WingTsun

Mein Weg zum WingTsun

Mein Verhältnis zu Sport hielt sich in jungen Jahren in Grenzen. Das Kapitel Kampfsport existierte in meinem Kopf gar nicht. Dass es zudem auch Kampfkünste gibt, war mir völlig fremd. Ich hatte nur eine Leidenschaft: das Motorradfahren und eine große Liebe für alte Maschinen und deren Instandsetzung.

Aber genau das sollte mein Leben stark verändern. Mit 19 Jahren bin ich bedingt durch einen schweren Motorradunfall über ein Muskelaufbautraining zum Kraftsport gekommen. Ich war ernsthaft der Meinung, mich über das Bodybuilding so zu stärken, dass ich mich besser wehren könnte und zudem die Menschen aufgrund einer bestimmten Körperfülle Respekt vor mir hätten. Da ich ein sehr ehrgeiziger Mensch bin, verfolgte ich das Ziel, meinen Körper mit allen Konsequenzen immer weiter auszubauen, das heißt Ernährung, regelmäßiges Training, usw. Diese Geschichte erstreckte sich bis zu meinem 28. Lebensjahr und noch darüber hinaus. Parallel dazu betrieb ich genauso exzessiv Surf- und Radsport.
Doch dann ist etwas mit mir passiert, was wohl fast jeder Mensch erfährt, wenn er älter wird. Ich fing an, das, was ich tue, zu hinterfragen; suchte nach den wahren Motiven für viele meiner Handlungen, Hobbys, usw. Ich begriff, dass ich in all meinen ausgeübten Sportarten schon lange am Limit war und diese Limits auch nicht durchbrechen konnte oder wollte. Es stellte sich ein stupider Automatismus ein und das Schlimmste war, zu bemerken, dass ich mich nur noch halbherzig quälte, um eine gute Figur zu machen. Nachdem ich dann auch noch meine Meisterausbildung beendet hatte, einen Job bekam und mein Häuschen gebaut war, überkam mich ein sehr seltsames Gefühl. Das Gefühl keine Herausforderung zu haben. Klar brachten Beruf, Freunde und Familie Herausforderungen mit sich, aber ich suchte ein Hobby, das ohne Limits war und mich immer wieder herausforderte und vor allen Dingen begeisterte. Ich liebe es, begeistert zu sein. So etwa in meinem 32. Lebensjahr lernte ich über Freunde Heiko kennen. Am Anfang war er für mich nur ein durchgeknallter und lustiger Typ. Auf die Frage, was er denn so als Hobby betrieb, trat ich eine Lawine los. Ich hörte zum ersten Mal in meinem Leben die Worte WingTsun. Bei seinen Ausführungen über WingTsun sah ich in seinen Augen so ein Flackern, das mir klar war, dass dies für ihn mehr als nur ein Hobby war. In den folgenden Tagen kam mir WT immer wieder in den Kopf und ich bemerkte, dass ich einfach nur feige war, an einem Training teilzunehmen. Da ich aber schon seit einiger Zeit versuchte, an mir zu arbeiten und immer, wenn mir Ängste auffielen, ich in die Ecke schaute, vor der ich Angst hatte, ging ich doch zum ersten Probetraining. Mit dem einzigen Wissen, dass WT etwas mit Selbstverteidigung zu tun hat, kam ich nun in den Unterrichtsraum und traf auf meinen heutigen Si-Hing und übte irgend etwas, ohne genau den Hintergrund zu verstehen. Doch eins war neu: ich war, ohne genau zu wissen was ich tue, völlig begeistert. Und dies war ein tolles Gefühl und kein rationaler Gedanke. So war der Grundstein für mein WT-Studium gelegt.

Mein Weg durch die 12 Schülergrade

Im Februar 1998 startete ich mit dem WingTsun-Training.

Grundstufe von Februar 1998 bis ca. März 1999:

Praktisch
Das Erlernen der Vorkampfstellung und dem dazugehörigen Keil ist das Erste, was ich bewusst gelernt habe. Ich befasste mich weiter in den ersten vier Schülergraden mit dem Ablauf der 1. + 2. Form, dem Lat-Sao und einigen Grundtechniken wie Kettenfauststöße, Vorwärtsschritt, Wendung und der Zentrallinie.

Theoretisch
In dieser Zeit habe ich kaum etwas über WT gelesen. Das praktische Training und die Erläuterungen meines Si-Hing reichten vollkommen aus, um genug Input zu bekommen. Ich wollte noch gar nicht so viel von der WT-Umwelt wissen. Warum, weiß ich nicht, es war einfach so.

Subjektives Empfinden
Ich merkte genau, das gefunden zu haben, was ich immer gesucht hatte. Es war eine komische Situation für mich. War ich im Beruf doch derjenige, der ausbildete und führte und ein bestimmtes Mehr an Wissen mitbrachte, so war ich plötzlich derjenige, der nichts wusste.

