Editorial

Vergeben tut not

„Man irrt immer, wenn man nicht die Augen schließt, um zu verzeihen oder um sich selbst zu erkennen.“
Maurice Maeterlinck, Pelléas et Mélisande

Verzeihen ist vielleicht der einzige Weg, um eine seelische Verletzung zu heilen. Mehr noch – es heilt nicht nur das eigene Selbst, sondern auch das des Verletzenden, da es die Bürde der Schuld von ihm nimmt.

Victor Gutierrez hat die EWTO verlassen! Aber damit seine angefügte mündliche Video-Erklärung von allen Ausbildern und Kollegen richtig verstanden wird, hier ein paar Fakten, die Victor keinesfalls bestreitet, sondern mit denen er uns gegenüber ebenso offen umgeht wie in seiner kurzen und ehrlichen Video-Erklärung.

Victor hatte ein Ziel vor Augen und glaubte – irrtümlich, dieses Ziel innerhalb der EWTO nicht erreichen zu können. Dabei war es seine ureigenste Aufgabe, für die wir ihn ins Boot geholt hatten. Aber er stellte uns nicht vor die Wahl: „Entweder lasst Ihr mich jetzt endlich mein Ding (WT-Vollkontakt-Sparte) machen oder Ihr müsst künftig auf mich verzichten.“
Er traute sich nicht die Frage zu stellen, obwohl wir jederzeit ein offenes Ohr für ihn gehabt hätten, und blieb nach außen hin unser Geschäftspartner. Innerlich aber trennte sich von der EWTO, seinen Meistern, Partnern und unserer gemeinsamen Sache.
Er hat seinen Fehler (= nicht eindeutig mit seinen Partnern zu kommunizieren und stattdessen hinter ihrem Rücken gegen sie zu arbeiten) inzwischen eingesehen und ich habe ihm verziehen, denn das erleichtert uns beide und lässt ihn und mich besser schlafen.
Wenn ich hier dennoch die Fakten nenne, dann damit Ihr Victors ehrliche Erklärung, die nichts zurückhält, versteht und etwaige Fragen Eurer Schüler beantworten könnt. Denn in wenigen Tagen startet Victors lange vorbereitete Werbekampagne: Artikel und Anzeigen in Alfredo Tuccis Videokatalog-Magazin für Kampfkunst-Filme usw.

FAKTEN:
Victor war bzw. ist nicht nur ein Schulleiter oder Nationaltrainer der EWTO, er ist zu diesem Zeitpunkt – immer noch – ein Geschäftsführer und Teilhaber. Aber seit fast einem Jahr vertrat er heimlich nicht mehr die Ziele und Interessen der EWTO, sondern arbeitete gegen uns. Er plante, während wir ihn in alles einweihten und ihm vertrauten, seine eigene Firma, mit dem ZIEL Vollkontakt, Wettkämpfe usw.
Ende Januar ist die Vorbereitungsphase, die in aller Heimlichkeit erfolgen „musste“, abgeschlossen, sonst hätten wir es gemerkt und ihm den Geldhahn zugedreht.
Der immer sympathisch schmunzelnde Victor ist sich im Klaren, dass diese Fakten dem Betrachter einen zu einseitigen Eindruck seines Charakters geben könnten, wenn der den dahinterstehenden Grund nicht kennt.

GRUND:
Victor war stolz auf WingTsun und auf sich und wollte zeigen, dass WT sehr wohl Vollkontakt tauglich ist und in der Mixed Martial Arts-Szene usw. erfolgreich mitmischen kann, wenn man entsprechend trainiert. Victor glaubte – irrtümlicherweise (denn eine solche Sparte soll es in der EWTO geben!) – wie er jetzt eingesehen hat, dass für solch eine Sparte in der EWTO nie ein Platz sein werde. Deshalb beschritt er solche im wahrsten Sinne des Wortes „ver-zwei-felten“ Schritte, die ihn der EWTO „ent-zwei-ten“.
Tatsächlich war der Aufbau einer solchen Abteilung der Hauptgrund, dass wir ihn in den innersten Kreis der EWTO holten und ihm vertrauensvoll alle nötigen Kompetenzen anvertrauten und ihn unkontrolliert durch Europa reisen und unterrichten ließen. Wir haben – trotz vorheriger negativer Erfahrungen und mancher kursierender Internet-Gerüchte – nicht für möglich gehalten, dass er, hinter unserem Rücken, einzelne Schulleiter (bzw. deren dafür anfällige Assistenten) abwerben würde für den eigenen heimlich – mit EWTO-Geldern –aufgebauten Verband. 
Erst als sich einige der Abgeworbenen mir gegenüber besonders respektlos zeigten, roch ich den Braten, ließ recherchieren und das Komplott war aufgedeckt.

