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Steinige Fortbildung für Meister

Auch Geschäftsführer und Lehrer an der Trainerakademie in Heidelberg – alles hochgraduierte Meister (!) – brauchen von Zeit zu Zeit ein Update von ihrem Großmeister. Deshalb rief Großmeister Kernspecht sie und weitere Meister und Nationaltrainer alle zu einem Treffen im Februar 2011 auf Fuerteventura zusammen. Täglich tauschten sie den gewohnten, gepflegten ebenen Hallenboden gegen den sandigen Strand mit direktem Meerblick unter südlicher Sonne. Einige weitere an den neuesten Entwicklungen Interessierte konnten ebenfalls am Kleingruppen-Unterricht teilnehmen.
Jetzt denkt jeder sofort: „Toll, die haben es aber gut!“ Aber nicht nur das WingTsun-Training barg Überraschungen, sondern auch der Sandstrand.

Fuerteventura gehört zum Archipel der vor Westafrika gelegenen Kanarischen Inseln– einer Gruppe von Vulkaninseln im Atlantischen Ozean. Mit 1.660 Quadratkilometern ist diese älteste Insel der Kanaren die zweitgrößte Insel des Archipels nach Teneriffa.
Der vulkanische Ursprung wird vor etwa 20,6 Millionen Jahren datiert. Der Großteil der Inselmasse entstand vor ca. fünf Millionen Jahren und ist seitdem durch Wind und Wetter stark erodiert. Das Vulkangestein ist zum Teil unter Sand verborgen. Der Sand besteht zu großen Teilen aus zerriebenen Meerestiergehäusen und ist kein Saharasand, wie die Nähe zu Afrika vermuten ließe.
Im Nordosten der Insel findet man, wenn man vom Inselflughafen der Hauptstadt Puerto del Rosario nach Corralejo fährt, große Sanddünenbereiche. Da kommt einem auf der Straße kurz vor dem Hotel auch schon einmal ein Fahrzeug entgegen, das man als Schneeräumer identifiziert. Allerdings schiebt er hier keinen Schnee, sondern befreit die Straße von den auf dieser Seite Fuerteventuras (dank des hier häufig recht kräftigen Windes) wanderfreudigen Sanddünen. So gesehen bei meiner Ankunft.
Glücklicherweise ließ, als die Trainingstage starteten, der bis dahin vorherrschende eisige Wind nach, und die Sonne und eine leichte Brise übernahmen das Regiment. Nach und nach konnte Schicht für Schicht des wegen der anfänglich noch frischen Temperaturen gewählten Zwiebellooks abgelegt werden. So weit, so gut!

Nun zu den Überraschungen: zuerst der Sand. Manch einer, der infolge einer Schubsattacke zu Boden gehen musste, bekam recht schmerzhaften Kontakt mit dem mehr oder weniger offensichtlich herumliegenden, unnachgiebigen, dunklen Lavagestein. Diese scharfkantigen Lavabrocken hatten wenig mit den „Hot Stones“ aus dem Wellness-Bereich gemein.
So waren alle schon hinreichend motiviert, die Angriffsprobleme aufmerksam im Stand zu lösen. Auf die Frage, ob er den Trainingsplatz mit Absicht so gewählt habe, kam von SiFu statt einer Antwort nur ein Augenzwickern. Im Laufe der Tage flogen dann immer wieder Steine in ein kleines Gebüsch, um die Trainingsfläche komfortabler und nachgiebiger zu gestalten.

Eigentlich kann man hier einen wunderbaren Vergleich zu den Trainierenden ziehen: Ein Ziel im WingTsun ist es, verformbar zu sein – wie der Sand. Aber an vielen Stellen weisen WingTsun-Schüler zunächst unnachgiebige Härten auf. So wie wir Stein für Stein den Sand von den harten, kantigen Steinen befreiten, arbeitet SiFu mit seinen Trainingsprogrammen daran, uns von unserer „Härte“ zu befreien und nach und nach geschmeidiger und nachgiebiger werden zu lassen.

Während des Trainings blieb aber für solche Überlegungen keine Zeit. Da war volle Konzentration angesagt: Nicht nur, weil die Übungen zum Teil recht komplex waren oder man sich aufs Timing dabei konzentrieren musste. SiFu machte sich darüber hinaus den Spaß, hin und wieder, während er mit jemandem trainierte oder kontrollierend durch die Trainingsgruppe ging, überraschend ein Trainingsmesser zu zücken und damit unvermutet anzugreifen.
Dass das zwar durchaus heitere Situationen im Training hervorrief, konnte aber nicht über den ernsten Hintergrund dieser Attacken hinwegtäuschen; denn mit einem unvermuteten Messerangriff kann man leider in heutigen Zeiten immer öfter konfrontiert werden. Um dafür sensibilisiert zu werden, dass man in einem Handgemenge schnell von einem Messer statt von einer Faust getroffen werden kann, soll dies bereits in den neuen Schülergradprogrammen beginnend trainiert werden. Schon dort sollen Aufmerksamkeit und Beweglichkeit hinreichend geübt werden.

Das war ein großes Thema, das SiFu mit seinen Meistern bearbeitete. Er vermittelte ihnen seine Ideen und zeigte auf, wo er bereits einen Trampelpfad durch den Bewegungsdschungel angelegt hat. Ihre Aufgabe wird es nun sein, dies für die Schüler in einen überschaubaren Weg mit Wegweisern auszubauen. Nicht unbedingt eine leichte Aufgabe; denn sie erfordert einen ständigen Spagat der Meister zwischen einerseits SiFus Schüler zu sein und andererseits Lehrer für ihre Schüler. Denen können sie das Gelernte nicht eins zu eins weitergeben. Das würde der Schüler, der den Weg noch nicht soweit gegangen ist, völlig überfordern.
So wie der Großmeister den ersten Trampelpfad im Bewegungsdschungel schafft, müssen die Meister diesen Pfad für die Schüler zum Weg ebnen. Dabei können sie ihnen zwar vielleicht einige Umwege ersparen, damit sie schneller vorankommen, müssen aber andererseits genügend Zeit geben, dass die Schüler ihn auch bewusst gehen können.

Dieses alles erfordert ständige Dialoge: vom Großmeister mit seinen Meistern, von den Meistern mit ihren Ausbildern, von den Ausbildern mit ihren Schülern. Dann ist eine breite Basis vorhanden, auf der weitere Entwicklungen aufgebaut werden können.

Die fünf Tage, an denen SiFu die Meister unterrichtete, waren randvoll mit Informationen. Meist begann alles mit einer „harmlosen“ Übung. Ganz schnell aber waren es dann komplexe Bewegungsabläufe auf Meister-, wenn nicht Großmeister-Niveau, bei denen nicht nur die optische Wahrnehmung und Aufmerksamkeit eine große Rolle spielten, sondern es außerdem auf ein ausgefeiltes Timing ankam.

Auf Fuerteventura wurde weiteres Wissen als Programm für die Schüler auf den Weg gebracht  – für sie wurden wieder vom Großmeister einige Steine durch die Meister aus dem Weg geräumt.

Text und Fotos: hm