Editorial

Lass uns bei uns selbst anfangen!

„Bitte zieh die Zügel wieder an und erhöhe die Anforderungen an die Prüflinge", schreibt Oliver Hagenau, 3. TG WT, an seinen Si-Fu, Großmeister Keith R. Kernspecht ...

Lieber Si-Fu,

seit längerer Zeit spiele ich mit dem Gedanken, diesen Brief an Dich zu schreiben. Einer der Gründe, diesen Brief nun endlich zu verfassen, war der letzte Lehrgang in Wülfrath und eine Deiner Äußerungen währenddessen.
Ich bin nun seit Oktober 1990 Dein Schüler und habe Dich Anfang 1991 zum ersten Mal kennen gelernt. Einer der Momente, die ich (trotz schlechten Gedächtnisses) nie vergessen habe und mit Sicherheit eine Schlüsselszene in meiner Kampfkunstkarriere ist. Es war ein Prüfungslehrgang in der Aachener Schule von meinem damaligen Si-Fu. Unser Sihing hat uns wochenlang auf diesen Moment penibel und schweißtreibend vorbereitet. Dann war der Tag da, ein enger Raum, viele nervöse Schüler und die Luft war zum Schneiden dick. Die Atmosphäre war aufgeladen mit Spannung, Prüfungsangst und einer Menge Neugier. Zur Prüfung zum ersten Schülergrad standen wir aufgereiht wie die Zinnsoldaten und wurden einer nach dem anderen von Dir getestet.
Du hast Dir unseren Pak-Sao mit gleichzeitigem Fauststoß angesehen, und warst zumindest Deinem Kopfnicken nach zu urteilen mit meiner Reaktion zufrieden.
Was mich betrifft, haben mich Lehrgänge oft enttäuscht oder aus dem Konzept gebracht. Es kam vor, dass ich von einem Lehrgang kam und die Welt nicht mehr verstand. Ein anderes Mal dachte ich, „jetzt habe ich die Lösung und ich kann mit meinem Können die Weltherrschaft an mich reißen“. Ich durfte Dir beweisen, dass ich unermüdlich geübt habe und doch kam es auch vor, dass ich dachte, gar nichts verstanden zu haben.

Aber über eines habe ich mich immer geärgert: Dass mein Sihing am Sonntagabend keinen Unterricht angeboten hat! Nach jedem Lehrgang egal ob ich negativ oder positiv über meine Fähigkeiten dachte, war ich heiß auf Training. Mehr Wissen, mehr Techniken, weicher werden, schneller werden, nächstes Mal mehr überzeugen, mehr herausstechen ...

Lieber Si-Fu, lass uns dafür Sorgen, dass die Schüler, die heute auf Lehrgänge gehen, wieder das gleiche Blitzen in den Augen haben und die gleichen Erinnerungen über viele Jahre mitnehmen können wie wir.

Zeigen wir ihnen, dass man eine Prüfung in der EWTO nicht geschenkt bekommt, sondern hart dafür arbeiten muss. Lass uns die belohnen, die hart dafür gearbeitet haben, indem wir sie genau testen. Du schreibst im Buch „Vom Zweikampf“: „... sie wollen ihre Knabenmorgenblütenträume bestätigt sehen.“
Ja, viele von uns kamen und kommen meiner Ansicht nach immer noch mit solchen Träumen zur Kampfkunst (und dabei oft nur durch Zufall zum WingTsun). Viele meiner Ausbilderkollegen und Schüler haben noch immer romantische Vorstellungen von fernöstlichen Kampfkünsten und ihrer Philosophie. Sie sind bereit, diszipliniert zu trainieren und uns bei Prüfungen ihr Können darzubieten. Den meisten geht es nicht wirklich um Titel oder Urkunden, sondern um Anerkennung und Bestätigung für eine gut gemachte Arbeit. Sicher gibt es immer ein paar schwarze Schafe, wie Du wahrscheinlich nur allzu gut weißt, aber die absolute Mehrheit der Schüler auf den Lehrgängen, macht sich nicht wirklich was aus Papier.

