Ist das Gegenteil (auch) wahr? Kann die Suche nach Selbsterkenntnis schädlich sein?
Aber wenn wir nicht nur Bekanntes wiederkäuen wollen, dann müssen wir auch vertrautes und scheinbares Wissen der Altvorderen mutig hinterfragen und z.B. abklopfen, ob es sich bei angeblichen Werten vielleicht nicht eher um Unwerte handelt.
Warum schreibe ich das? Bevor ich mich vor den bedrohlich weißen Bildschirm setzte, um mein Editorial zu schreiben, blätterte ich in einem sehr alten Buch, vielleicht in der Hoffnung, mir käme eine Eingebung für ein Thema. Tatsächlich teilte mir das Buch etwas mit: Wenn man gerade anhebt, einen Artikel zu schreiben, dann dürfe man kein fremdes Buch lesen. Ebenso wenig wie man einen anderen in der Geburtsstunde seines Textes laut denken ließe, dürfe man erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über die Mauer steigt und in uns eindringt. Überhaupt solle man keinem Gedanken trauen, der einem nicht in der frischen Luft und bei körperlicher Bewegung gekommen sei.
Natürlich las ich erst recht weiter, Verbote reizen zum Überschreiten und ich wollte mehr Früchte vom Baum der Erkenntnis naschen.
Das alte Buch sprach mir von Selbstbeobachtung und Selbsterkennen. Ein Thema, das mich über die Maßen beschäftigt und dem ich in den letzten Jahren manch Editorial gewidmet hatte: Herausfinden, wer man wirklich ist, die Schichten seiner Masken durchdringen und zum wesentlichen Kern vordringen, um von der Selbsterkenntnis zur allgemeinen Menschenkenntnis und im Bewusstsein der Gleichheit zur christlichen Nächstenliebe zu promovieren.
Mir schien und scheint das sehr sinnvoll. Allerdings hatten mir die letzten Erkenntnisse der Genforschung, die ich dilettantisch und deshalb aufmerksam verfolge, gezeigt, dass wir trotz Umwelteinflüsse nur werden, was wir schon sind.
„Dass man wird, was man ist“, so meint der Autor des alten Buches, obschon er seit mehr als 100 Jahren tot ist und kaum auf dem neuesten Stand der Forschung war, „setzt voraus, dass man nicht im entferntesten ahnt, was man ist.“ ... Der alte Psychologe sieht nachgerade „Gefahren, dass der Instinkt zu früh sich versteht. Inzwischen wächst und wächst die organisierende, die zur Herrschaft berufene Idee in der Tiefe, sie beginnt zu befehlen, sie leitet langsam aus Nebenwegen und Abwegen zurück, sie bereitet einzelne Qualitäten und Tüchtigkeiten vor, die einmal als Mittel zum Ganzen sich unentbehrlich erweisen werden, sie bildet der Reihe nach alle dienenden Vermögen aus, bevor sie irgendetwas von der dominierenden Aufgabe, von Ziel, Zweck, Sinn verlauten lässt.“
Man dürfe also in keinem Fall auch nur ahnen, was in einem wächst, so dass alle Fähigkeiten eines Tages, wie bei unserem verstorbenen Psychologen, eines Tages in ihrer letzten Vollkommenheit hervorspringen. Und dann wird mein Gewährsmann fast taoistisch, wenn er schreibt: „Etwas wollen, nach etwas streben, einen Zweck, einen Wunsch im Auge zu haben - das kenne ich alles nicht aus Erfahrung. Ich sehe auf meine Zukunft wie auf ein glattes Meer hinaus, kein Verlangen kräuselt sich in ihm. Ich will nicht im geringsten, dass etwas anders wird, als es ist. Ich selber will nicht anders werden.“
An anderer Stelle sagt er dann noch: „Meine Formel für die Größe am Menschen ist amor fati (Lat.: Liebe zum Schicksal): dass man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht. Das Notwendige nicht bloß ertragen, ... sondern es lieben.“
Sollte er recht haben? Ist Selbsterkenntnis kein Vor- sondern ein Nachteil? Ist das Gegenteil, von dem, was ich glaubte und propagierte, wahr? Gibt es überhaupt Gegensätze? Und wenn, ist das Gegenteil immer auch wahr? Sollen sich die Gegensätze versöhnen oder beide bestehen und die Persönlichkeit bereichern? Macht es Sinn, sich von jedem Wert, den man als richtig anzusehen gelernt hat, das Gegenteil vorzustellen und es hinterfragen? Die Übung des Umdenkens ist eine nützliche, sie zeigt uns auf, dass es immer mehrere Möglichkeiten zu handeln gibt. Und was ist Flexibilität geistiger Art anderes, als alle Möglichkeiten und Alternativen zu sehen und die Fähigkeit zu haben, sie auszuwählen?