Mittelstufe von April 1999 bis September 2000:

Praktisch
Die Begegnung mit der 1. Sektion Chi-Sao, welche für mich am Anfang eine große Qual war. Denn ich war durch jahrelanges Krafttraining so verkürzt, dass es unmöglich war, vernünftige Winkel hinzubekommen. Ich machte also parallel zum WT-Training sehr viel Gymnastik und es wurde in der Tat besser. Zudem wurde weiter an den Grundtechniken wie Vorwärtsschritt/Fauststoß, Wendung/Fauststoß und 1. + 2. Form gearbeitet. Dann plötzlich kam BlitzDefence und alles war erst einmal anders. Es fiel uns allen schwer, anstatt einfach aus der Vorkampfstellung los zu stürmen, jetzt die Psychologie des Ritualkampfes mit einzubeziehen und erst gewisse Stufen abzuwarten. Aber je mehr wir das trainierten, umso mehr gefiel es uns. Zum Ende dieser Zeit wurde ich von meinem Si-Hing auf die Übungsleiterprüfung vorbereitet.

Theoretisch
In dieser Zeit las ich das Buch „Vom Zweikampf" und habe damals gedacht „einfach lesen und du hast mehr Verständnis". Gelesen habe ich es, aber verstanden habe ich es zu dieser Zeit noch nicht. Das weiß ich aber erst jetzt. Vorbereitung auf Übungsleiter. Hierzu Durcharbeiten des neuen Buches „BlitzDefence – Angriff ist die beste Verteidigung", Lernen des Paragraphen 32, wie ist die EWTO aufgebaut, usw.

Subjektives Empfinden
So langsam bekam ich ein wenig Verständnis für den Aufbau der SG-Programme und wie diese mich dann an einen Kampf heranführen sollen. Aber ich ahnte auch, dass der Weg, eine Konfliktsituation mit einem üblen Schläger zu bestehen, ein noch sehr langer ist. Und ich fühlte, wie stark meine Angst mich immer noch schon bei einfachen Freikampfsituationen beeinflusste.

Oberstufe von September 2000 bis März 2002:

Praktisch
Erlernen der Programme, Stockkampf, Kampf gegen mehrere Angreifer und sanfte Mittel. Diese Programme haben alle sehr viel Spaß gemacht. Die Vorteile waren, dass man lernt, sich besser zu bewegen und konsequenter vorzugehen. Insgesamt hat sich dadurch mein Verhalten im Zweikampf stark verbessert. Meine Angst vor Treffern ist ein großes Stück gesunken und das Vertrauen in das, was ich bisher gelernt habe, wurde größer. Aber mein Gefühl ist auch, dass die Abwehr gegen Angreifer mit Waffen nur Sinn macht, wenn der Angreifer sich mit seiner gewählten Waffe nicht auskennt. Ganz übel stelle ich mir die Begegnung mit sogenannten Messerjockeln vor. Ich weiß, dass ich einen Messerangriff in meinem WT-Stadium nicht ohne starke Verletzungen überstehen würde. Natürlich haben mich auch in dieser Zeit die 1. + 2. Form sowie die 1. Sektion Chi Sao begleitet. Zudem haben wir alle Grundtechniken weiter trainiert. Im Dezember 2000 habe ich an einem Übungsleiterlehrgang teilgenommen und mit der Prüfung zum 10. SG abgeschlossen. Die Prüfung zum 10. SG legte ich bei der 25 Jahre-EWTO-Feier ab. War eine tolle Feier! Im März 2002 habe ich dann meine 12. SG-Prüfung erfolgreich abgelegt. Im Dezember 2002 habe ich an einem Trainer-1-Lehrgang teilgenommen.

Theoretisch
Habe mich nun mehr für die Geschichte des WT interessiert. Zum zweiten Mal das Buch „Vom Zweikampf" gelesen und am Ende das Gefühl gehabt, ein ganz anderes Buch wie beim ersten Mal gelesen zu haben. Als Vorbereitung auf Trainer 1 die dafür notwendigen Kapitel durchgearbeitet. Im Internet nach Infos gesurft.

Subjektives Empfinden
Irgendwie war es ein tolles Gefühl, den 12. SG abgearbeitet zu haben. Doch schnell merkte ich, dass ich das Gelernte immer wieder üben muss und dass alles erst jetzt richtig anfängt. Trotz 12. SG viele Probleme und Fehler im Zweikampf und das frustete mich. Die große Frage, ob ich von mir zuviel erwarte oder ob ich vieles falsch oder gar nicht verstanden hatte. Heute weiß ich, dass ich geduldig sein muss.