Ich wende mich an Dich, um Dich zu bitten, die Zügel wieder anzuziehen und die Anforderungen an die Prüflinge – mich natürlich eingeschlossen – zu erhöhen. Lass uns Dir zeigen, was wir oft unter Einsatz von viel Schweiß und Zeit gelernt haben. Lass auch die kleinen Schülergrade stolz nach Hause gehen, den Verwandten und Freunden die Urkunde zeigen und sagen: „Die habe ich mir verdient!“
Die Schüler und Lehrergrade, die ich in meiner Schule unterrichte, können mit Kritik – insbesondere mit Kritik eines Großmeisters bestens umgehen und freuen sich andererseits riesig über ein kleines Lob (oder Kopfnicken) von Dir. Aber das Gefühl, nicht wirklich geprüft worden zu sein, ist ein schwerer Stein im Magen eines neuen Schülergrades.

Du sagtest in Wülfrath sinngemäß: „Viele Ausbilder sind stehen geblieben und stecken in Sektionen fest.“ Ich stimme in diesem Punkt absolut mit Dir überein.

Was ich bei vielen Ausbilderkollegen sehe, sieht für mich wie eine Choreografie aus. Wie ein „WingTsun-Ballett“, das Harmonie und Eleganz an das Publikum vermitteln soll. „Kennst Du schon diese Variante?“ ist ein Satz, den ich immer häufiger zu hören bekomme. Basics werden nicht mehr geübt, und einem simplen, aber zweckerfüllendem Fauststoß wird eine viel aufwendigere und uneffizientere Angriffsmethode vorgezogen.

Kurz bevor ich meinen jetzigen Lehrer Sifu Schrön kennen lernte, dachte ich tatsächlich, das wird der neue Weg der EWTO und ich zweifelte sehr an diesem Weg. Doch schon wenige Stunden des Unterrichtes auf dem Schloss reichten aus, um mir zu zeigen, dass nicht die EWTO, sondern lediglich meine Wenigkeit auf dem Holzweg war. Fast hätte ich mir durch ein paar Ausbilderkollegen einreden lassen, dass ich als guter Techniker in der Lage sein muss, mindestens vier verschiedene Antworten für einen Angriff parat zu haben, anstatt dem Konzept zu vertrauen und den Prinzipien zu folgen.

Du hast bei Deinen letzten Lehrgängen in Heidelberg und Wülfrath klar gesagt und demonstriert, was Du in Zukunft von uns erwartest und ich freue mich über diese klare Ansage. Solltest Du wirklich demnächst mit dem Ziel durch Deutschland ziehen wollen, die Grundtechniken der Ausbilder zu verbessern, so würde ich das mehr als begrüßen und versuchen, so oft wie möglich mit voller Besatzung teilzunehmen.

Hochachtungsvoll
Dein To-dai
Oliver Hagenau

   

Lieber Oliver,

Deinen Brief fand ich so wichtig und so inspirierend, dass ich ihn zum Thema dieses Gasteditorials wähle.
Auf meinen letzten Lehrgängen habe ich in der Tat laut gedacht, gegen Missstände gewettert und meinen festen Willen kundgetan, das Ruder herumzuwerfen und Zeichen zu setzen.

Ja, ich verspüre die Kraft und die Lust, das Niveau in der EWTO zu verbessern und auf eine nie erreichte Höhe zu bringen.

Aber, wenn Du auch Recht damit hast, dass manche Schüler auch mit konstruktiver Kritik ihres Großmeisters umgehen könnten, so dürfen wir doch nicht den Fehler machen, mit ihnen anzufangen.
Wir brauchen eine Veränderung der Sichtweise und eine andere Einstellung zu Arbeit und Leistung. Eine andere, als sie in Deutschland zeitgeistig vorherrscht. Lasst uns nicht die Hände in den Schoß legen und auf die moralstärkende Langzeitwirkung der Fußball-WM vertrauen.

Der größte Pädagoge der Welt war Konfuzius, der vor 2.500 Jahren forderte, dass der Lehrer mit gutem Beispiel vorangehen muss, bevor er Leistung von seinen Schülern verlangen darf.
Also müssen wir mit uns selbst anfangen!

