WingTsun

Kämpfer oder Krieger

„Wohin mit der Kraft, Jungs?“
Vielleicht habt ihr euch das auch schon gefragt, wenn das Adrenalin wieder einmal in euch hochkocht. Ich möchte euch dazu hier meine ganz persönliche Erfahrung schildern.

Ich heiße Mathias, 7. SG im WingTsun, bin Jahrgang 1971, Vater von zwei Kindern und Personal Coach. Als ich 2006 mit WingTsun anfing (unterbrochen von Babypausen), fragte mich mein SiFu Oliver Hage, 5. PG, während einer Einzelstunde, ob ich den Unterschied zwischen einem Kämpfer und einem Krieger kenne.

Zu der Zeit war ich Mitglied eines internationalen Motorrad-Clubs, hatte aber auch schon davor immer irgendwie mit meinem Ego zu kämpfen. Ich hatte mich aus Spaß an der Gemeinschaft, an gemeinsamem Motorradfahren und an Partys, aus Abenteuerlust und nicht zuletzt um meiner Angst vor Aggression entgegenzutreten dem Club angeschlossen. Sifu Hage hatte wohl intuitiv ein Gespür für mein Dilemma: Einerseits wollte ich mich mit Kampf und Aggression vertaut machen, um meine Angst davor zu besiegen. Andererseits aber hatte und habe ich eine tiefe Abneigung gegen Aggression und Gewalt.

Er erklärte mir, dass der Kämpfer um des Kämpfens willen kämpft. Er perfektioniert seinen Kampfstil, um der Beste zu werden. Krieger hingegen seien in erster Linie Bauern, Handwerker, Familienväter, die, wenn das eigene Leben, die Lebensgrundlage und/oder die Familie bedroht waren, zu den Waffen griffen, um es bzw. sie mit aller Kraft zu verteidigen. Wenn die Gefahr beseitigt war, legten sie die Waffen nieder und gingen wieder ihrem Tagewerk nach.
Tatsächlich lässt sich im Internet recherchieren, dass in manchen Kulturen, die auf einer Stammes-, Familien- oder Clanstruktur ohne Standesunterschiede aufgebaut waren und Ackerbau und Viehzucht betrieben, Mitglieder dieser Gemeinschaften obiger Beschreibung eines Kriegers am ehesten entsprechen. Als Beispiele finden sich die ursprünglichen schottischen Clans oder die slawischen Stämme.

Ganz egal, wie es auch immer wirklich gewesen sein mag, mir gefällt diese einfache Einteilung. Ich kann mir etwas bildlich darunter vorstellen. Vielleicht habt ihr da auch gleich ein (Vor-)Bild im Kopf.

Will ich Kämpfer werden oder Krieger sein?

Was macht einen Kämpfer aus? Ein Kämpfer kämpft. Er übt nicht nur, er kämpft gegen andere. Um den Umgang mit Aggression und Gewalt zu üben, begann ich zusätzlich zum WingTsun-Unterricht mit Sparring. Ich weiß, das ist nicht mit einem echten Kampf vergleichbar. Der Adrenalinschub ist im echten Kampf weitaus stärker und schwerer zu kontrollieren – wenn es überhaupt gelingt. Und ob man mit heiler Haut davonkommt, ist nie sicher. Aber es führte mich, soweit es für mich möglich erschien, näher an echte Kampfsituationen heran.

Was wäre danach der nächstbeste Schritt zum Kämpfer? Mir einen Gegner für einen echten Kampf suchen? Die große Mehrheit von Möchtegern-Kämpfern würde sich sicherlich instinktiv ein Opfer suchen, bei dem ein Sieg sicher ist. Wohl kaum einer sucht sich als Einzelner auf der Straße oder in der Kneipe bewusst stärkere und vor allem wachsame Gegner, wenn es einfachere Ziele mit besseren Siegchancen und geringerem eigenen Risiko gibt.
Aber was würde ich dadurch gewinnen? Würde ich mich auf Kosten irgendeines armen Kerls selbst achten wollen, nur weil mir mein Ego dafür anerkennend auf die Schulter klopft, dass ich gegen mein persönliches Problem gekämpft habe? Wenn ich darüber nachdachte, bekam ich ein ganz mieses Gefühl. Auf meiner Suche nach Antworten auf die Fragen „Wer möchte ich sein?“ und „Wie kann ich so werden?“ stieß ich auf die Bücher „Dead or Alive“, „Hunting the Shadow“ und insbesondere „Warrior“ von Geoff Thompson. Durch sie wurde mir erst wirklich bewusst, dass Kampf allein um des Kämpfens willen, um das Ego zu befriedigen, letztendlich auch nur eine Flucht vor den eigenen Schwächen in anderen Lebensbereichen ist.

