"Niemals empört etwas mehr als Ungerechtigkeit" Immanuel Kant
Weshalb wird unser Kollege, der unserer Meinung nach nicht mehr oder sogar weniger leistet als wir, vor uns befördert? Wieso bevorzugen Deine Eltern Deinen Bruder? Warum bekommt Dein Tischnachbar, der immer von Dir abschreibt, in Biologie eine Zwei und Du nur eine Drei? Wieso kommt Dein Kollege, der sich immer vor der Arbeit drückt, damit durch? Weshalb musste mein Vater, der herzensgut war, schon früh an Krebs sterben, während der Gangsterboss seinen neunzigsten Geburtstag feiert?
Weshalb gibt es so viel Leid, Schmerz, Krankheit, Naturkatastrophen und Kriege auf der Welt? Weshalb sterben unschuldige kleine Kinder? Wenn es einen (gütigen) Gott gibt, wie kann der Auschwitz zulassen?
Weshalb kannst Du Dir nichts leisten und der Nachbar gewinnt ’ne Million? Du hast Dich zehn Jahre um die alte kranke Oma gekümmert, aber erben tut ein anderer Verwandter, der sich nie sehen ließ.
Echte oder vermeintliche Ungerechtigkeiten lauern überall.
Nichts ist so energieraubend und so schädlich für unser Immunsystem und damit für unsere Gesundheit wie verletzter Gerechtigkeitssinn. Das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, gehört zu den bittersten und schmerzlichsten menschlichen Enttäuschungen, man fühlt sich falsch eingeschätzt, missachtet, erniedrigt. Unser Selbstwertgefühl gerät ins Wanken und unser Weltbild aus den Fugen. Alles woran wir geglaubt haben, an die Belohnung für die Guten und an die Strafe für die Schlechten, ist in Frage gestellt. Zweifel am eigenen Wert werden stärker und erzeugen Aggressivität oder resignierenden Rückzug und Depressionen.
Hält dieser Zustand an, entwickelt sich aus verletztem Gerechtigkeitssinn ständiges Misstrauen gegen jedermann, krankhafter Verfolgungswahn und zerstörerischer Neid. Wir leiden, weil wir der Illusion erlegen sind, dass dieses Leben auf der Erde gerecht sein kann. Bei jedem Auftauchen vermeintlicher Ungerechtigkeit sehen wir uns ent-täuscht. Man kann aber nur ent-täuscht werden, wenn man sich vorher ge-täuscht hat. Und die Annahme, dass das Erdenleben sich nach unseren menschlichen Vorstellungen von Gerechtigkeit richtet, ist eine Illusion, ist eine Täuschung.
Das Leben auf der Erde kann nicht gerecht sein, weil wir den Plan nicht kennen können, wenn es denn einen gibt.
Nach Gödels mathematisch-logischem Theorem können wir erst wissen, ob es eine Ordnung gibt, wenn wir sie sehen. Aber wir können nicht wissen, dass es keine Ordnung gibt, nur weil wir sie nicht sehen. Uns fehlt die Kenntnis des Zusammenhanges.
Alles hat eine Ursache, aber nicht alles hat ein Ziel. Wir kennen doch nicht einmal den Sinn unseres Lebens, wir wissen doch nicht wirklich, welchem Zweck unser Dasein dienen soll. Wir wissen, dass die Erde nicht der Mittelpunk des ganzen Universums ist, aber jeder Mensch hält sich in maßloser Selbst-Überschätzung für das Zentrum der Welt. Jeder ist seiner Meinung nach der Wichtigste und bezieht alles, was um ihn herum geschieht, auf sich.
Tatsächlich aber kommen viele so empfundene Ungerechtigkeiten nicht dadurch zustande, dass jemand sich gegen uns persönlich entscheidet, sondern dass Gegebenheiten, Gesetzmäßigkeiten und Sachzwänge herrschen, auf die weder wir noch der, dem wir gerne die Schuld geben, Einfluss hätten. Mich persönlich tröstet diese Erkenntis!
Kosmologisch gesehen unterstehen wir hier auf der Erde je mehr Gesetzen, je weiter wir vom Ursprung, vom Willen der Schöpfung entfernt sind. Ich bin mir sicher, dass dieselben Strukturen die für die Welt, den Makrokosmos, auch für den Menschen, den Mikrokosmos gelten. Wie innen so außen, wie oben so unten.
Wie schaut es im Mikrokosmos Mensch aus? Nehmen wir den Menschen als Absolutes. Wie weit reicht sein Wille in seinem eigenen Körper? Er kann über seine Bewegungen herrschen. Seine Gliedmaßen, sogar seine Atmung unterstehen seinem Willen. Wenn er sich auf seine Handfläche konzentriert, kann er sie sogar zum Teil fühlen, Großmeister Leung Ting mag sogar die Durchblutung seiner Handfläche so steigern zu können, dass diese purpurrot wird. Aber irgendwo ist Schluss. So reicht der Wille des Menschen z.B. nicht bis in die einzelnen Zellen. Die einzelnen Zellen unterstehen Gesetzen, die vom Menschen nicht zu beeinflussen sind, tatsächlich sind sie ihm ein Rätsel. Je tiefer die Befehlsebene ist, je weiter unten man sich befindet, desto mehr Gesetzmäßigkeiten untersteht man und desto mehr unkontrollierbare Ungerechtigkeiten geschehen, die nichts mit dem ursprünglichen Plan zu tun haben, aber trotzdem passieren.
