WingTsun

Erfurt: Blitzeis und Blitzbesuch

Immer wieder in seiner Geschichte hat Erfurt Belagerungszustände erfahren: in der Vergangenheit durch schwedische Truppen, in der Moderne durch Weihnachtsmarkttouristen und durch Blitzeis auf versiegelten Flächen. Dass man WingTsun im Kampfgetümmel einsetzt, leuchtet jedem sofort ein. Dass die neuen Programme aber auch auf Weihnachtsmärkten und gegen Blitzeis durch verbessertes Körperbewusstsein einsetzbar sind, diese Erfahrung machte Sifu Holger Peter.

Als sich dann auch noch kurzfristig, quasi als Blitzbesuch, eine Gelegenheit bot, diese neuen Programme im heimischen Erfurt direkt durch großmeisterlichen Unterricht zu intensivieren, passte er sich blitzschnell den Gegebenheiten an.

Zieht man ein Kreuz auf der Karte Deutschlands, dann liegt ganz nah an der Mitte die Stadt Erfurt, die durch ihren mittelalterlichen Stadtkern und ihre wechselvolle Geschichte geprägt ist. Um 1618 erfolgte während des Dreißigjährigen Krieges die Okkupation durch schwedische Truppen und um 1801 gelangte Erfurt unter die Herrschaft Preußens. Trotz zahlenmäßiger Überlegenheit verlor das preußische Heer 1806 die Schlacht bei Jena und Auerstedt gegen Napoleon Bonapartes Truppen und Erfurt wurde bis 1814 wurde durch französische Truppen besetzt. 1808 trafen sich hier im Beisein aller deutschen Landesfürsten Napoleon und der russische Kaiser Alexander der Erste zum berühmten Fürstenkongress zu Erfurt im Kaisersaal.
In der heutigen Zeit wird Erfurt von Dezember bis Januar wieder besetzt: Menschenmassen, die in militärisch straff organisierter Weise in Reisebussen in die Innenstadt gefahren werden, überfluten die Gassen sowie die alte Festungsanlage. In martialisch anmutenden Uniformen – wie Weihnachts- und Hirschgeweihmützen –kämpfen sie sich trotz Blitzeis und Schneegestöber bis zu den Ständen und Würstchenbuden durch. Was für ein Geschiebe und Gedränge. Glühwein von hinten, Zuckerwatte von links, Fleischspieße von vorn. Nur mit Absolvierung der neuen WT-Programme kommt man hier unbeschadet von A nach B.

Zum Blitzeis die Blitznachricht!

DaiSifu Thomas Schrön informierte mich darüber, dass sich Großmeister K.R. Kernspecht am 07.Dezember 2010 in Erfurt aufhalte. Sofort richteten wir über DaiSifu Thomas die Bitte an GM Kernspecht, einen Kleingruppenunterricht in der WingTsun-Schule Erfurt abzuhalten. Schnellstens wurden Urlaubstage eingereicht und Dienstfahrten abgesagt, denn eine solche einmalige Gelegenheit wollte sich keiner vom Ausbilderteam entgehen lassen.
Da ich mit meinem Gleichgewicht und fehlendem Timing während des Lehrgangs  genug zu tun hatte, übergebe ich an dieser Stelle die Feder an meine Frau Sandra:

Meine Vorstellung…

Obwohl ich selbst seit 2006 Mitglied in der EWTO bin, war es mir bisher noch nicht vergönnt gewesen, Großmeister Kernspecht persönlich kennen zu lernen. Meine Vorstellung bestand somit aus den Eindrücken aufgrund seiner Editorials, Bücher und Fotos in der WingTsun-Welt – ach ja, und außerdem den vielen Geschichten vom Hörensagen, die oftmals das Bild eines strengen, mächtigen und Angst einflößenden SiGung zeichneten.

