Selbstverteidigung aus Sicht der Kommunikationswissenschaften – Teil 3
Körpersprache und nonverbale Kommunikation
Es gibt die von uns bewusst gesteuerte verbale Kommunikation. Mit der verbalen Kommunikation kann man komplexe und abstrakte Gesprächsinhalte übermitteln. Wenn es jedoch um die Vermittlung zwischenmenschlicher Botschaften geht, wird meist der ganze Körper durch Gestik und Mimik als Ausdrucksmittel gebraucht. Diese Ebene der Kommunikation übermittelt hauptsächlich Informationen über die Beziehung der Gesprächspartner zueinander. Sie ist ausschlaggebend für das subjektive Erleben der Gesprächssituation, insbesondere werden hier Emotionen, sowie deren äußerlich erkennbaren Auswirkungen eingesetzt. Diese Kommunikation wird weniger bewusst eingesetzt, sondern der Körper reagiert automatisch auf entsprechende Reize mit den dazugehörigen Handlungen. Nonverbale Signale zeigen Gefühle viel deutlicher an als Worte. In der Evolution gab es nonverbale Kommunikation schon lange bevor sich die Sprache ausbildete. Unsere Intuition ist es, die oftmals unbewusst nonverbale Reize aufnimmt und dem Bewusstsein signalisiert, dass das Bewegungsverhalten und die Körpersignale des Gesprächspartners nicht der verbalen Botschaft entsprechen, sondern vielleicht im starken Widerspruch dazu stehen. Die Wahrscheinlichkeit einer Verlässlichkeit dieser unbewusst aufgenommenen Informationen ist im Vergleich zum verbalen Informationsgehalt ungefähr fünfmal mal höher. Man nennt diese Signale auch Körpersprache. In der Vergangenheit konnte in der Wissenschaft nicht eindeutig bewiesen werden, ob Körpersprache angeboren ist oder nicht. Körpersprache ist ein wesentlicher Bestandteil zwischenmenschlicher Verständigung und erfordert keine verbalen Ausdrucksmittel. Körpersprache äußert sich durch im Rahmen der Sozialisation des Menschen erlernte Verhaltensmuster. Körpersprache ist ein überlieferter Code aus der Verbindung von genetisch bedingtem und einem erlerntem Verhalten. Dieser Code hat die Funktion, menschliche Beziehungen zu regulieren, Macht- und Strukturverhältnisse aufrechtzuerhalten, sowie soziale Strukturen zu festigen. Samy Molcho, einer der bekanntesten Pantomimen des 20. Jahrhunderts, hat festgestellt:
”Den größeren Teil der Mimik, Gebärden und Gesten, mit denen wir uns gegenüber anderen ausdrücken, haben wir uns durch Nachahmung oder Erziehung angewöhnt. Sie dienen dazu, unsere Gefühle darzustellen und sind, bei aller Subjektivität und Individualität, ein allgemein verbindlicher Code. Das heißt aber auch umgekehrt, dass diese uns angewöhnte Bewegungsweise unsere Gefühle mitbedingt.”
Samy Molcho
Ausprägungen der Körpersprache
Die Körpersprache wird als eigentliche, nonverbale Kommunikation verstanden. Sie hat folgende wesentlichen Ausprägungen:
- Kinästhetisches Element: Berühren, Streicheln, Schulterklopfen
- Visuelles Element: Winken, Nicken, Augenaufschlag
- Auditives Element: Husten, Räuspern, Zähneknirschen
- Olfaktorisches Element: Duften, Schwitzen, Rauchen
- Gustatorisches Element: Küssen, Lecken
- Geruch (Eigengeruch, Parfüm)
- Mimik (Gesichtsausdruck, Augenausdruck, Mundform)
- Kopfhaltung: (Blickkontakt, Neigung)
- Haltung und Bewegung der Hände (Gestik, Manipulationen)
- Stand (Körperneigung, -orientierung, Bewegungen, Beinhaltung)
- Sitzhaltung (Beinkreuzung, Winkel zwischen den Kommunizierenden)
Konfuzius, Rituale und Körpersprache
Die fünf konfuzianischen Tugenden sind:
- gegenseitige Liebe
- Rechtschaffenheit
- Gewissenhaftigkeit
- Ehrlichkeit
- Gegenseitigkeit
Aus diesen fünf Tugenden werden die drei sozialen Pflichten abgeleitet:
Loyalität
Chinesisch heißt diese Pflicht „Zhong“, was wörtlich Untertanentreue bedeutet. Hierunter ist das Treueverhältnis zwischen Schüler und Lehrer zu verstehen. Die Pflicht zur Treue des Schülers entspricht der Fürsorgepflicht des Lehrers. Es handelt sich also um ein auf Gegenseitigkeit basierende Prinzip, das in ein übergeordnetes Wertesystem eingebunden ist, um z.B. Auswüchse wie Kadavergehorsam auszuschließen. So würde z.B. durch die Verletzung von höheren Werten auch Ungehorsam zur Pflicht werden.