MORAL, ETHIK, PRINZIPIEN, DETERMINATION:
Soweit der Hergang. Man könnte es sich leicht machen und sagen: typischer Fall von der Auffassung, „Der Zweck heiligt die Mittel“. Man könnte auch sagen, „typische Kämpfermentalität, die sind so“.
Ich bin schon zu lange auf dieser Erde, als dass mir irgendetwas Menschliches fremd ist. Und wer sich in gewissen Situationen beobachten kann, der weiß, zu was er selbst fähig wäre. Manche haben nur das Glück, nie auf die Probe gestellt worden zu sein. Vielleicht sollte man sein christliches Gebet von „Und führe uns NICHT in Versuchung“ ändern in „Und führe uns in Versuchung“, denn was man nicht übt, das kann man nicht wirklich.
Wer also hier meinen moralischen Zeigefinger vermisst, dem sei gesagt, dass Moral für die meisten nur etwas ist, an das sich DIE ANDEREN halten müssen. Was den Zustand des Menschen anbelangt, mache ich mir keine Illusionen mehr. Ich hab zwar einige eiserne Prinzipien, aber ich weiß ja nicht einmal wieweit ich mir selbst trauen kann, wenn ich richtig geprüft und in Versuchung geführt würde. Ich kann mich ohne Mühe an eine Krise erinnern, in der ich auch Dinge tat, auf die ich nicht stolz bin.
Mein Weltbild ist ein mehr oder weniger deterministisches (= vorherbestimmtes, festgelegtes) geworden, aus Erfahrung und nicht nur wegen der letzten Resultate der Gehirnforschung (siehe mein Buch „Der Letzte wird der Erste sein“ und meine diversen Editorials über die 3. Ebene). Wenn maßgebliche Forscher recht hätten, und die vollständige Determination menschlichen Verhaltens durch biologische, psychische oder soziale Sachverhalte zu belegen wäre, dann wäre jedes Gerede von Maßstäben moralisch richtigen Handelns hinfällig und Zeitverschwendung.
Ich meine, dass jeder Mensch in einer gegebenen Situation sich in der einzigen Weise verhält, in der er sich verhalten kann. Er hat nicht wirklich eine bewusste Wahl unter mehreren Optionen. Die hat er nur, wenn man das Ganze vom Ende her betrachtet, wie es ein Richter kann. Auch Victor weiß jetzt, dass er nur hätte sagen müssen: „Wenn ich meine Vision, die Abteilung WT-Vollkontakt, nicht innerhalb der EWTO in absehbarer Zeit verwirklichen kann, dann gehe ich nächsten Monat weg.“ Aber er konnte sich – offenbar – in dieser Lage nur in einer vorbestimmten (determinierten) Art verhalten.

Jetzt lasse ich zum Schluss dieser langen Epistel noch einmal meinen uralten Schüler, WT-Meister Xaver Hörmann, zu Wort kommen:

„Tu quoque mi fili Brute?“ (Viktor?)  (Auch Du, mein Sohn Brutus?)
Lieber Si-fu,
Du bist in der Geschichte wahrlich nicht allein. Gern würde ich Dir Treueschwüre übermitteln, aber das erschreckende Beispiel selbst des Apostelfürsten Petrus, der nach einem flammenden „ ... mein Leben will ich für Dich geben ...“ innerhalb weniger Stunden den Herrn vor dem ersten Hahnenschrei bei einer Dorfmagd (!) 3x verleugnete, lässt einen vor sich selbst erschrecken.
Was allerdings jemanden in der jetzigen Epoche, in der Du uns ein WT vorlegst, das nur mit dem Begriff  „genial“ zu bezeichnen ist, zu so einem Schritt veranlasst ??????
Aber wie sagt schon der Psalmist: „Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?“
Herzlichst
Dein – hoffentlich –  treuer und vor allem dankbarer Schüler Xaver Hörmann

Ich habe Victor bedingungslos verziehen und Ihr könnt das auch.