Gehört haben wir dieses Klischee schon unzählige Male, aber nun bekam es für mich Sinn: Wenn du unzufrieden bist mit dir selbst, deiner Arbeit, deiner Beziehung, Geldsorgen hast oder dir die Politik nicht passt, dann setzt diese Unzufriedenheit viel Energie – also Kraft – frei, die du in den Kampf stecken kannst, um ihr ein Ventil – eine Richtung – zu geben. Wenn du nur Kampf und Aggression im Kopf hast, trägst du das immer mit dir und wirst auch in jedem, dem du begegnest, einen potenziellen Gegner sehen. Alles, was du hörst, könnte eine Drohung, Beleidigung oder Herausforderung sein. Wenn du dann deinem Ego nachgibst, bist du vielleicht ein gefürchteter Schläger, aber es löst nicht alle anderen Probleme. So übernimmt man keine Verantwortung für seine anderen Lebensbereiche.
Stattdessen verbirgt man seine Schwäche, nicht die richtigen Antworten auf alle Lebenssituationen geben zu können, hinter der Maske des Kämpfers auf Kosten irgendeines armen Opfers. Das wäre aber nicht wirklich ich. Und irgendwie war ich auch stolz auf mich, dass ich mir eine gewisse Anständigkeit, die ich früher für meine Schwäche hielt, bewahrt hatte. Dann wollte ich doch lieber wie der oben beschriebene Krieger sein.
Alle Aspekte im Leben erfordern“, so schreibt Thompson, „eine Kriegermentalität.“ Das heißt, Verantwortung für sein gesamtes Leben zu übernehmen: Job, Familie, Gesundheit, Lebenseinstellung, Erfolg und Selbstachtung.

Das erste Kraftprinzip des WingTsun besagt frei übersetzt: „Mache dich frei von deiner Kraft.“ Kraft verstehe ich hier im Sinne von Druck oder unerwünschter Energie im Kampf und generell in allen unangenehmen Lebenssituationen.
Wie äußert sich diese unerwünschte Energie im Alltag: Es ist der Schlag auf die Tastatur, weil ich meinen Job hasse. Es ist die Schreierei zu Hause, weil ich mich wieder um alles kümmern muss. Es ist das Saufen bis Oberkante Unterkiefer, das ich brauche, um „mal abzuschalten“. Es ist die miese Laune, die ich bekomme, wenn ich die Nachrichten sehe. Es ist der Neid und das Selbstmitleid, wenn ich sehe, welchen Wagen der Nachbar fährt. Und so weiter und so weiter…

Verantwortung für mein Handeln übernehmen

Ich verwende meine Energie nun anders. Ich investiere sie in berufliche Weiterbildung, bringe meine Finanzen auf Vordermann, kümmere mich mehr um meine Familie und gehe regelmäßiger ins WT-Training. Ich will das Ruder selbst in die Hand nehmen und versuche mich nicht durch meine „Schatten“, wie sie Thompson bezeichnet, steuern zu lassen, die mir einflüstern wollen: „Die Regierung, das Finanzamt, dein Chef, deine Kinder etc. haben Schuld an deiner Situation. Du kannst ja doch nichts dagegen machen. Alle legen dich aufs Kreuz, wenn du nicht aufpasst. Den Nächsten, der dir dumm kommt, haust Du weg…

Und das Beste ist, es funktionierte mit der Eigenverantwortung. Ich erkannte für mich, dass mich ein Sieg im Kampf allein nicht zu dem Menschen machen konnte, der ich sein wollte. Als ich ein Jahr später auch noch meinen Club aus familiären Gründen verließ, weil sich meine Prioritäten verschoben hatten und mein Umfeld, in dem Kämpfen als Teil der menschlichen Natur akzeptiert wurde, sich änderte, spielte plötzlich Kämpfen und Aggression nicht mehr eine so große Rolle. Meine Ansichten und Einstellungen änderten sich. Ich begegne Menschen nun anders und sie mir. Ich habe das Gefühl, dass Erfolg in vielen anderen Lebensbereichen möglich ist. Mein Leben ist vielseitiger.

