WingTsun

Gewaltprävention und KampfKunst WingTsun in der Arbeit mit Jugendlichen und Erwachsenen - Teil 3

Der dritte Teil des Aufsatzes von Sabine Mackrodt über die Möglichkeiten, WingTsun als effektives Mittel zur Gewaltprävention einzusetzen.

Die Rolle und Verantwortung der Lehrerin im WingTsun als Gewaltprävention
Die Lehrerin einer Kampfkunst ist Vorbild, sollte Wegbegleiterin sein und im Bewusstsein ihrer Verantwortung den Unterricht führen. Sie ist nicht nur dazu da, Wissen und Können zu vermitteln und die Perfektion der Technik zu fördern. In der Kampfkunst als einem Instrument der Selbsterkenntnis zielen alle Übungen darauf ab, ein besserer Mensch zu werden. Orientiert an Werten, die das Leben fördern und der Harmonie dienen. Im Innen wie im Außen. Die Schülerin sollte ermutigt werden, sich mit sich selbst, ihren Gefühlen, ihrer Wahrnehmung und dem eigene Ego auseinander zu setzen und sie sollte ermutigt werden, einen sprachlichen Ausdruck dafür zu finden. Gerade Gefühle wie Hass, Wut und Angst müssen erkannt und benannt werden, damit sie nicht in gewalttätigem Handeln (das gilt traditionell eher für männliche Menschen/Täterrolle) oder in Resignation (davon sind oft weibliche Menschen betroffen/Opferrolle) ihren Ausdruck finden. Das Wegschauen und Unterdrücken gibt diesen Gefühlen mit der Zeit eine gewaltige Kraft. Hier beginnt die Anleitung zu friedvollem Handeln.

Im WingTsun geht es eindeutig (auch) um Selbstverteidigung, um die Auseinandersetzung mit (körperlicher) Gewalt. Die große Chance liegt darin, den Kampf im Außen zu benutzen, um den „Krieg" im eigenen Innern als Ursache zu erkennen. Über die Beschäftigung mit Gewalt in der Außenwelt können die eigenen Gewaltstrukturen erkannt werden und so wird die Außenwelt zum Spiegel der inneren Befindlichkeit. Hier hat die Lehrerin eine wichtige Funktion als Führerin, die den Weg schon besser kennt und helfen kann, den Blick zu schärfen für diese Zusammenhänge. Sie steht also in der Pflicht, an sich selbst zu arbeiten. Sie ist verantwortlich für die Atmosphäre und die Inhalte in ihrem Unterricht. Duldet sie Intoleranz und Gewalt oder verhält sie sich selbst respektlos, ist es wahrscheinlich, dass auch ihre Schülerinnen sich so verhalten. Bloße Theorie nutzt gar nichts. Vorleben einer gewaltfreien Kampfkunst ist ihre Aufgabe (physisch, psychisch und verbal-mimisch).

So ist es wichtig, den eigenen Umgang mit Schülerinnen zu reflektieren und immer wieder auf das „Prinzip der gegenseitigen Verantwortung" (Grundgebot des Jigoro Kano/Judo) hin zu überprüfen.

Im Unterricht sollten klare Regeln und der deutliche Verzicht auf Gewalt die Basis bilden, um sich möglichst ohne Angst mit den eigenen Gefühlen und Gewaltpotentialen auseinandersetzen zu können. Die Lehrerin ist verantwortlich dafür zu sorgen, dass die Regeln von allen verstanden, mitgetragen und konsequent eingehalten werden und eine Atmosphäre der Gewaltlosigkeit kultiviert wird. Sie ist Hüterin der Werte. Gerade für Kinder und Jugendliche ist sie eine wichtige Bezugsperson.

Das Streben nach Vervollkommnung sollte im Mittelpunkt stehen und kann nur erreicht werden durch Disziplin, Hingabe und Beharrlichkeit. Auch das sollte sie selbst vorleben, um so die Menschen in ihrem körperlichen und seelischen Wachstum zu bestärken. Nicht das Ziel ist das Entscheidende in der Kampfkunst, sondern der Weg und das beharrliche Streben nach Vervollkommnung von Technik und Charakter.

Gewalt im Lehrerinnenverhalten

In einer Kampfkunst ist es unter Umständen schwierig, gewalttätiges Verhalten von sportlichem Handeln abzugrenzen. Einfacher wird es, wenn man sich Verhalten von Lehrerin/Schülerin bzw. Schülerin/Schülerin anschaut und sie an Werten von gegenseitigem Respekt, Verantwortung und Achtsamkeit misst.

Es gibt viele Möglichkeiten der Gewaltanwendung im Unterricht:

1. Die physische Gewalt. Direkt und indirekt.

Dazu zählt beispielsweise eine unnötige Härte in der Anwendung und Demonstration von Techniken. Um sich selbst darzustellen, um zu beweisen wie hoch die Wirkkraft einer Technik ist und aus Unachtsamkeit.