Analog dazu verhält es sich mit dem Makrokosmos: Der Schöpfungsstrahl reicht vom Absoluten (Brahman in der Hindu-Terminologie) über alle Welten, alle Sonnen, unsere Sonne, über die Planeten zu unserer Erde.
Diese kosmologische Sicht, die uns auch einen Blick in den nächtlichen gestirnten Himmel verschaffen kann, raubt uns sehr schnell die Illusion unserer Besonderheit. Unsere Rolle im Universum ist völlig unbedeutend. Am Menschen wird die große Welt nicht genesen, denn sie ist Hunderte von Millionen Jahren gut ohne uns ausgekommen. Wenn es hoch kommt, können wir die Erde vernichten, ohne dass dieses gesamtkosmologisch Auswirkungen hätte. Unsere Position im Universum ist eher unbedeutend und sehr benachteiligt, da wir zu vielen Gesetzen unterstehen.
Wenn man sieht, wie viele (auch sehr kluge) Leute Horoskope lesen und ihr Leben zum Teil danach ausrichten, könnte einem der Gedanke kommen, dass vielleicht doch etwas daran ist und dass gewisse Stimmungen und Irritationen, vielleicht sogar Massenkrankheiten und Psychosen wie Kriegslust und Aggressionen dem Einfluss des Kosmos zuzuschreiben sind.
Aber verlassen wir den Makrokosmos, bevor Ihr mich für einen Spinner haltet. So ein Kosmos ist aber auch der Sportverband, in dem Du Mitglied bist, die Firma, in der Du schaffst oder die Schule, in der Du die Bank drückst. Auch hier wirst Du immer wieder Deinen Teil an Ungerechtigkeit er-leben. Je größer der jeweilige Kosmos, desto mehr unbekannte Größen, desto mehr Gesetzmäßigkeiten und Sachzwänge, in deren Mahlwerk Du unverschuldet geraten kannst. Je weiter Du vom Ursprung der Schöpfung eines Kosmos entfernt bist, desto mehr herrscht der Zufall, desto mehr Dinge fallen uns zu, desto mehr Dinge geschehen, ohne dass sie sich persönlich gegen Dich richten. Wenn es überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit geben kann, dann in ganz kleinem Kreis, etwa in einer kleinen überschaubaren Familie: Mutter, Vater und Kinder. Sobald es noch Großeltern, Onkel und Tanten usw. gibt, ist Gerechtigkeit nicht mehr zu erhoffen.
Wer dieses für sich als erlebte Wahrheit erkennt und sich damit abgefunden hat, wird vermeintliche Ungerechtigkeiten weniger persönlich nehmen und sich nicht grundsätzlich als Person gemobbt, benachteiligt oder erniedrigt fühlen.
Wo in der Natur gibt es Gerechtigkeit? Die Elster raubt Eier aus dem Amselnest. Die Katze frisst Mäuse.
Über Ungerechtigkeit auch nur einen Augenblick zu jammern, ist Energieverschwendung, und kaum eine negative Emotion vergeudet soviel kostbare Lebensenergie wie verletztes Gerechtigkeitsempfinden. Kostbare Energie, die wir dringend benötigen, um wach zu werden, um uns konzentrieren zu können, um uns nicht ständig zu vergessen ... Indem wir nämlich wacher, bewusster werden, nehmen wir unsere persönliche Evolution in die eigenen Hände und können eine höhere Bewusstseinsstufe erreichen, in der wir die Dinge um uns herum klarer sehen und besser verstehen.
Und mit dem Verständnis kommt die Toleranz für den anderen. Wie können wir gerechtes Verhalten von anderen erwarten, wenn wir selbst nicht wirklich dazu fähig sind?
Wenn jemand nicht richtig wach ist, wenn jemand im ständigen Halbschlaf ist und wie ein Automat reagiert, kann man von dem gerechtes Verhalten erwarten? Kann jemand, der die Dinge mit schläfrig geschlossenen Augen wie durch einen dichten Vorhang wahrnimmt, wirklich verantwortlich handeln? Kann ein Automat gerecht sein?
In den Wörtern steckt oft schon tiefes Wissen, so auch im Wort ge-recht. Ein Gerechter ist ein Auf-rechter, einer, der nicht in alle Richtungen hin und her schwankt, durch äußere Umstände nicht ständig verändert wird. Ein Mensch im wahren Sinne der Evolution, der der ausbalanciert und im Gleichgewicht ist, weil er Bewegung und Instinkte, Emotionen und Triebe und seinen Intellekt in ausgewogener, harmonischer Weise ausgebildet hat. Nur so ein Mensch, der sein Potential voll genutzt hat, von unserem Zustand also weit entfernt ist, kann gerecht denken, fühlen und handeln.