Kindliche Pietät
Damit ist im Wesentlichen die Liebe der Kinder zu ihren Eltern und darüber hinaus zu ihren Ahnen gemeint. Problematisch ist die dadurch entstehende, fast bedingungslose Achtung, die bis zur Unterwerfung führen kann. Wobei Konfuzius sicherlich keinen blinden Gehorsam gemeint hat, sondern Achtung, Respekt und Hilfsbereitschaft den Älteren gegenüber.
Anstand und Sitte
Anstand und Sitte regeln alle menschlichen Beziehungen und Umgangsformen, zwischen und untereinander, insbesondere die Beziehungen zwischen Vater – Sohn und Älterem Bruder – Jüngerem Bruder, tauchen im WingTsun zwischen Si-Fu und To-Dai, sowie zwischen Si-Hing und Si-Dai auf. Die Achtung vor dem Leben und den Mitmenschen prägen das Wirken des Konfuzius, dies wird durch die goldene Regel deutlich:
„Was du nicht willst, das man dir tut, das füg’ auch keinem anderen zu!“
Dadurch wird jetzt auch deutlich, dass die Verbeugung eigentlich eher eine Verneigung ist und Dankbarkeit und Respekt seinen Lehrern gegenüber ausdrückt. Aber ebenso einfach betrachtet ist dieses Ritual nur ein strukturgebendes Element des Unterrichtes, sozusagen wie das Pausensignal in westlichen Schulen. Es wird jedoch auch erkennbar, dass diese Rituale für die Struktur, den Zusammenhalt und den Umgang miteinander in der WingTsun-Schule nicht wegzudenken sind. Lehrer, die dieses Rituale nicht zelebrieren, handeln grob fahrlässig, da sie den Bestand ihrer Schule gefährden und zu einer Versportlichung ihrer Kampfkünste beitragen.
Die Verbeugung bzw. Verneigung
Einen gravierenden Unterschied zwischen Verbeugung und Verneigung gibt es nicht wirklich, da die Begriffe fließend ineinander übergehen und entsprechend verwendet werden. Grundsätzlich kann man jedoch sagen, dass die Verbeugung eher eine Geste der Unterwerfung ist, die im Bereich einiger Religionen verwendet wird. Die Verneigung ist eine etwas mildere Form und zeigt Respekt und Anerkennung des gesellschaftlichen Ranges, aber nicht notwendigerweise Unterwerfung. Es ist also richtiger in diesem Zusammenhang den Begriff Verneigung zu verwenden. Mit dieser Geste wird z.B. WingTsun der Si-Fu, Si-Gung oder Si-Jo begrüßt. Egal ob Verbeugung oder Verneigung, es handelt sich in jedem Fall um nonverbale Kommunikation. Während Engländer befremdlich auf das in Deutschland übliche Händeschütteln reagieren, so sind die Südeuropäer über die Distanziertheit der Nordeuropäer verwundert. Denn dort ist es eher üblich, sich mit einer Umarmung oder einem Wangenkuss zu begrüßen. In den Niederlanden z.B. erfolgt eine Begrüßung oftmals durch einen Blick in die Augen und einem leichten Kopfnicken.
Die typische WingTsun-Begrüßung
Jemandem die leeren Handflächen zu zeigen, funktioniert weltweit als Gruß, da man seinem Gegenüber zeigt, dass man unbewaffnet ist. Die aufrechte linke Hand stammt unter anderem aus dem Buddhismus und bedeutet Verehrung Buddhas. Zu den ersten Bewegungen, die ein WingTsun Schüler lernt, gehört die traditionelle Begrüßung. Diese Begrüßung nennt sich Bao-Quan-Li. Es handelt sich um eine Begrüßung ohne Verbeugung. Die linke Hand steht aufrecht, rechts daneben wird die rechte Faust gehalten. Beide Hände stehen in Höhe des Kinns. Mit dieser Geste werden die Mitschüler bzw. der Si-Hing oder die Si-Je begrüßt. Es gibt verschiedenste Variationen dieser Handhaltung. Bei einigen wird die aufrechte Hand geschlossen, bei anderen wiederum sind die Positionen der Hände vertauscht. Egal, welche Version der Geste verwendet wird, sie hat die folgenden Bedeutungen:
Die linke Hand symbolisiert angedeutet das chinesische Schriftzeichen für Mond und die rechte Hand das für Sonne. Für die Europäer ist die Kombination einfacher Zeichen zu komplexen Zeichengebilden gewöhnungsbedürftig. Dadurch entstehen jedoch vielfältige neue Schriftzeichen. So bedeutet z.B. die Vereinigung von Sonne und Mond in einem einzigen Schriftzeichen „Hell“. Dieses Handzeichen soll die Harmonie von Ying und Yang verkörpern.
