WingTsun

Von Schnell-Antwortern und dem Zen-Buddhismus

Dazu ein Textauszug aus dem demnächst erscheinenden Buch Prof. Horst Tiwalds:
Viele gehen von der Annahme aus, es genüge, ein vorgefertigtes Repertoire von Antworten (Techniken) auswendig zu lernen und ebenso die dazugehörenden Fragen (Kampfsituationen).

Aus dieser Sicht geht es dann ebenfalls nur darum, ein stereotyper ‚Schnell-Antworter’ zu werden, der gleichsam die Fähigkeit besitzt, die vorher gelernten Fragen sich zu merken, sie bei Auftreten schnell wiederzuerkennen und dann automatisch „wie aus der Pistole geschossen“ die Antwort zu plappern (zu reagieren). Das ist ein sehr mechanistisches Modell, das unserer heutigen Trainingslehre zugrunde liegt. Man spricht dann davon, dass Bewegungen und Reaktionen ‚eingeschliffen’ werden sollen usw.

Um aus diesem bei uns festgefahrenen mechanistischen Denkschema der Trainings- und Bewegungslehre herauszukommen, ist das Befassen mit der fernöstlichen Trainingsauffassung von Nutzen. In den fernöstlichen Bewegungskünsten ging es ursprünglich (1) nicht um das Siegen. Dies verhinderte, dass man nur um des Siegens willen verlockende Abwege ging.

Man versuchte vielmehr, das Wesentliche des Kampfsportes zu entfalten und dieses für die Persönlichkeitsentwicklung fruchtbar werden zu lassen.
Es blieben also Seitenwege, die zur siegorientierten Leistungsoptimierung mitgegangen werden müssten, nicht voll ausgenutzt, dafür wurde aber der wesentliche Hauptweg voll ausgeschöpft.
Dieses Buch stellt sich daher die Aufgabe, auch in die geistigen Grundlagen des fernöstlichen Kampfsports einzuführen.

Unter den geistigen Grundlagen sind nicht irgendwelche kulturbedingten spirituellen Weltmodelle zu verstehen oder an die Mentalität des fernöstlichen Menschen gebundene Charaktereigenschaften, sondern die Darstellung eines Weges, der zu einem bestimmten geistig-psychischen Bewusst-seinszustand führt, der die Kampfkraft erhöht, ohne diesen Effekt zum Ziel zu haben.

Dieser Weg leitet sich her vom Zen-Buddhismus. Der Zen-Buddhismus ist eine bestimmte Form des Buddhismus, der von Indien über China und Korea nach Japan gekommen ist. (2) Sein Wesen ist die Meditation. Er steht allen spekulativen Weltmodellen und dogmatischen Lehren, seien sie buddhistisch oder nicht, ablehnend gegenüber.

Im Extrem soll sogar im klösterlichen Zen die Selbstverwirklichung ohne Sprache und ohne intellektuelle Vorwärtsbewegung erreicht werden, was jedoch nicht exakt mit der buddhistischen Psychologie übereinstimmt.

Zwei Mittel stehen im klösterlichen Zen im Vordergrund:

  • Zum einen das Meditieren im schweigenden Hocken, das Zazen, (Anmerkung 3) in welchem man versucht, ohne an etwas Bestimmtes zu denken oder gewaltsam nicht zu denken, in eine Entspannung und schließlich in eine Versenkung zu kommen;
  • Zum anderen wird das Koan, (Anmerkung 4) ein paradox anmutender Satz, zum Gegenstand der Meditation genommen, an dem sich die intellektuellen Bewusstseinsprozesse reiben sollen, um schließlich zu zerbrechen und zu einem intuitiven Erleuchtungszustand zu führen.

Für den Europäer ist es schwer, hier Zugang zu finden.

Nicht etwa weil der fernöstliche Mensch hierzu besser disponiert wäre, als der Europäer, sondern weil der Europäer eine falsche Ansicht vom fernöstlichen Menschen hat.

Dies führt dazu, dass er in seinem meditativen Bemühen eine psychische Einstellung, die er für fernöstlich hält, kopiert, die aber, ob im fernen Osten verbreitet oder nicht, auch dort nicht zur buddhistischen Versenkung führt.

Die Lehre Buddhas hat nichts mit einer Religion oder einem Spiritualismus zu tun, obwohl sie heute zu einer Kultreligion verflacht und mit spirituellen Ritualen vermischt wurde.