Was ein nicht ausbalancierter, nicht in seiner Mitte ruhender Mensch gerecht nennt, gilt für den anderen als ungerecht. Gerecht ist, was mir nützt und ungerecht, was mir schadet. Als gerecht wird gerne empfunden, was einem als Anerkennung zusteht, aber nicht so sehr was man als Strafe verdient. Strafe wird nur als gerecht empfunden, wenn sie nicht uns selbst trifft.
Nicht einmal ein einzelner Erleuchteter könnte wirklich gerecht sein, weil auch er wenn auch zu einem geringeren Grade den Gesetzmäßigkeiten untersteht, ganz frei wird man nie, man begibt sich nur in eine andere Abhängigkeit diesmal von einer höheren Ebene.
Da nur Menschen einer bestimmten Bewusstseinstufe, nennen wir sie wache Menschen oder wachere Menschen, einander verstehen können, kann es nur unter solchen Menschen, innerhalb ihres kleinen geschlossenen Kreises, Ansätze von Gerechtigkeit geben.
Hören wir also auf, von Ungerechtigkeit so zu sprechen, als sei es die Ausnahme. Tatsächlich ist Gerechtigkeit in dieser Welt die Ausnahme! Ob uns das nun passt oder nicht, wir müssen es als nicht zu ändern hinnehmen und uns damit abfinden. Wenn wir den Gegner nicht wegdrücken können, drücken wir uns von ihm weg, das heißt, wir gewinnen Abstand. Wir können die Dinge nicht ändern, also ändern wir unsere Reaktionen auf die Ereignisse. Alles andere ist dumm und sinnlose Verschwendung von Energie!
Wenn die Welt nicht gerecht sein kann, bedeutet das aber nicht zwangsläufig, dass Du nicht versuchen darfst, sie etwas gerechter und menschenfreundlicher zu machen. Hier macht so tun als ob Sinn: Tu so, als seist Du ein Aufgewachter, ein Erleuchteter und mach anderen das Leben leichter!
Aus der Erkenntnis heraus, dass die Welt, dass das Leben um uns herum nicht gerecht sein kann, sollte nun aber nicht der falsche Schluss gezogen werden, dass selbst gerecht zu handeln sich nicht lohnt. Damit würden wir einer weiteren Täuschung unterliegen.
Tatsächlich wird der Gerechte für sein gerechtes, ethisches Handeln belohnt. Schon vor 2.500 Jahren lehrten Philosophen, dass gerechtes Handeln uns zu glücklichen Menschen macht. Nun liefert uns die Hirnforschung dafür den Beweis, den ich so explizit erst bei Prof. Detlef Linke fand:
Die Hirnregionen, welche für die Verhaltenssteuerung entscheidend sind und einen Ausgleich zwischen den verschiedenen Impulsen ermöglichen, sind selber mit biologischen Mechanismen ausgestattet, die mit dem Glück zu tun haben. Dies bedeutet, dass ein gerechter Umgang mit anderen Menschen selber bereits jene Hirnmechanismen belebt, welche für die Erfahrung von Glück unabdingbar einbezogen werden müssen. Es handelt sich um die mit dem Transmitterstoff Seroton arbeitenden präfontalen Regionen der Hirnrinde.
Reden wir uns also nicht ein, dass die Ungerechten und Unmoralischen mit allem durchkommen und die Anständigen die Dummen sind und nur das Nachsehen haben.
Das stimmt nicht, wenn es auch oberflächlich und kurzfristig oft so erscheinen mag.
Nach dem Lebensgesetz der Resonanz hilft uns das Leben, wenn wir anderen helfen. Besonders dann, wenn wir es im Geheimen tun, ohne dabei auf den Effekt bei anderen zu achten, dann wird laut Matthäus VI, 1-4, „Ihr Vater, der alles, was im Geheimen geschieht, sieht, wird Euch dafür im Geheimen entschädigen.“
Gerechtes Handeln sorgt für seine eigene Belohnung in der äußeren Welt durch Gesundheit und in der inneren Welt durch ein Glücksgefühl.
Die äußere Welt, so sagen viele Weise, ist die Welt der Illusion, es ist die innere Welt, die wirklich zählt, in der man wirklich ist und nur diese Welt entscheidet, ob wir uns gut drauf oder mies fühlen.
Wen das nicht tröstet, der lässt sich vielleicht von Platon versöhnen:
„... und was die Ungerechten betrifft, so sage ich, dass der Großteil von ihnen, selbst wenn sie in ihrer Jugend davonkommen, schließlich erkannt werden und am Ende ihres Weges wie Narren dastehen. Und wenn sie alt und elend geworden sind, werden sie von Fremden und Einheimischen verhöhnt; sie werden geschlagen und dann werden diese Dinge zu hören sein, die nicht für höfliche Ohren bestimmt sind ...“
Keith R. Kernspecht
PS: Ich habe dieses Editorial vor sehr langer Zeit schon einmal für einen kleineren Leserkreis veröffentlicht und jetzt für die WTW-online Leser überarbeitet.