Bevor mich die Lust ankam, die EWTO zu erneuern, nahm ich eine Runderneuerung an mir selbst vor. Zunächst eroberte ich mir nach 36 Jahren den (aktuellen) Abiturwissensstand zurück, büffelte nicht nur Philosophie, sondern auch die vorher von mir vernachlässigten Naturwissenschaften, las die Klassiker noch einmal usw. Gleichzeitig machte ich mich körperlich fit, so dass die Waage heute morgen nur noch 69.80 kg anzeigte. Bei einer altersbedingt geschrumpften Länge von ehemals 1.86. Allerdings bin ich stolz darauf, 31 Klimmzüge und lange Sätze im Barrenpumpen mit zusätzlich angehängtem Gewicht zu schaffen.
In der (gefühlt) besten Verfassung meines Lebens ging ich neu ans WT heran. Ich hinterfragte alles und zweifelte alles an. Wie macht man einen schwachen Menschen am schnellsten verteidigunsfähig? Mit dieser kritischen Einstellung prüfte ich misstrauisch die Formen und besonders das Chi-Sao.
Formen, Grundübungen und Chi-Sao sind wichtige Mittel auf dem Wege, um Verteidigungsfähigkeit in jeder Situation zu erreichen. Sie müssen Stufen sein, um zur freien Selbstverteidigung zu gelangen. Übungen wie Chi-Sao dürfen aber nicht zum Selbstzweck werden.
Viele von uns haben schon zu lange nicht den Wald vor lauter Bäumen gesehen. Jetzt heißt es umdenken, das Wichtige erkennen und zielstrebig anzusteuern. In meinem von Dir zitierten Buch „Vom Zweikampf“ habe ich trotz oder wegen (?) meines begrenzten Wissens schon Anfang 1980 WingTsun klarer gesehen als manche Traumtänzer von heute.
 

Zum ersten Mal in der Geschichte des WT bekommen wir aufgrund unseres WT-Universitätsstudiums seit einigen Jahren die Grundlagen und Werkzeuge, WT wissenschaftlich zu erforschen, und ich mache davon ausgiebig Gebrauch. Alle meine neuen Erkenntnisse, was für selbstverteidigungsrelevantes Chi-Sao nötig ist und wie man es unterrichtet, bringe ich den Meistern und Technikern der EWTO persönlich bei. Zu ihnen muss ich zuerst streng sein, bevor wir dann den neuen Maßstab an unsere Schüler anlegen. Wir dürfen nur das von unseren Schülern verlangen, was wir selbst schon leisten können.
Bei TG-Prüfungen genügt es nicht, seine „Wartezeit“ beamtenhaft abgesessen oder „tote“ Sequenzen memoriert zu haben. Bei höheren Prüfungen soll nicht das Erinnerungsvermögen bewertet werden, sondern spontanes Reagieren im Einklang mit den genialen WingTsun-Prinzipien.

2007 werde ich fortfahren, viel mehr Zeit auf die Förderung der Ausbilder und Lehrer zu verwenden, damit diese ihre Schüler noch besser unterrichten und wenn mehrheitlich gewünscht auch strenger prüfen können.

Allerdings möchte ich zu Bedenken geben, dass ich vor etwa zwanzig Jahren bewusst Abstand von überstrengen Prüfungssituationen genommen habe. Die „alten Hasen“ werden sich noch gut daran erinnern, dass sich einige Prüfungen bis weit in die Nacht hinein erstreckten, denn manch einer musste dutzende Male vor mein Prüferpult treten. Ich duldete keine Ungenauigkeiten.
Diese Vorgehensweise hatte zur Folge, dass manche Schüler einen derart hohen Stresspegel aufbauten, dass sie allein deswegen nicht mehr in der Lage waren, „sich von ihrer eigenen Kraft freizumachen“ und dieser verkrampfte Zustand mitunter noch Tage danach andauerte.
Um dies zu vermeiden, verlegte ich mich später darauf, die Schüler während des gesamten Prüfungslehrganges „unbemerkt“ zu beurteilen. Leider scheint sich manchem der (falsche!) Eindruck aufgedrängt zu haben, dass man „Prüfungen geschenkt bekommt“.
Wer aber glaubt, seine Leistungen hingen von Prüfungen ab, hat – wie ich eingangs bereits erwähnte – nicht die richtige Einstellung.

Deswegen, lieber Oliver, lass uns bei uns selbst anfangen!

Sommerliche Grüße aus Norddeutschland

Dein Si-Fu

Keith R. Kernspecht