Der heute von diesen oberflächlichen, spirituellen und kultischen Formen geprägte fernöstliche Mensch ist von dem, was mit der Lehre Buddhas als psychische Methode der Selbstverwirklichung aufgezeigt wurde, genauso weit entfernt, wie der intellektuell gebundene westliche Mensch, nur in anderer Weise.
Der ständige Hinweis darauf, dass der fernöstliche Mensch für buddhistische Praktiken disponiert sei, während sie für den westlichen Menschen schwer verständlich und kaum zugänglich seien, entbehrt jeder sachlichen Grundlage.

Diese Fehleinschätzung beruht vielleicht darauf, dass man, wenn man vom Buddhismus redet, weniger die psychische Methode, wie sie in der Lehre Buddhas dargelegt ist, vor Augen hat, sondern mehr spekulative Weltmodelle und spirituelle Religionsformen, die mit dem spirituellen Hinduismus durcheinandergeworfen werden.

Der westliche Mensch rundet sein Bild über fernöstliche Mentalität sodann durch jene Eindrücke ab, die er durch den Sekten-Spektakel bekommt, der auf den Straßen europäischer Großstädte als Schau abgezogen wird.

Dies alles hat mit Zen-Buddhismus, wie er zur Grundlage der fernöstlichen Bewegungskünste wurde, nichts zu tun.

Was uns hier interessiert ist also nicht das europäische Missverständnis der Selbstlosigkeit, der Aufgabe der Person oder auch die bei uns verbreiteten Formen klösterlicher Zen-Meditation, sondern das Praktischwerden dieser psychischen Einstellung, wie sie sich z.B. in den fernöstlichen Kampfsportarten zeigt. (3)
Eugen Herrigel, ein deutscher Philosoph, der längere Zeit in Japan lebte und dort am Beispiel des Erlernens der Kunst des Bogenschießens in den Geist des Zen eingeführt wurde, drückt dies so aus:

„Seit geraumer Zeit ist es selbst für uns Europäer kein Geheimnis mehr, dass die japanischen Künste um ihrer inneren Form willen auf eine gemeinsame Wurzel zurückweisen: auf den Buddhismus.
Dies gilt für die Kunst des Bogenschießens in demselben Sinne und Maße wie für die Tuschemalerei, für die Schauspielkunst nicht weniger als für die Teezeremonie, die Kunst des Blumenstellens und der Schwertmeisterschaft.
Es besagt zunächst, dass sie alle eine geistige Haltung voraussetzen, und je nach ihrer Eigenart bewusst pflegen, die in ihrer höchsten Steigerungsform dem Buddhismus eigentümlich ist und das Wesen des priesterlichen Menschen bestimmt.

Freilich ist hierbei nicht der Buddhismus schlechthin gemeint.

Nicht um den ausgesprochen spekulativen Buddhismus dreht es sich hier,
den man um seines angeblich zugänglichen Schrifttums willen allein in Europa kennt und sogar zu verstehen beansprucht, sondern um den ‚Dhyana’-Buddhismus, den man in Japan als ‚Zen’ bezeichnet und der in erster Linie nicht Spekulation, sondern unmittelbare Erfahrung dessen sein will, was als grundloser Grund des Seienden vom Verstande nicht ausgedacht, ja nicht einmal nach noch so eindeutigen und unwiderstehlichen Erfahrungen begriffen und gedeutet zu werden vermag: Man weiß es, indem man es nicht weiß.“ (4)

 

Auszug aus unserem neuen Buch „Psycho-Training im WingTsun, Taiji und Budo-Sport“ von Prof. Horst Tiwald, das voraussichtlich im Oktober erscheint. Format, Seitenzahl und Preis sind leider noch nicht bekannt, werden aber rechtzeitig hier mitgeteilt.


Fußnoten:

(1) Dies ist insofern missverständlich formuliert, als die Kampfkünste auch ihren martialischen Ursprung haben. Dort ging es
     natürlich um das Siegen. Als sich dieses kämpferische Üben aber zur Kunst verselbstständigte, traten immer mehr
     gesundheitliche und innere Ziele in den Vordergrund. Das Wort „ursprünglich“ kann daher hier nur bedeuten, dass dies
     aus der Sicht des heutigen Sports, der aus Kampfkünsten nun wieder eine siegorientierte äußerliche Angelegenheit
     machte, rückblickend so erscheint.

(2) Zur Geschichte des Zen-Buddhismus siehe auch Heinrich Dumoulin: „Zen – Geschichte und Gestalt“, Bern 1959

(3) Vgl. hierzu auch meine Textsammlung „Zen nicht missverstehen!“, Internet www.horst-tiwald.de unter den „Downloads“
     im Ordner „Buchmanuskripte“.

(4) Eugen Herrigel: „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, Weilheim/Obb. 1970, S. 14