Natürlich bin ich weit davon entfernt, frei von Angst oder Aggression zu sein. Es ist sehr leicht, in bestimmten Situationen schnell in alte Denkweisen und Verhaltensmuster zu verfallen, aber ich versuche, sie Stück für Stück durch Neue zu ersetzen. Früher dachte ich zum Beispiel in brenzligen Verkehrssituationen: „Warum schneidet mich dieser Typ mit seinem Angeberschlitten?! Sucht der Streit?! Will der mich von der Autobahn schießen? Dem zeig’ ich’s!“ Heute denke ich eher: „Na, der hat’s wohl nötig. Ich rege mich jetzt nicht auf. Bringt mir nichts. Wenn ich dem jetzt hinterherrase, verblase ich nur meinen teuren Sprit. Und was, wenn ich ihn einhole…? Soll ich ihn mit einer Stunt-Einlage ausbremsen? Das macht keinen Sinn. Es ist schließlich nichts passiert und er hat mich nicht persönlich gemeint, denn wir kennen uns ja nicht.

Der „Mittlere Weg“

Doch nicht ohne Grund gibt es noch drei weitere Kraftprinzipien im WingTsun. Sie berücksichtigen die Kraft des Gegners, die gegen uns gerichtet wird, ob wir wollen oder nicht, aber auf die wir nur indirekt Einfluss haben. Was ist, wenn uns persönlich jemand trotz unserer Gelassenheit das Leben schwer macht? Wo ist die Grenze, damit aus „Nicht-alles-persönlich-Nehmen“ keine Selbstverleugnung aus Harmoniesucht und aus Selbstverteidigung nicht das Recht des Stärkeren aus übertriebenem Ego wird?

Wie bei allem im Leben kommt es auch hier auf die Balance, den „Mittleren Weg“ an. Dieser Weg zwischen den beiden Extremen von schwachem und übertriebenem Ego ist ein gesundes Selbstwertgefühl. Dazu gehört nach Nathaniel Branden, einem namhaften Psychologen, die oben beschriebene Eigenverantwortlichkeit, persönliche Integrität und Selbstbehauptung. Genau dafür trainiere ich WingTsun – seit Ende 2011 nun bei Sifu Heiko Olear in Wiesbaden.
Dort üben wir regelmäßig den Umgang mit den klassischen Ritualkämpfen, bei denen in der Anfangsphase des BlitzDefence-Programms die eigene Position unmissverständlich klar gemacht wird, wenn es um das eigene Leben und die eigene Gesundheit oder die der Familie bzw. von Freunden geht.

Aber auch in Situationen, in denen es um persönliche Freiheit geht, ist Selbstbehauptung wichtig. Du musst es dir natürlich nicht gefallen lassen, dass du dich nicht frei und entspannt bewegen kannst.
Das Beispiel von Problemen Jugendlicher mit Schulhofschlägern liegt auf der Hand. Du musst täglich in die Schule. Ein Schulwechsel ist nicht ohne Weiteres möglich. Also kann man dem Problem nicht wirklich aus dem Weg gehen. Du willst dich ja auch nicht in jeder Pause auf dem Klo verstecken müssen.
Ein anderes Beispiel ist der klassische Rempler in der Kneipe oder auf einem Volksfest, bei dem du einem angetrunkenen Fremden versehentlich Bier überschüttest. Sofort geht das Geschrei los und der Fremde droht, dir eine reinzuhauen.
Wenn man sich aufgrund dieser Situation entschließen würde, in Zukunft möglichem Stress aus dem Weg zu gehen und keine Kneipen oder Volksfeste mehr zu besuchen, so würde man auf sein Recht auf persönliche Freiheit verzichten. Allerdings ist persönliche Freiheit ist immer subjektiv. Sie muss jeder für sich selbst definieren und liegt in der eigenen Verantwortung.