Seit Februar 2002 arbeite ich nun am 1.TG-Programm und komme ganz gut voran. Dies liegt zum einen an meinem Si-Hing und zum anderen habe ich das große Glück, einen tollen Trainingspartner gefunden zu haben, mit dem ich mittlerweile vier Jahre trainiere. Ich möchte gerne im Herbst 2003 meine Prüfungen zum 1.TG ablegen und hoffe, dass ich technisch fit genug bin.
Zudem habe ich im Sommer 2002 an einem Übungsleiterseminar bei Sabine Mackrodt und Emanuel Kellert teilgenommen. Das war sehr interessant und informativ. Bei meiner Arbeit in der Schule in Bezug auf Frauen SV hat es mir sehr geholfen. Wenn einige auch anderer Ansicht sind, finde ich, dass das Thema Frauen SV in Form von BlitzDefence eine gute Sache ist.

Einige Gedanken zum WingTsun

WT als Analysegerät
Noch nie vorher habe ich einen Menschen so schnell einschätzen können wie beim Chi Sao-Training. Meinem Gefühl nach stellt sich sofort heraus, ob ein Ego zu stark ausgeprägt oder jemand zur kooperativen Zusammenarbeit fähig ist. Natürlich ist dies eine subjektive Betrachtung. Klar habe auch ich meine Fehler, aber daher weiß ich auch, wie schwierig es ist, einen passenden Chi Sao-Partner zu finden.

WT als Baldrianersatz
Mein Beruf bringt oft eine ganze Menge Anspannung mit sich. Habe ich danach eineinhalb Stunden trainiert, war ich immer wieder verblüfft, wie entspannt und ausgeglichen ich war.

Durch WT einen neuen Freund gefunden
Habe über das Training meinen heutigen Trainingspartner Mike Columbus kennen gelernt. Über die letzten vier Jahre hat sich daraus eine echte Freundschaft entwickelt. Ihn als Trainingspartner zu haben, hat mir gerade im Chi-Sao sehr geholfen. So konnten wir die Hausaufgaben, die wir von unserem Si-Hing erhalten haben, gut aufarbeiten.

WT als Wegweiser
Durch das WT-Training und mittlerweile die Arbeit als Ausbilder, stoße ich immer wieder mal an meine eigenen Grenzen und werde vor allen Dingen auf meine Schwächen hingewiesen. Somit bin ich immer wieder gezwungen, mich selbst zu hinterfragen hinsichtlich meiner Art, das Training anzugehen oder wie ich z.B. auf Fragen einzelner Schüler reagiere, die ich nicht sofort beantworten kann. Wenn ich eine Trendlinie durch all diese Erfahrungen ziehe, sehe ich, dass ich dadurch immer ausgeglichener werde und mich selbst nicht mehr so wichtig nehme.

WT als Philosophie
Der Spruch „Desto mehr ich weiß, umso mehr sehe ich wie wenig ich weiß, und nur der Dumme meint, er weiß alles" ist im WT allgegenwärtig.

Kritische Bemerkungen

Es ist natürlich immer etwas vermessen über einen Verband wie die EWTO zu meckern. Aber es ist ja nicht der Verband, sondern die Menschen, die diesen teilweise ausmachen.

Positiv aufgefallen ist mir,
dass es transparente Strukturen gibt und jeder so ziemlich weiß, wo er steht. Es auch bei hoch graduierten WT-lern kaum Starallüren gibt. Dass Si-Gung Kernspecht die Nähe zu den Schülern sucht und ein greifbarer Mensch geblieben ist. Dass Menschen, die noch so große Angst vor Auseinandersetzungen haben, ganz langsam an diese Konfliktsituationen herangeführt werden. Dass auch Menschen mit psychischen Problemen oder körperlichen Behinderungen im WT ein Ventil oder eine Lösung finden.

Negativ aufgefallen ist mir,
dass WT ohne Frage eine gute Ware ist, die ihren Preis wert ist. Doch habe ich den Eindruck, dass es einige Sifus mit ihrer Preispolitik übertreiben. Für den Werdegang zum 1. TG fehlt eine strukturelle Beschreibung wie z.B. bei den Schülergraden. Soll heißen, man muss alles hinterfragen, weil man es nirgendwo nachlesen kann. Zudem habe ich den Eindruck, dass alle Sifus es unterschiedlich handhaben.

Schlusswort

Zum Schluss möchte ich Heiko Kerlin danken, dass er mir den Weg zur WT-Schule gezeigt hat und natürlich meinem Si-Hing André Karkalis, von dem ich so ziemlich das Meiste, was ich heute über WT weiß, gelernt habe, und der dazu beigetragen hat, dass meine Begeisterung für WT ungebrochen ist.

 

Rudi Funke