Eine weitere Symbolik dieser Begrüßung basiert auf den Bedeutungen der Schriftzeichen. Die beiden Schriftzeichen zusammen ergeben das Wort „ming“, was soviel wie hell bzw. strahlend bedeutet. Ming ist jedoch auch die Dynastie (1368 bis 1644) in China, die nicht nur durch die Porzellanherstellung bekannt wurde, sondern den Höhepunkt der Kampfkünste erlebte. Als die Mandschus die Herrschaft übernahmen, begann die Qing-Dynastie (1644 – 1911). In dieser Zeit wurden viele Kung Fu-Schulen geschlossen und ein Shaolin-Kloster wurde von den Mandschus abgebrannt. Im Untergrund schlossen sich immer mehr Mönche zusammen und leiteten eine Rebellion gegen die Qing-Herrschaft ein. Diese Gruppierungen soll diese Handhaltung als Erkennungszeichen untereinander verwendet haben. Da sich darunter sehr viele Kampfkünstler befanden, ist auch der Bezug zu den Kampfkünsten über die Generationen bis heute erhalten geblieben.
Von Bildern und Vorbildern:
Bei der Begrüßung zu Beginn des Unterrichtes begrüßt der Si-Fu bzw. der Lehrer die Schüler, indem er die Geste der Schüler erwidert. Das bedeutet, dass der Si-Fu oftmals eine Verneigung und einen Handgruß ausführt. Hintergrund ist dabei, dass sich unter den Schülern z.B. ein Si-Hing oder Si-Suk des Sifus befindet, für den der Handgruß bestimmt ist. Der Schüler sollte daher genau wissen, wie er wen zu begrüßen hat. Oftmals passiert es jedoch aus Unkenntnis, dass ein Schüler seinen Si-Fu mit Verbeugung und Handgruß begrüßt. Das wäre dann so eigentlich nicht richtig. Diese Begrüßung wäre nur richtig, wenn neben dem Si-Fu noch ein Si-Hing stehen würde. Dann nämlich gilt die Verneigung dem Si-Fu und der Handgruß dem Si-Hing. Wer jetzt verwirrt sein sollte, wird spätestens beim nächsten Unterricht die Gelegenheit haben, diese Rituale genauer zu beobachten.
Unterschiede entstehen oftmals bei einer ungenauen Weitergabe an die nächste Generation. Auch wird regional unterschiedlich die Verneigung vor den Großmeistern durchgeführt. So wird, seit ich WingTsun lerne, in den Schulen meiner Lehrer nur eine Verneigung vor den Bildern Großmeister durchgeführt. Auch in meinen Schulen ist das so üblich, da an der Ehrenwand mittlerweile die Bilder von fünf Lehrer-Generationen hängen. Es würde dann zu einem „Extrem-Verneigen“ entarten und die Begrüßungszeremonie in ihrem Sinn entstellen. Letztendlich kommt es ja nicht auf die Anzahl der Verneigungen an, sondern auf die innere Einstellung zu jeder einzelnen. So ist es z.B. in der Hongkonger Schule von GGM Leung Ting so, dass das Bild von GGM Yip Man vor dem eigentlichen Unterrichtsraum hängt. Daher ist es dort üblich, sich vor dem Betreten des Unterrichtsraumes vor dem Bild von GGM Yip Man zu verneigen. Dass dieses Verhalten verinnerlicht wird, merke ich manchmal, wenn ich mich dabei ertappe, wie ich beim Betreten oder Verlassen größerer Räume, die nichts mit WingTsun zu tun haben, instinktiv mit einem kurzen Blick die Bilder der Großmeister suche.
Sifu Thorsten de Vries
3. Lehrergrad WingTsun