… und die Wirklichkeit

Der Mann, der unsere Schule betrat und mich zur Begrüßung freundlich umarmte, war nichts von dem. Seine Augen blickten mit Wärme und einem Lächeln, das tief aus seinem Innersten zu kommen schien. Die im Vorfeld aufgeregte und angespannte Stimmung im Trainingsraum wandelte sich schlagartig in eine Atmosphäre aus wacher Neugier und gespannter Aufmerksamkeit, als Großmeister Kernspecht mit dem Unterricht begann.
Ich war erfreut über seine unausgesprochene Erlaubnis, dem Training zuschauen zu dürfen. Aber Zuschauen ist wohl nicht der richtige Ausdruck – es war eher ein fasziniertes Staunen.
Augenblicklich gingen die ersten Teilnehmer zu Boden, obwohl SiGung doch gar nichts getan hatte!? Eine sanfte Bewegung mit der Schulter, ein weiches, kaum sichtbares Wenden, Mühelosigkeit und Effektivität in Perfektion, fast nicht wahrnehmbare Bewegung in Sekundenbruchteilen, ein blitzartiger Einschlag – und auch die Stärksten hatten einfach keine Chance.
Ich kenne sämtliche Teilnehmer und weiß, dass sie ausnahmslos zu den besten WT-lern der WingTsun-Schule Erfurt gehören – aber neben dem Großmeister wirkten sie einfach selbst wie Holzpuppen. In großmeisterlicher Art blieb SiGung jedoch immer kleben und half den Zu-Boden-Gegangenen kameradschaftlich und fair sofort wieder auf die Beine. Kopfschütteln und Faszination machten sich breit.

Timing statt Magie

Mit freundlichem, sympathischem Lächeln begann SiFu zu erklären, was er tat: Es fielen Worte wie Mitte, Timing, auf den Punkt bringen, wieder Timing, Angriff absorbieren, Fokus, Yin und Yang, nochmals Timing, Gleichgewicht und abermals Timing.
Auch wenn in der Theorie jeder SiFu/SiGung sicherlich verstanden hatte, blieb das sich bietende Bild das gleiche: Ein souverän nebenbei referierender Großmeister ließ sich jetzt sogar von mehreren angreifen und noch im Erklären war er schon wieder weg und stand amüsiert und mit dem Schalk in den Augenwinkeln daneben, während die Gegner dies noch nicht einmal bemerkt hatten und sich plötzlich selbst gegenüberstanden. Auch wenn es wie Magie aussah, er vermochte wirklich alles bis ins Detail zu erklären und machte wieder und wieder deutlich, dass es keine Zauberei, sondern immer nur das richtige Timing war.
Zweieinhalb Stunden verharrte ich fasziniert und konzentriert auf meinem Stuhl. Ich bin dankbar, dass ich mit den Augen ein wenig mitlernen durfte.

Wenn es in meiner Vorstellung das Bild eines Großmeisters gab, dann hat dieser jetzt ein Gesicht: In Würde und Freundlichkeit zeigte Großmeister Kernspecht absolute Souveränität und benahm sich wie ein wirklicher innerer Meister. Er arbeitete die ganze Zeit hochkonzentriert und ohne Pause und weckte eine neue Begeisterung in den Herzen seiner Schüler, brachte Augen zum Glänzen und schuf eine ganz neue Art von Motivation. Er offenbarte alle Konzepte und jeder seiner Schüler fühlte persönlich, was möglich ist, auch wenn eine Annäherung erst durch intensives Üben, geistiges Reifen und Intuition umzusetzen sein wird.
Seine Art zu kämpfen, blieb nach seinen ausführlichen und verständlichen Erklärungen kein Geheimnis, aber gleichzeitig wird sie wohl immer geheimnisvoll scheinen. Vor uns stand ein Mensch, der Yin und Yang genau wie im Symbol verinnerlicht hatte und dessen Augen vor innerer Freude an dem, was er tat, leuchteten.
Es war uns eine große Ehre, diesen wunderbaren Menschen in der WingTsun-Schule Erfurt willkommen zu heißen.

Text: Sifu Holger Peter und Sandra Kaiser