Auch das Spielen mit einem hohen Verletzungsrisiko beim Üben und die Anwendung besonders gefährlicher Techniken mit übermäßiger Härte.
Subtilere Formen der Gewalt (sogenannte mittelbare physische Gewalt) sind, zu dulden, wenn Schülerinnen mit unnötiger Härte aufeinander losgehen oder sie gar gegeneinander aufeinander zu hetzen.

Auch eine unachtsame oder gezielte Partnerinnenzuteilung stellt beispielsweise eine Form der mittelbaren Gewaltausübung (z.B. zum Verhauen „mach die mal richtig fertig.") dar.

Des weiteren auch zählen unangemessene Übungsauswahl, eine falsche Belastungsdosis, einseitig belastende Übungsfolgen und Anstiftung zum Doping zu Formen der indirekten Gewalt.

2. Die psychische Gewalt

Sie kann durch Sprache ausgeübt werden. Das beinhaltet rassistische und sexistische Äußerungen, wenn Schülerinnen lächerlich gemacht werden vor der Gruppe, wenn sie geoutet werden mit etwas, das ihr unangenehm ist und durch Beschimpfungen und lächerlich machen vor der Gruppe. Gewalt zeigt sich auch, wie mit Schwächeren umgegangen wird und mit Niederlagen. Auch Strafen sind Formen von Gewalt.

3. Sexuelle Gewalt

Die ist oft besonders schwer zu erkennen. Zum Beispiel, wenn im Bodenkampf der Schülerin absichtlich (!) an die Brust und/oder zwischen die Beine gegriffen wird.

Wenn der Handflächenstoß im Dan-Chi immer wieder absichtlich (!) genau auf die Brust der Frau schlägt. Wenn Bemerkungen über die Körperlichkeit von Frauen/Männern gemacht werden. Gerade im Umgang mit pubertierenden Jugendlichen (auch bei Jungen) kann das sehr verletzende Auswirkungen und massive Störungen das Selbstbildes haben.

4. Machoverhalten (Herrschafts- und Dominanzverhalten) jeglicher Art, ist (sexuell) übergriffig und damit immer auch gewalttätig.

Grundgedanken für den Unterricht

Jeder Mensch hat einen eigenen Bezug zum Thema Gewalt. Von Erlebnissen in der Schule, im Arbeitsleben oder im Freizeitbereich. Sei es aus den Medien (Fernsehen, Video, Zeitschriften etc.), durch Erzählungen anderer oder durch eigene Erfahrungen, als Täter oder Opfer, z. B. in der Familie, also im privaten Lebensbereich (die Familie ist nach statistischen Angaben der gefährlichste Ort. Gerade für Frauen und Kinder).

Trotz großer Medienpräsenz des Themas Gewalt in der letzten Zeit werden gerade Kinder und Jugendliche im konkreten Fall häufig allein gelassen.
Es wird viel gejammert über wachsende Gewalt im allgemeinen und im besonderen darüber, dass gerade Jugendliche immer gewalttätiger werden.
Konkrete Angebote für eine Auseinandersetzung bleiben jedoch häufig aus. Vorherrschend sind Sprach- und Hilflosigkeit und Angst auf beiden Seiten (bei Tätern wie Opfern).

Hier sehe ich die Verantwortung im Unterricht anzusetzen, das Bewusstsein zu schärfen für gewalttätiges Verhalten (eigenes und fremdes), einen Raum zu schaffen, in dem Strategien der Konfliktbewältigung entwickelt und soziales Handeln gefördert werden (sekundäre -, tertiäre Gewaltprävention). Wo auch die Reflexion eigenen gewalttätigen bzw. Opfer- Verhaltens unterstützt und gefördert wird.

Soziale Komponenten wie Respekt, Verantwortung und Achtsamkeit lassen sich im körperlichen Kampf sehr direkt erfahren, da jede Unachtsamkeit, Respektlosigkeit oder Mangel an Verantwortung sofort verheerende Konsequenzen haben kann.

Es geht sowohl um die Wahrnehmung von Gefühlen (z.B.: Wut, Aggression, Angst, Trauer, Freude) und deren körperliche Ausdrucksweisen, als auch um die Wahrnehmung eigenen Verhaltens und dessen Wechselwirkung mit der Außenwelt. WingTsun ist hier ideal. Fördert es neben körperlichen Fähigkeiten auch die nonverbale Kommunikation und den Umgang mit eigenen und fremden Energien. Unterstützt wird diese Arbeit durch Rollenspiele, durch Übungen zur Stimme und Sprache und durch Wahrnehmungsübungen.

Da männliche und weibliche Menschen unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen, muss auch der Unterricht geschlechtsspezifisch angepasst werden. Für beide geht es um respektvollen Umgang mit dem eigenen Körper und dem der anderen.

