Zeigen
4. Wilde, unkontrollierte, meist runde Angriffe
5. Nachtreten am Boden (meist zum Kopf; entartete Phase)

Beim Rest handelt es sich quasi um Überfälle, die sehr schwierig zu trainieren sind. Sie werden künftig aber im Lehrerprogramm (ab 2. TG) durch Training von Aufmerksamkeit und Reaktion behandelt, um auch dort die Chancen für eine Verteidigung zu erhöhen.

Was sind die gefährlichsten Situationen?
Eine sehr gefährliche Situation entsteht durch die Erweiterung des Ritualkampfes mit Tritten gegen den Zu-Boden-Gegangenen. Dadurch kommt es zu schwersten Verletzungen – teils mit Todesfolge – wie die jüngste Vergangenheit zeigte.
Der Schüler muss deshalb von Anfang an lernen, wie er:

a. verhindert auf den Boden zu kommen (Balance)
b. so schnell wie möglich wieder aufsteht
c. sich am Boden vor Tritten schützt

Einfache Übungen sind schon im 1. Schülergrad vorgesehen!

Außerdem kommen immer häufiger Waffen zum Einsatz. Sie sind nicht nur Wirkungsversstärker, sondern erhöhen zudem noch die Reichweite des Angreifers erheblich. So sind wir gezwungen, uns entgegen den traditionellen WingTsun-Vorgaben vermehrt vor- und zurückzubeugen, um solchen Angriffen zu entgehen. Dem wird mit dem EWTO-Programm gegen Messerangriffe (ab 6. SG) Rechnung getragen werden.

Eine dritte neue Gefahr ist, dass durch die sinkende Fairness im Kampf mehrere gleichzeitig gegen einen Einzelnen vorgehen. Hier greift, WingTsun-technisch betrachtet, unsere vertraute Zentrallinie nicht mehr.

Umdenken
Während in KungFu-Filmen der Angreifer aus der Distanz heraus angreift, haben moderne Forschungen ergeben, dass der Kampf in Wahrheit in der Nahdistanz beginnt.
Aus dem Ganzen resultierende Überlegungen führten ihn, so Großmeister Kernspecht, schließlich zur sog. Rückwärtsplanung für den Unterrichtsaufbau, was zur Folge hat, dass der Unterricht mit der engen Distanz, in der man getroffen wird, beginnen muss.
Dies hat dann wiederum entscheidenden Einfluss auf die „Kampfstellung“; denn in dieser Distanz wird der IRAS zum Problem  – nicht nur wegen möglicher Knie- bzw. Trittattacken des Gegners. Trifft der Gegner trotz aufgebautem Keil die Mitte, kann man nicht mehr heraus wenden und man verliert sein Gleichgewicht.
Deswegen ist die erste Maßnahme, mit einem Bein vorne zu stehen, was zumindest ein Ausweichen nach hinten ermöglicht. Außerdem ist die Fähigkeit der Beweglichkeit, wie sie aus der BiuDjie-Form bekannt ist, verstärkt gefordert, was die Schlagworte „Aushöhlen“ und „Zurückbeugen“ zeigen.

Erforderliche Änderungen in den Programmen
Das oben Aufgeführte führt zwangsläufig zu Änderungen in den verschiedenen Schülergradprogrammen, die sich in die Lehrerprogramme fortsetzen.
Die Systematik der Unter-, Mittel- und Oberstufe bleibt in den Schülergradprogrammen erhalten. Die jeweiligen Unterrichtsinhalte werden sich aus folgenden Modulen zusammensetzen:

• moderne europäische WT-Programme (wie z.B. BlitzDefence, ReakTsun)
• traditionelle WT-Programme (Soloformen, Partnerformen etc.)
• Methodik (LatSao-Drills bzw. SV-Anwendungen) und
• Gesundheit (Gesundheitsübungen aus dem ChiKung)

Diese Module gestatten es, den Unterricht nach einem Baukastensystem abwechslungsreich zu gestalten.
Die Änderungen in den Lehrerprogrammen werden bereits durch die neuen beidseitigen Prüfungszettel dokumentiert, die seit Anfang des Jahres die alten einseitig beschriebenen ersetzt haben.
Der Aufbau und die dort verwendeten Begriffe wurden im Rahmen des Leadership-Kongresses den Schulleitern erläutert.
Sowohl die verbesserten Schülergradprogramme als auch für die Lehrerprogramme werden nicht von heute auf morgen gefordert. Für die Einführung der Programme wird eine Übergangsfrist bis Ende 2010 eingeplant, in der sich die Lehrer weiterbilden und die Schüler auf den neuesten Stand bringen können. Für einige Teile der Lehrerprogramme werden noch längere Übergangsfristen gelten.

