WingTsun

Nur das Gesamtbild zählt!

WTW-online im Gespräch mit Sifu Jörg Kilian, 5. PG WT, der seit einigen Jahren im Wechsel mit den anderen Lehrern der Trainerakademie am Wochenende auf Schloss Langenzell unterrichtet.

WTW: Wie kamst du zum WT?

Sifu Jörg: Durch einen Zufall. Ich hatte bereits einige Erfahrungen im Bereich Kampfsport gesammelt, als mir ein Freund von der Kampfkunst WingTsun erzählte und mir vorschwärmte, wie effektiv diese sei. Trotz anfänglicher Skepsis nahm ich deshalb an einem Training bei Sifu Frank Ringeisen teil. Was ich dort erlebte, übertraf meine Vorstellungen und Erwartungen: In Sekundenbruchteilen gelang es Sifu Frank, mich kampfunfähig zu machen und mich so vom WingTsun zu überzeugen, dass es von dem Moment an zu einem wichtigen Teil meines Lebens wurde.     

WTW: Du vermittelst in jeder deiner Trainingseinheiten deinen Schülern viel Hintergrundwissen. Was hat es damit auf sich?

Sifu Jörg: Mit dem Stichwort „Hintergrundwissen“ sprichst du an, dass ich die Techniken immer in Verbindung mit dem ihnen zugrunde liegenden Konzept darstelle. Unter Berücksichtigung seines jeweiligen Wissenstandes, versuche ich dem Schüler durch die Einbeziehung des entsprechenden Mottos eine Art „Richtlinie“ an die Hand zu geben, die ihm dabei helfen soll, die Techniken besser zu verstehen. Diese Art des Unterrichtens trägt meiner Meinung nach dazu bei, dem Schüler Lösungen zu zeigen und nicht dessen Probleme in den Vordergrund zu stellen.

WTW: Lassen sich fundierte Erkenntnisse im WingTsun durch Eigenanalyse gewinnen?

Sifu Jörg: Den größten Teil meiner bisherigen Erkenntnisse verdanke ich meinen Lehrern und ihren – teilweise auch unterschiedlichen – Unterrichtskonzepten. Einige Einsichten ergaben sich aber auch durch die Bewegungsstruktur selbst. Als ich z. B. mit dem Holzpuppentraining begann, bei dem der Gegenstand vor mir plötzlich starr und unnachgiebig war, wurde mir klar, warum ich Schrittarbeit und eine genaue Winkelstellung einsetzen und beachten musste. So können durch praktisches Hinterfragen einige Antworten gefunden werden.

WTW: Welche Lehren hast du aus dem WT für dich persönlich gezogen?

Sifu Jörg: Die WingTsun-Prinzipien sind im alltäglichen Leben in vielen Situationen, wie z. B. auch im Miteinander mit der Familie, mit Freunden oder Kollegen, hilfreich, übertragbar und anwendbar. WingTsun hat mein Leben in verschiedenen Bereichen und bei einigen Entscheidungen stark beeinflusst, weil es mir den Weg und die Notwendigkeit gezeigt hat, auf Situationen flexibel zu reagieren und bewusst zu leben, was natürlich die bewusste Wahrnehmung von Vorgängen und Ereignissen und deren Analyse mit einbezieht. 

WTW: Wie gestaltest du dein eigenes Training?

Sifu Jörg: Ich trainiere täglich, damit kein Stillstand eintritt. Die verschiedenen Formen spielen dabei für mich eine große Rolle. Wenn man weiß, was man üben soll, kommt der Aspekt des „bewussten Trainings“ hinzu. Der  Beginn des „WT-Lernens“ besteht aus festgelegten Bewegungsmustern mit bestimmten Winkeln. Durch tägliches Üben bekommen diese Bewegungen eine Funktion und werden dadurch zur Technik.

WTW: Was machst du, wenn du nicht WT machst?