Mädchen werden zu Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Unterwürfigkeit erzogen und so eher in einem Opferverhalten bestärkt. Sie können lernen, aggressiv und deutlich ihre eigenen Interessen wahrzunehmen und zu vertreten. Jungen hingegen werden bestärkt in ihrer Durchsetzungsfähigkeit, ihre Gefühle zu kontrollieren, Schmerzen zu ertragen und stark und mutig zu sein. Sie können lernen, Gefühle zuzulassen und mitfühlend zu sein. Außerdem können sie lernen, Konflikte angemessen und fair zu lösen.

Gewalttätige Durchsetzungsstrategien sollen aufgebrochen und durch neue Konfliktlösungsmöglichkeiten ersetzt werden, die getragen sind von Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.

Opfer und Täter werden nicht geboren, sondern dazu gemacht. Der Unterricht muss dem Rechnung tragen und jeweils neue, gesündere Rollenangebote vorstellen.

Chancen und Gefahren von WingTsun in Bezug auf Gewaltprävention

Meines Erachtens liegt eine Gefahr für die Gewaltprävention in der wirkungsvollen, anwendbaren Selbstverteidigungstechnik des WingTsun. Schon von Anfang an lernt eine Schülerin, wie sie einen Angreifer schnellstmöglich ausschalten kann. Auch der Sprachgebrauch ist geprägt von dem Ziel, den Feind zu besiegen. Gerade für männliche Anfänger (und ihre Lehrerin) liegt die größte Gefahr darin, in diesem dualistischen Feinddenken stecken zu bleiben. Dem muss bewusst entgegengewirkt werden. Nicht zu kämpfen ist das Ziel und die höchste Kunst. Hier gilt es, der männlichen Dominanz- und Herrschaftskultur einen angemesseneren Umgang mit Aggression und Gewalt entgegenzusetzen. Und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es keine Rechtfertigung für Gewaltanwendung gibt und man immer mitverantwortlich ist für das, was passiert.
Friedvolles Handeln erfordert Selbstbewusstsein, ein Gefühl für die eigenen Grenzen und die der anderen. Es braucht Empathie und Möglichkeiten der Selbstbehauptung ohne Gewaltanwendung. Das erfordert innere Klarheit.
Für weibliche Anfängerinnen hingegen ist die wirkungsvolle Technik die nötige Rückendeckung, um zu üben, für sich selbst und die eigenen Bedürfnisse, zunächst mit verbalen und körpersprachlichen Mitteln, einzutreten. Frauen lernen durch die Auseinandersetzung mit kämpferischem Vokabular, ihre Schlaghemmungen, die Blockaden im Kopf bewusst zu erleben und schrittweise abzubauen. Es geht darum, im Ernstfall bereit zu sein, konsequent das eigene Leben zu verteidigen. Erfahrungsgemäß schützt sie diese innere Haltung schon im Vorfeld.

WingTsun ist meiner Einschätzung nach ein phantastisches „Instrument" der Selbsterfahrung. Die Aufmerksamkeit wird auf die kognitiven Fähigkeiten gelenkt. Im ständigen Kontakt mit der Partnerin wird eine nonverbale Kommunikation geübt (Chi-Sao). Hier geht es um Nähe und Distanz und um den Umgang mit eigenen und mit fremden Energien. Wie kann man mit der Partnerin sein, ohne sich selbst zu verlieren. Wie geht man mit Druck um? Geht man dagegen an und erschöpft sich oder kann man die Energie für sich nutzen? Ohne Absicht, ohne anzuhaften, den eigenen Weg nicht zu verlieren und für sich selbst (ein)stehen. Themen, die auch im Leben auftauchen. Über den Körper erfahren sie eine neue Dimension. Man erlebt Druck und erlebt, wie ermüdend es ist, dagegen zu halten. Man erlebt auch wie Kraft wirkt und was es bedeutet, weich nachzugeben. Hier kann immer wieder der Bezug hergestellt werden, was WingTsun mit dem Leben zu tun hat. Auch im Alltag ist es oft die innere Abwehr, die das Leben anstrengend und mühsam macht. Der Körper speichert im Laufe des Lebens alles. Da sitzt eine uralte Angst im Nacken und behindert die Bewegung und die Lebensenergie. Im körperlichen und auch im übertragenen Sinne. Angst bewirkt Abwehr und macht das Leben eng. Chi-Sao fordert den Körper auf die Spannung loszulassen. Gelingt das, Schritt für Schritt, kommen auch die verdrängten Gefühle an die Oberfläche und man kann sich mit ihnen auseinandersetzen. Hier sehe ich die große Chance, durch WingTsun klarer und verantwortungsvoller mit den eigenen Emotionen umzugehen und zu einer friedvollen Haltung zu finden.