Editorial

Mach Dich frei von versklavenden Wörtern!

Lärm erregt Aggression.
Das Wörtchen „ist“ trägt die Schuld an allen Wahnvorstellungen, Illusionen, (Selbst-)Täuschungen und mentalen Krankheiten, und die Grammatik löst zwangsläufig Streit und Krieg aus:

Bei dem Hauptverantwortlichen handelt es sich um die sog. Russellschen „Propositionellen* Funktionen", um Sätze, die in Wirklichkeit keine logischen Sätze darstellen, sondern eher algebraischen Funktion mit mehreren Bedeutungen ähneln. Bezeichnenderweise nennen manche Semantiker nichtdurchschaute propositionelle* Funktionen „Lärm", denn weder der Sprechende noch der Kontrahent wissen, was der Satz wirklich bedeutet. Wie auf dem Affenfelsen erzeugt Lärm aber auch beim Menschen Gefühle wie Wut und Angst und damit Aggression.
(In diesem Zusammenhang möchte ich noch darauf hinweisen, dass im 19. Jahrhundert John Highlings Jackson den Begriff propositionell* eingeführt hatte, um die Dominanz der linken Hemisphäre beim Sprechen usw. in dem Sinne zu charakterisieren, dass sie in Propositionen, also in Aussagen, denke.) *Als Gegensatz zum Ausdruck propositionell prägte Joseph Bogen, einer der Pioniere der Kommissurotomie (= spezielle Herzoperation), den Begriff appositionell, um die Informationsverarbeitung in der rechten Hemisphäre bei Rechtshändern bei deutlicher Lateralisierung (= den Gehirnhemisphären bestimmte Funktionen zuordnen) zu kennzeichnen, und trat kämpferisch dafür ein, dass in den Schulen ein appositionelles Denken entwickelt und gefördert wird. Ein deutscher Kämpfer für das appositionelle Denken an den Schulen (diesen Hinweis habe ich von Karl „v. d. Küste" Koch) ist Dr. Gerhard Huhn (Kreativität und Schule, Risiken derzeitiger Lehrpläne für die freie Entfaltung der Kinder – Verfassungswidrigkeit staatlicher Regelungen von Bildungszielen und Unterrichtsinhalten vor dem Hintergrund neuerer Erkenntnisse der Gehirnforschung).

„Sein" oder nicht „sein"

Es gibt gute Argumente für die Abschaffung des Wortes „sein" (und aller seiner Formen wie „bin", „bist", „ist", „seid", „sind", „war", „werden" usw.) in jeder mündlichen und schriftlichen Äußerung, aber besonders im Denken.
Bevor Ihr mich jetzt für einen Ver-rückten haltet, was bei mir als Kompliment gilt, möchte ich kurz auf die philosophischen und psychologischen Gründe dafür eingehen.
Erlaubt mir als jemand, der durch über vierzig Jahre Körperarbeit und Meditation die taoistische Philosophie erfahren hat, zunächst am klassischen aristotelischen Axiom der Gleichheit oder Identität zu rütteln.
Mit Heraklit, einem anderen griechischen Philosophen, glaube ich, dass wir nie zweimal in denselben Fluss steigen, dass alles fließt und sich ständig verändert. In dem Augenblick, in dem ich etwa eine „Bong-Sao"-Technik sehe und sie so nenne, hat sie sich schon in etwas anderes verwandelt.
Ebenso verhält es sich mit Menschen oder Dingen. Der Satz „Peter ist dumm." raubt Peter bis zum Ende seines Lebens die Intelligenz und steckt ihn in eine Schublade, während der Sprecher nur ausdrücken wollte, dass Peter sich in einem einzigen Fall anders verhalten hat, als er, der Sprecher, es von einem vernünftigen Menschen erwartet. Kein Wunder, wenn Peter wütend reagiert. Die nicht weniger schlimme Wirkung einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat der Satz: „Ich war schon immer schlecht in Deutsch.", hindert er den, der so spricht oder denkt, doch sein Leben daran, den Mut zu fassen, einen wichtigen Brief zu schreiben. Und das alles nur, weil er in der Schule einmal eine schlechte Deutschnote hatte. Ich selbst hatte als Deutschnote in der Obertertia des Gymnasiums eine 6 und beim Abitur eine 1. Wohlgemerkt mit demselben Lehrer als zweiten Prüfer.
Die Verwendung des Wortes „sein" erweckt die Vorstellung von Ewigkeit, Statik, Starre. Wer so spricht und damit denkt, der erschafft sich eine künstliche, tote Welt, in der es keine Veränderung gibt, keine Hoffnung. Wer z.B. von sich selbst denkt: „Ich bin ein Kämpfer", der hat sich damit jeder Zukunft, jeder Möglichkeit der Weiterentwicklung beraubt. Denn er „ist" entweder ein Kämpfer oder er „ist" gar nicht. Das Wort „ist" lässt nur Gegenpaare wie ja oder nein zu, keinen Mittelweg, keine Zwischenstufen der Veränderung wie in der Natur.
Wenn ein junger Mann vom Überwinden von Widerständen und vom Kämpfen begeistert ist, handelt es sich nur um eine kurze Entwicklungsstufe seines Lebens. Wenn er älter wird, muss er erkennen, dass „Kämpfen" immer ein „Gegen" bedeutet und dass sich jedes „Gegen" gegen die Natur, gegen die Existenz und damit gegen ihn selbst richtet. Indem er aber von sich als „Kämpfer" denkt und andere ein entsprechendes Verhalten von ihm erwarten, kann er sich nicht aus dem Gefängnis seiner eigenen Programmierung befreien („Ein Mann ist wie ein Mann ist.").
Namen geben und sagen, ein Ding ist dieses oder jenes, kommt einem Akt der Aggressivität gegen sich und andere gleich. Einen Löwen ein „Raub"-Tier nennen und einen Sklaven „gut", beleuchtet nicht nur die Entwicklung unserer sog.„Moral"-Vorstellungen, sondern es lenkt unser Denken, mehr als uns bewusst ist. Der Satz „Das ist die Wahrheit." will glauben machen, dass es so etwas wie „die" Wahrheit überhaupt gibt. Ohne das schlimme Wort „sein" könnten wir uns nicht vergleichen, gebe es weniger Neid und Aggressionen, und wir könnten uns nicht einmal fragen: „Wer ist der beste Kämpfer?".
Aus dem Gesprächskiller „Der Film war phantastisch." würde dann nur die subjektive, diskutierbare Meinung „Ich fand den Film toll, weil ..." Und – es gäbe die lebensfeindliche Passivform („Infolge der X-Seuche mussten 450.000 Rinder getötet werden." Oder Ronald Reagan: "Mistakes were made." = Es wurden Fehler gemacht) hinter der sich der Täter (Subjekt des aktiven Satzes) ungenannt verstecken kann, nicht mehr. Wir würden ein Stück verantwortungsbewusster werden und wir würden uns auch nicht mehr als ein von der anonymen Welt bedrohtes Opfer („Ich bin entlassen worden.") sehen, sondern unser Leben selbst in die Hand nehmen.
Jedesmal*, wenn wir eine Form von „sein" benutzen, belügen wir uns oder andere. Deshalb Misstrauen, wenn Ihr eine Form des Wortes „sein" oder „werden" lest, hört oder selbst denkt oder aussprecht.
Unproblematisch erscheint mir aber die Benutzung als Hilfszeitwort, um z.B. Perfektformen wie „Ich bin gelaufen." darzustellen. *Als gefährlich und missverständlich empfinde ich vor allem „sein" in der Funktion der Identifikation: „Angst ist der beste Lehrer" (Angst = der beste Lehrer?) oder als Prädikat: „Die Zitrone ist gelb." (Tatsächlich stellt gelb keine Eigenschaft der Banane dar, denn nur gesunde menschliche Augen nehmen sie als gelbfarben wahr. Farbblinde würden sie als grau empfinden.) Goethe erkannte in seiner Farbenlehre, wovon heute führende Wissenschaftler überzeugt sind: Der Beobachter (verändert nicht nur, sondern) erschafft sich durch Beobachten erst die Welt.

