Editorial

Mach Dich frei von zwanghaftem Denken!

Solange wir der falschen Vorstellung anhängen, dass wir eine einzige, permanente Persönlichkeit sind, nur weil wir einen Namen und einen Körper besitzen, solange können wir nichts verändern, uns nicht beobachten.

Dann werden wir uns immer mit jeder unserer Rollen, mit jeder unserer negativen Stimmungen und mit jedem Gedanken identifizieren, der (bei) uns einfällt. Um sich nicht zu vergessen, darf man sich nicht mit jedem ein-fallenden Gedanken verwechseln, man darf nicht zu jedem Gedanken „Ich" sagen.
Und wie oft erkennen wir bei anderen Menschen, Doktoren, Lehrern oder Juristen, dass sie sich mit ihren Gedanken und Meinungen identifizieren, rechthaberisch und streitlustig sind, wobei es weniger um die Sache, sondern mehr darum geht, wer Recht behält.
Man kann lernen, sich von falschem Identifizieren freizumachen, obwohl es schwer ist. Zunächst muss man verstehen, dass Gedanken sich nicht wirklich stoppen lassen. Um sich nicht mit ihnen zu identifizieren, muss man sie, ohne zu urteilen, beobachten. Man darf sich dabei nicht sagen: „Ich" denke. Denn dann sagt man auch „ja" zu ihnen. Der Teufel, heißt es, schickt viele Gedanken in unseren Kopf, aber wir dürfen sie niemals für „unsere" Gedanken halten. Gedanken und Denken muss man gut unterscheiden.
Wir sind nicht verantwortlich für unsere Gedanken, aber für unser Denken. Ob Du einen Gedanken, der Dir ein-fällt, weiter-denkst, von ihm aus weiter-denkst, dafür bist Du verantwortlich. In WingTsun-Sprache: Du musst passiv gegenüber Deinen Gedanken werden, indem Du Dich nicht mit Ihnen verwechselst und identifizierst. Denke immer daran: Du bist nicht Deine Gedanken! Sobald Du glaubst, dass es „Deine" Gedanken sind, gewinnen die Gedanken Macht über Dich und wollen sich verwirklichen.
Anstelle von „Ich" denke solltest Du in Zukunft besser „Es" denkt sagen, um den nötigen Abstand zu gewinnen.
Wenn Du abends im Bett liegen und die Gedanken kommen, die kleinen neidischen, eifersüchtigen, negativen, die Dich runterziehen wollen, die Dein Selbstmitleid, Deinen sog. Gerechtigkeitssinn, noch ausstehende Abrechnungen mit anderen, Rachegelüste usw. betreffen, dann lasse sie einfach passieren, es sind nicht Deine Gedanken! Beobachte amüsiert, wie diese Ein-fälle in Deinen Kopf einfliegen und ihn dann wieder verlassen. Wenn Du das kannst, findest Du inneren Frieden. Und um inneren Frieden geht es uns bei der Arbeit an uns selbst. Wir kämpfen mit uns, um Harmonie und inneren Frieden zu erlangen.
Während man im äußeren, im körperlichen WingTsun die Muskeln entspannt, um sich von der Verkrampfung zu befreien, so muss man im inneren, im geistigen WingTsun jede Verbindung zwischen den Gedanken und sich selbst trennen. Um zu verhindern, dass unser Verstand in fruchtloses Phantasieren abgleitet, uns geistige Diarrhoe überfällt und dass wir unser zwanghaftes Denken, das immer wieder um den gleichen Gegenstand kreist, nicht abstellen können, ist auch das Auswendiglernen und Aufsagen von Texten eine praktische Methode.
Kürzlich vertraute mir eine liebe Freundin an, dass sie oft dem Alkohol zuspricht, um sich von quälendem Grübeln zu befreien, sie täte besser daran, Schillers Gedicht von der Glocke auswendig zu lernen!
Wer sich fragt, warum gläubige Christen, Hindus oder Moslems auch noch heute im Zeitalter der Fotokopierer und Computer ihre heiligen Schriften auswendig lernen, der kennt jetzt den Grund: das Auswendiglernen (learn by heart ...) ist eine Art geistige Survivalmethode, um unser Gehirn von fruchtlosem, mechanischen Denken zu befreien. Denn es hat immer nur Platz für einen Gedanken zur Zeit.

 

Keith R. Kernspecht

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.