Über den Ritualkampf hinaus
Auch der Bereich Duell- bzw. Sportkampf soll in der EWTO mit Mitteln des WingTsun nicht zu kurz kommen. Es wurde der Begriff „BlitzCombat“ geprägt. Es steht künftig ein Team von Lehrern bereit, die dies unterrichten werden. Derzeit gehören diesem Team an: Sifu Stefan Crnko (5. PG), Sifu Andreas Plank (Österreich, 4. TG), Sifu Ahmed Al-Jabaji (Schweiz, 4.TG) und Sifu Hans-Joachim Lang (4.TG). BlitzCombat soll stehen für: Anti-Bodenkampf, Realistische Selbstverteidigung, Nahkampf für Polizei und Militär, Sparring und Schlag- und Trittkraft.

Anti-Bodenkampf
Gemeinsam mit Sifu Andreas Plank, der auch auf Mallorca bei der Vorführung dabei war, stellte Sifu Stefan Crnko den Schulleitern das Konzept des neuen BlitzCombat vor. Dieses Mal hatten die beiden eine längere Vorbereitungszeit und kamen mit einer gepackten „Tasche der Erleuchtung“ zum Termin. Aus ihr zauberten sie einige Accessoires hervor, die sehr eindrücklich unterstrichen, weshalb man in der Praxis tunlichst nicht auf den Boden will.
Jeder konnte sich angesichts der bei Militär und Polizei verwendeten Einsatzweste (komplette Ausrüstung wiegt ca. 43 kg) vorstellen, dass damit Kampfgerangel am Boden keinen Spaß macht. Mit einer Tupper-Schüssel, einem Glas, einem Marmeladenglas mit Alkoholgemisch und einem auf dem Boden ausgebreiteten blauen Müllsack zauberten sie kurzerhand ein frühmorgendliches Diskoboden-Ambiente. Wieder war das Interesse im Auditorium gering, sich dort zu wälzen. Auch ein schlichter Stein konnte niemanden animieren.
Damit wurde deutlich, dass es um Anti-Bodenkampf gehen muss. ist ein Teil, der sich hinter BlitzCombat verbirgt. Hier geht es darum, dem Schüler zu vermitteln, wie er durch konsequente Umsetzung der WingTsun-Taktiken und Strategien, die er tagtäglich übt und auf die er spezialisiert ist, vermeidet, auf den Boden zu kommen. Wenn er dennoch dort landet, dann setzt er sein Können auch dort konsequent ein und keine stilfremden Techniken.

Sparring
Die EWTO bietet in ihrem speziellen FightFit-Programm spezielle Trainingsmethoden, mit denen der Schüler seine Fähigkeiten verbessern kann, ohne sich einem erhöhten Verletzungsrisiko auszusetzen.

Schlag- und Trittkraft
Spezielle Übungen dazu runden das BlitzCombat-Programm ab. Der Schüler lernt, wie er seine Kräfte durch Koordination und Körpereinheit bündeln und so effektive Angriffe durchführen kann.

Praxis
Diese vielen theoretischen Informationen wurden immer wieder durch Praxiseinheiten aufgelockert, in denen Großmeister Kernspecht die Schulleiter Elemente aus den neuen Programmteilen trainieren ließ, sie anleitete, korrigierte und für Fragen zur Verfügung stand. Dadurch konnten sicherlich manche Unklarheiten auf dem Weg zum WingTsun Revisited beseitigt werden.

Am Ende des Tages
Am Ende des 1. Leadership-Kongresses waren sich die Teilnehmer und Teilnehmerinnen darüber einig, dass sie viel Neues erfahren und mehr Klarheit über die neuen modernen WingTsun-Programme gewonnen hatten. Das Ganze war so abwechslungsreich präsentiert worden, dass Müdigkeit und Langeweile keine Chance hatten.
Auch die Räumlichkeiten in der Stadthalle Hockenheim trugen sicherlich nicht unerheblich zum Gelingen bei. Ambiente und Technik passten. In den Pausen sorgte das Cateringteam der Stadthalle freundlich und schnell dafür, dass alle ihren großen oder kleinen Hunger und Durst stillen konnten.

Dass alles zusammenpasste und reibungslos klappte, dafür trug wieder das bewährte Schloss-Team – das jetzt als Trainerakademie-Team firmiert – unter der Leitung von DaiSifu Andreas Groß und Ina Trampert Sorge.

Ein gelungener 1. Leadership-Kongress, dem hoffentlich noch viele weitere folgen werden.
Ein großes Danke an alle, die diesen Tag ermöglichten!


Text: hm
Fotos: Markus Gensichen/Jiri Schwertner


PS: Drei Stichworte fehlen noch: Film, Buch und Bonbons.

Alles, was das Stichwort „Film“ betrifft, ist in dem Artikel „Karate Kid kommt am 22. Juli zurück“ in der Rubrik Wissenswertes und dem Gewinnspiel in der Rubrik EWTO umgesetzt.

Beim Stichwort „Buch“ geht es um das neue dreibändige Werk von Großmeister Dr. Kernspecht, dessen ersten beiden Bände in diesem Jahr sicherlich auf vielen weihnachtlichen Gabentischen zu finden sein werden.

Last but not least: Bonbons! Es gibt sie wieder: die tollen goldenen Dosen mit WingTsun-Motiv und leckerem Inhalt. Einfach in Eurer Schule danach fragen.