WingTsun

Wie beim Stierkampf

Am 21. und 22. Februar verwandelte der spanische Nationaltrainer Victor Gutierrez, 6. Meistergrad WT, die Sporthalle in Lobenfeld in eine Kampfarena und überraschte die Anwesenden mit einer ungewöhnlichen These: Ihr macht zu viel WingTsun!

Anfangs roch es nach einem Tabubruch: „WingTsun gegen WingTsun, immer den Ellbogen tief, weich nachgeben – das ist nicht realistisch.“ Zum Beweis schiebt Sifu Victor einen Lehrgangsteilnehmer an die Wand, indem er seine Arme steif hält und aggressiv nach vorne läuft. Auch der nächste Teilnehmer gibt sein Bestes und versucht der Bulldozer-Attacke durch Nachgeben zu entkommen, erzielt aber das gleiche deprimierende Ergebnis. Wenn jetzt die Kandidaten von Uri Gellers Show die Gedanken der Lehrgangsteilnehmer lesen würden, käme bei den meisten wohl heraus: Was läuft hier verkehrt? Das stand so nicht im schwarzen Buch.

Wer das Seminar mitmacht, kann nachvollziehen, warum es in der Vergangenheit Missverständnisse über das WingTsun von Spaniens Nationaltrainer gab. Oberflächlich oder aus Anfängeraugen betrachtet, scheint Gutierrez die Kraftsätze, die man im WingTsun-Standardwerk „Vom Zweikampf“ findet, zu ignorieren. Hinzu kommt, dass er oft mit der horizontalen Faust schlägt, von Zeit zu Zeit sein Gewicht auf das vordere Bein verlagert und scheinbar nur ungern nachgibt. Wenn dann noch ein spanisches Kampfkunstmagazin von der „Re-Evolution im WingTsun“ schreibt, ist die Verwirrung komplett.

Dabei geht es dem 6. Meistergrad schlicht um die Realität; um aggressive Angreifer, die nicht nachgeben, sondern Schläge einfach wegstecken. Sein Training zielt nicht auf den einen finalen Schlag ab, und er geht nie davon aus, dass der Gegner ein Glaskinn hat: „Warum hört ihr auf zu schlagen; was ist, wenn der andere viel verträgt oder unter Drogen steht?“

Die Lösung des Mannes, der in Bilbao lebt, aber perfekt deutsch spricht, liegt in der Mischung aus eigenen Schlägen und der ständigen Kontrolle über den Gegner. Um das üben zu können, muss man sich von der traditionellen Form des Partnertrainings verabschieden, bei der beide WingTsun machen. Großmeister Kernspecht beschrieb bereits in der letzten „WingTsun-Welt“, dass es eine klare Rollenverteilung geben muss: Einer ist der Angreifer und darf keine WingTsun-Bewegungen benutzen. Er muss beispielsweise mit Haken und horizontalem Fauststoß – anstatt mit den uns vertrauten, aber nur im WT benutzten, vertikalen WingTsun-Fauststößen mit tiefem Ellbogen – angreifen. Die Herausforderung für den WT-ler besteht darin, sein Chi-Sao gegen diese wilden, unberechenbaren Angriffe einzusetzen, ohne dabei unangemessen oder im falschen Augenblick nachzugeben, denn dann wird er getroffen.

Deshalb betont Gutierrez immer wieder, dass es im WT darum geht, selbst anzugreifen. „Es ist ein Vergleich der Kräfte. Nur wenn der andere stärker ist, drückt man sich von ihm ab – wie beim Stierkampf, einfach zur Seite.“

Nach einigen Stunden Training versteht man, was Gutierrez bezweckt. Und man sieht die Parallelen zum Unterricht von Großmeister Kernspecht. Die horizontale Faust entpuppt sich wahlweise als Biu-Djie-Haken oder als „schlagender Bong-Sao bzw. Gam-Sao“, den GM Kernspecht bereits im vierten Schülergradprogramm eingeführt hat.
Kenner wissen, dass das Zurückpendeln vom Gegner keine Revolution, sondern ein Holzpuppen- bzw. Biu-Djie-Konzept darstellt, und haben schon des Öfteren beobachtet, wie die Großmeister des Systems ihr Körpergewicht in den Schlag gelegt haben – allerdings ohne ihre Balance dabei zu verlieren. WingTsun ist taoistisch, es ist Yin und (!) Yang, es gibt eine Zeit für hart und eine für weich und in der Härte ist Weichheit und in der Weichheit Härte.

Und genau wie GM Kernspecht betont Gutierrez immer wieder die Bedeutung der eigenen Schlagkraft: „Master Bill hat einmal etwas gesagt, das werde ich nie vergessen: Stell dir vor, du triffst den Gegner mit deinem besten und härtesten Schlag, aber er lacht dich einfach aus – das ist das Schlimmste, was dir im Kampf passieren kann.“

Der Boxer liegt am Boden

Wenn Victor Gutierrez zuschlägt, dürfte den meisten das Lachen vergehen. Der Spanier wirkt wie ein durchtrainierter Boxer im Cruisergewicht, dessen nächster Kampf unmittelbar bevorstehen könnte. Wie ein quirliger Bodenkämpfer wirkt er hingegen nicht – zumindest solange er steht. Wenn der 44-jährige jedoch beginnt, WingTsun am Boden zu unterrichten, startet er mit einer beeindruckenden Ein-Mann-Form. Aus dem vermeintlichen Boxer, wird dann ein Bodenturner, ja fast ein Breakdancer. Er dreht sich blitzschnell um die eigene Achse, rollt abwechselnd in verschiedene Richtungen, wirbelt herum, landet auf dem Rücken und startet von vorne. Als Zuschauer weiß man nicht, was der Nationaltrainer genau macht, aber man erkennt, dass ein System dahinter steckt. Die Bewegungen, das Herumwirbeln der Beine, das Abstützen auf der Schulter – jedes Detail ist geplant und wichtig für die spätere Anwendung. Laut Gutierrez geht es dabei ums Körpergefühl. „Was wollt ihr euch jemanden auf die Brust setzen und üben, wenn ihr euch noch nicht einmal allein am Boden bewegen könnt?“

Also wird es Zeit, den „IRAS“ zu verlassen. Auf dem Rücken liegend, üben die Teilnehmer die ungewohnten Bewegungen. Die Hüfte zur Seite schieben, die Beine kreuzen, sich mit der Schulter vom Boden abdrücken und die Knie nachziehen. Nach wenigen Minuten wird klar: mit dem Verkauf von Knieschonern könnte man heute ein Vermögen verdienen.

Nach einigen Stunden sehen die Bewegungen bereits koordinierter aus, und die Teilnehmer können dazu übergehen, das Ganze mit Partner zu üben.

Auf zwei Dinge legt Gutierrez dabei immer Wert:
Erstens: Man geht nie freiwillig zu Boden, sondern übt dies nur für den Notfall.
Zweitens: Auch beim Bodenkampf gelten die gleichen Konzepte wie im Stand.

Und das ist keine Revolution und keine Re-Evolution. Das ist angewandtes WingTsun.

Text: André Karkalis
Fotos: Markus Gensichen

 

Weitere Lehrgangstermine mit Sifu Victor Gutierrez in Deutschland:

Samstag 07. Juni 2008 München/Germering
Sonntag 08. Juni 2008 München/Germering
Samstag 05. Juli 2008 Lübeck
Sonntag 06. Juli 2008 Kiel
Samstag 22. Nov. 2008 Schloss Langenzell
Sonntag 23. Nov. 2008 Schloss Langenzell