Wenn Ihr jemanden torkelnd eine Kneipe verlassen seht und Euch sagt:
„Der ist betrunken.", dann wird er keine Hilfe von Euch erwarten können. Formuliert Ihr in Gedanken aber: „Er macht den Eindruck eines Betrunkenen.", dann könnte Euer Zweifel Euch dazu bringen, genauer hinzuschauen und dem potentiellen Opfer eines Gewaltverbrechens das Leben retten. Seien wir uns immer bewusst, dass jeder auch nur gedachte Satz nach Realisierung strebt und uns programmiert. Ihr seid das, was Ihr von Euch denkt.
Aber auch der andere ist das, was Ihr von ihm denkt! Seien wir also vorsichtig, mit solchen „Bestellungen", aber auch mit jeder Art von propositionellen Aussagen. Wenn jemand in Zukunft zu Euch sagt „Das ist eine dumme Idee.", dann könnt Ihr es Euch in „sein-loses" Deutsch (D1) übersetzen und ihm „Was gefällt Ihnen daran nicht?" antworten, statt: „Quatsch, das ist eine gute Idee, nur Sie sind zu blöde!". Wenn der andere Euch beschimpft: Sie sind ein Idiot!", dann gewinnt Ihr Distanz, indem Ihr es Euch in D1 übersetzen:
„Sie haben mich sehr verärgert!" Wenn Ihr vor einem Problem steht und denkt: „Das ist unmöglich.", dann denkt Ihr besser: „Das scheint mir im Moment unmöglich." und findet die Lösung.
Es soll übrigens Sprachen geben, die ohne „sein" auskommen: Mandarin, Russisch und Ungarisch, und ich war bis hierher auch bemüht, in diesem Text (bis auf Zitate u.ä. in D1 zu schreiben.
Die englische Form des Infinitivs „sein" entspricht dem schnöden und unspektakulären Wort „(to) be". Es leitet sich aus dem Sanskrit (indische Hoch- und Gelehrtensprache) ab und heißt dort „bhu", was wachsen lassen oder wachsen bedeutet. In der 1. bzw. 3. Person Singular Präsens „am" und „is" erkennen wir, dass es die gleiche Wurzel hat wie das Sanskritwort asmi = atmen. Damals hatten die glücklichen Menschen noch kein Wort für „sein"! Buddha hatte recht, als er als Rezept zur Überwindung des Leidens z.B. das „Richtige Sprechen" verordnete („Vom Zweikampf", S. 260).

 

Keith R. Kernspecht

 

Achtung:
Der Inhalt auch dieses Editorials basiert auf uraltem Wissen, auf Erkenntnissen und Lehren von Wissenschaftlern und Weisheitslehrern, die den WingTsun-Selbstbefreiungsideen sehr nahe standen.
Meine monatlichen Editorials können Euch nur theoretische Anstöße für das praktische Arbeiten an Euch selbst geben. Das bloße Lesen ist nur die erste Vorbereitung, aber noch nicht die Arbeit selbst.