Sifu Jörg: Neben WingTsun, meiner Familie, die mich bei meinen Aktivitäten rund ums WT unterstützt, und meinem Beruf als Angestellter im Öffentlichen Dienst bleibt mir leider nicht viel Zeit für andere Hobbys. Gelegentlich lese und zeichne ich noch, wenn ich dazu komme. 

WTW: Hat dir WT in Konfliktsituationen schon mal geholfen?

Sifu Jörg: Ja, es gab ein paar Situationen, in denen ich mich mit WingTsun verteidigen musste, die meisten Konflikte konnte ich allerdings auf der verbalen Ebene lösen.

WTW: Wie schon von dir erwähnt, lebt WT als System besonders von seinen „Mottos“. Nach welchem Motto lebst du?

Sifu Jörg: Ich versuche, mich und andere nicht immer so ernst zu nehmen und alles nicht so verbissen zu sehen.

WTW: Welchen Rat möchtest du den Schülern und Lesern für ihren Weg zur Meisterschaft geben?

Sifu Jörg: Immer und stets an sich zu arbeiten, was auch passiert. Es wird immer Schwierigkeiten geben, die sich einem in den Weg stellen, aber gerade diese Schwierigkeiten und ihre Lösungen sind es letztendlich, die die persönliche Meisterschaft ein Stück näher bringen. Hierzu gehört natürlich auch, dass man Veränderungen gegenüber offen sein sollte, um nicht in alten Handlungsmustern zu erstarren. Außerdem sollte man sich trotz konsequenter Arbeit und Zielverfolgung keinen unnötigen Druck aufbauen. Denn Druck bringt niemanden automatisch schneller ans Ziel, wie ein bekanntes Phänomen aus dem Alltag zeigt: Während einer Autofahrt, bei der man unter Zeitdruck steht, gerät man nur an rote Ampeln, während bei einer anderen, völlig entspannten Fahrt, plötzlich jede Ampel grün zeigt.

WTW: Welche weiteren Ziele hast du noch?

Sifu Jörg: Sowohl privat als auch in Bezug auf WingTsun habe ich noch viele Ideen und Projekte, die ich umsetzen möchte, deshalb wird es bei mir in naher Zukunft keinen Stillstand geben.

WTW: Was ist dir außerdem noch wichtig?

Sifu Jörg: Immer von Menschen umgeben zu sein, mit denen ich produktiv arbeiten und gemeinsam Pläne verwirklichen kann. Die Zusammenarbeit mit anderen ist mir deshalb so wichtig, weil erst in der Gemeinschaft Erkenntnisse zusammengetragen werden und sich zu einem Gesamtbild ergänzen, das ein einzelner nicht sehen kann. Hierzu fällt mir das Beispiel mit den drei Blinden ein, die versuchen, einen Elefanten zu beschreiben. Jeder entdeckt auf seine Weise Einzelheiten: Der erste erkennt die raue Oberfläche der Haut, der zweite die enorme Größe des Tieres und der Dritte die Extremitäten und die Ohren. Jeder für sich ist nicht in der Lage, das Gesamtbild zu beschreiben. Erst ihr gemeinsames Wissen lässt diesen Elefanten aussehen, wie er tatsächlich ist. Das bedeutet für mich, dass in einer Gemeinschaft, wie z. B. der EWTO, jeder von jedem profitiert. So erschaffen und kreieren Schüler und Lehrer das WT gemeinsam; sie gehen zusammen auf einem Weg. Je länger dieser Weg gemeinsam gegangen wird, umso produktiver werden die daraus entstehenden Erkenntnisse sein. Wichtig ist mir zudem, mir selbst und meinen Prinzipien treu zu bleiben und ein hohes Bewusstsein für die Dinge, die um mich herum passieren, zu entwickeln. Kompromissbereitschaft und die Fähigkeit, die Dinge globaler zu sehen, gehören ebenfalls dazu. 

WTW: Sifu Jörg vielen Dank für das ausführliche Interview.

Zusammengestellt von Mirko Kannenwischer