Weil mich aber ständig welche danach fragen, seit Meister Bills enttäuschter Brief kursiert, will ich zu meiner Freude hinzufügen, was Victor mir heute, am 18.1.2010, telefonisch versprach: Er will Master Bill noch im Januar endlich die Bescheinigung geben, dass GM Newman das Haus gehört, für das er Victor vor Jahren das Geld anvertraute.
Und – er will Bello Domenico ebenfalls noch in diesem Januar die hohe Geldsumme zurückgeben, die dieser für die Argentinienreise für ihn und seine Familie auslegte, die Victor dann zu kurzfristig absagte.
Victor verlässt die EWTO Ende dieses Monats, diesen Fakt müssen wir erst einmal so hinnehmen. Was Victors letzten Satz auf dem Video betrifft, so werden wir überlegen, ob trotz der in den letzten Jahren vorgefallenen Enttäuschungen, eine irgendwie geartete Zusammenarbeit zum Wohle der EWTO noch möglich ist, auch wenn er außerhalb der EWTO seine eigene Sache voranbringt.
Dennoch heißt verstehen und verzeihen nicht, blauäugig neue Risiken einzugehen. Victor muss uns durch sein weiteres Verhalten und durch tätige Reue zeigen, dass wir uns in Zukunft auf ihn verlassen können.  Das Vertrauen wird sich nicht von heute auf morgen wieder aufbauen lassen.  Aber wenn er z.B. seinen finanziellen Pflichten gegenüber Meister Bill und Bello Domenico nachkommt, wird das sicherlich zu seinen Gunsten gerechnet werden. 
Einige Schulleiter haben schon etwas mit Victor für die Zukunft geplant. Diese bitten wir um Geduld und auf den Verzicht voreiliger Schritte. Bitte wartet die offizielle Entscheidung der EWTO ab, für die wir sicher einige Wochen brauchen werden, und legt solange alles auf Eis, was Ihr mit Victor geplant haben möget.

Liebe winterliche Grüße aus Kiel

Euer
Sifu Keith R. Kernspecht

 

 

 

Victor Gutierrez Austrittsbotschaft  (Text des Videos):

„Ich möchte zu den Gründen meines Entschlusses Stellung nehmen.

Ich hatte mein Ziel in letzter Zeit, das war, dass WingTsun vollkontaktfähig wird, dass WingTsun sein Image wieder gewinnt als Kämpferstil. Ich hatte das Gefühl, dass so eine Sparte innerhalb der EWTO nötig wäre, aber ich habe nie wirklich das Gefühl gehabt, dass das wirklich auch zustande kommen würde und ich muss auch ehrlich zugeben, dass ich das nie so konkret vorgetragen habe und es Si-Fu nie so konkret mitgeteilt habe und deswegen wahrscheinlich auch Missverständnisse aufgetreten sind, die mir jetzt klar sind.

Mir ist klar, dass ich Menschen, die mir vertraut haben, irgendwo auch vielleicht nicht ganz so fair behandelt habe, weil ich durch dieses Gefühl, das ich hatte, einfach ihnen nicht klar gesagt habe, was passiert ist und wie es laufen würde, wenn ich diesen Wunsch nicht erfüllt kriegen würde.

Dadurch habe ich angefangen, Pläne hinter ihrem Rücken zu schmieden und wie ich meine Ziele verfolgen könnte und wie ich meinen Wunsch auch wirklich verwirklichen konnte.

Für mich ist es wichtig, dass ich das, was ich unterrichte, auch voll hinter stehe und das war nicht so, ich hatte einfach das Gefühl, dass ich das so da nicht verwirklichen kann.

Mir ist auch klar, dass ich Menschen, die mir volles Vertrauen geschenkt haben, so wie Master Bill, Großmeister Kernspecht und Andreas, Oliver und Giuseppe auch irgendwo hintergangen habe in ihrem Vertrauen.

Aber mir war das Ziel in dem Moment wichtiger und ich hab nur das Ziel vor Augen gehabt, was mir auch leid tut und ich immer dabei ein ganz schlechtes Gefühl hatte.

Jetzt muss ich sagen, dass, nachdem es so weit gekommen ist, dass ich einfach mein Ziel vor Augen hatte, und es wirklich auch persönlich verwirklichen wollte ohne die EWTO, ich zu einem klärenden Gespräch von Si-Fu eingeladen wurde, und habe gemerkt, dass Si-Fu und Oliver bei diesem Gespräch mir klar gemacht haben, dass ich in einer Zwickmühle war, die gar nicht so war. Es war nur mein Gefühl wie eine Wirklichkeit, wie eine Tatsache.

Ich bin froh, dass ich so mit ihnen reden konnte, was ich nie gedacht hätte, dass ich hätte so reden können mit ihnen, bin froh darüber und wir haben unsere, sagen wir mal, unsere Gemeinsamkeiten auch gesprochen, was uns auch wirklich verbindet, und ich bin froh darüber und wir sind damit verblieben, dass wir auch weiterhin in Zukunft irgendwo zusammenarbeiten werden. Das freut mich.“

Das Video mit der Stellungnahme von Victor Gutierrez könnt Ihr hier sehen: http://www.youtube.com/watch?v=FouK2XiY1xA