Ich zum Beispiel sehe keinen Sinn darin, für mein Recht zu kämpfen, in einer miesen Spelunke voll betrunkener Spinner zu sitzen, die Streit mit mir suchen, wenn es mir anderswo viel besser gefällt und ich dort gern gesehen bin. Andererseits habe ich Spaß daran, mit meiner Familie Volksfeste zu besuchen. Dieses Recht lasse ich mir nicht nehmen. Ich bin mir dabei bewusst, dass dort mit manchen Zeitgenossen, speziell bei einem gewissen Alkoholpegel, schon einmal Stress aufkommen kann.

Ich habe aber nun die Erfahrung gemacht, dass ich mit einer entspannten, freundlichen Grundeinstellung auf solchen Festen weit weniger Stress anziehe, als zuvor mit abweisendem Blick, voller Adrenalin und ständig auf der Suche nach potenziellen Stressmachern aufgrund meiner eigenen Ego-Probleme. Es verhält sich ganz im Sinne der selbsterfüllenden Prophezeiung: Erwartest du Aggression, wirst du dich auf Kampf einstellen und dich entsprechend – bewusst oder unbewusst – bewegen und verhalten. Andere reagieren nun – bewusst oder unbewusst – auf dein Verhalten, fühlen sich durch deine „Kraft“ bedroht und werden dadurch ihrerseits eher aggressiv.
Macht man sich stattdessen frei von seiner Kraft und tritt mit gesundem Selbstwertgefühl auf, kann diese Spirale unterbrochen werden.

Fazit und Vorschlag

Ich will zum Abschluss noch einmal auf das erste Kraftprinzip zurückkommen. Sich von seiner „Kraft“ zu befreien – im Kampf oder in anderen unangenehmen Lebenssituationen – ist für mich immer noch die schwerste Übung. Aber es hat ja niemand gesagt, dass es leicht ist. Wie es Thompson beschreibt, ist es aber gerade das, was einen Krieger ausmacht: Er wählt bewusst den schwierigen Weg, um dadurch zu wachsen.
Also hör‘ nicht auf dein Ego, wenn es wieder einmal tobt: „Verdammt! Was will dieser Typ überhaupt von mir?“ oder „Warum passiert mir wieder so etwas…?“ Stattdessen schalte einen Gang zurück, befreie dich von deiner Kraft und frage dich: „Wie kann ich mit der Situation am sinnvollsten umgehen?

Um einem neuen Denk- und Verhaltensmuster folgen zu können, muss man sich erst einmal bewusst darüber sein, dass man sich in einer Stresssituation befindet. Meist passiert es ganz plötzlich, ohne dass man es kontrollieren kann und erst später merkt man, was da wieder wie automatisiert abgelaufen ist. Um sich der Stresssituation bewusst zu werden, gibt es einen einfachen Trick, der manchem kurzfristig helfen kann: Lege dir, bevor du dich in eine Situation begibst, in der du Stress erwartest, einfach ein handelsübliches Gummiband ums Handgelenk und schnalze es, wenn du dich aufregst. Viele werden das schon automatisch tun. Je aufgeregter du bist, je stärker das Adrenalin fließt, desto stärker schnalzt du es gegen dein Handgelenk. Damit lenkst du deine Gedanken vom eigentlichen Ziel deiner Kraft auf das schmerzende Handgelenk. Das unterbricht die jahrelang eingeschliffenen Verhaltensweisen, die automatisch durch unkontrollierte Adrenalinschübe ausgelöst werden – wie zum Beispiel Fluchen, Toben, Drohen, Schreien bzw. Aggressionen. Dadurch hast du schnell wieder den Kopf frei für andere Gedanken, um angemessen und verantwortungsvoll auf die Situation reagieren zu können.

Ich hoffe, euch durch meinen Erfahrungsbericht den einen oder anderen Fehler zu ersparen.

Text: Mathias Weller, 7. SG
Fotos: WingTsun-Schule Wiesbaden/fotolia