Die zwei Seiten der Medaille
In den letzten Monaten erhalte ich viele enthusiastische Berichte von Teilnehmern an Meister Gutierrez' Seminaren, und selbst alte Hasen und Praktikergrade berichten mir begeistert, dass sie WT jetzt endlich verstanden hätten.
Victors souveränes Können als Praktiker steht außer Frage. Ich hätte keinen besseren Mann für seine Aufgabe finden können – nämlich mitzuhelfen, die allgemeine Einstellung zu verschieben: vom klugscheißerischen „Ätsch, ich weiß etwas, was Du nicht weißt“ zum realistischen „Ich komme mit wenigem aus und kann es anwenden“.
Die Begeisterung spricht für Victors Überzeugungskunst und Können und dafür, dass ich die richtige Wahl getroffen habe. Victors Meisterschaft zeigt sich darin, dass er ein praktizierbares Übungsprogramm unterrichtet und komplizierte Sachverhalte einfach und damit verständlich darstellen kann.
Ich möchte diese Gelegenheit nutzen, meinem Meisterschüler Victor meine Anerkennung auszusprechen!
Aber dennoch gilt mein oben Gesagtes: Die Leute begreifen das WT, das sie begreifen. Aber das ist nur das halbe WingTsun!
WT ist wie eine Medaille mit zwei Seiten. Die Seite, die sich am klarsten darstellen lässt, und deren Logik sich einem intelligenten Menschen sofort erschließt, ist die eine Seite des Gesamtkonzeptes des WT. Diesen Teil des WT stellte ich 1987 in meinem Buch „Vom Zweikampf“ zum ersten Mal vor und das war möglicherweise die Voraussetzung für den Siegeszug des WT in Europa.
Die in unserem Bestseller propagierte Strategie ist die Strategie des präventiven „Vorwärtsverteidigers“. Sein Motto ist: „Angriff ist die beste Verteidigung.“ Wir greifen den Gegner (mit Eigensicherung und Universallösung) so an, dass er entweder getroffen wird oder dass er, in der Absicht, unsere Arme zu behindern, mit ihnen Kontakt aufnehmen muss. Damit liefert er uns zwingendermaßen eine Vorlage, auf die wir mit den vier „reflexartigen“ Automatismen (Bong/Tan und Djam/Kao) antworten und ihn mit schweren Fauststößen besiegen.
Diese „Ist der Weg frei, geh vor“-Strategie besteht aus aggressiver Verteidigung (technisch gesehen einem Angriff) in die Angriffsvorbereitung des anderen hinein und dem Aufzwingen einer begrenzten Auswahl uns schon vorher bekannter „Scheinlösungen“, auf die wir die „schlag“artige Antwort schon 10.000 Mal geübt und parat haben.
Die Universallösung (Vorgehen mit Hand und Fuß) mit Verfolgungsschritten und ständigen Fauststößen dreht den Spieß um und zwingt unseren Angreifer in die Verteidigerrolle.
Diese Hälfte des Gesamtkonzeptes des WT wird repräsentiert durch die vier chinesischen Zeichen:
Arme ohne Kontakt (oder Weg frei) – direkt vorwärts stoßen
Mit dieser Hälfte (übrigens der zweiten) des Gesamtkonzeptes hat jeder WTler vom Schüler mit nur 12 Monaten Übung bis zum 4. TG und höher die besten Chancen, als Sieger aus dem Kampf herauszukommen. Wir sprechen hier vom „Großen Fahrzeug“ des WingTsun, mit dem praktisch jedermann lernen kann, sich erfolgreich zu verteidigen.
Die andere, die offenbar unbekannte Hälfte (the road less travelled) des WT-Gesamtkonzeptes folgt ebenfalls vier chinesischen Schriftzeichen:
kommen – bleiben; weggehen – nach Hause begleiten
Diese Hälfte des Mottos beginnt nicht mit einem vorstürmenden Angriff, sondern folgt der klassischen Regel: „Bewegt sich der Gegner nicht, bewege ich mich auch nicht.“ Dass man natürlich auch nicht wartet, bis die Faust des Gegners getroffen hat, versteht sich von selbst.
Es beginnt mit der Einschätzung der Lage und des Gegners, mit Anteperzeption. Darauf folgt die Aufnahme des gegnerischen Angriffes, nach dem wir nicht suchen müssen, da er uns ja selbst finden will. Das Ganze natürlich nur mit leichtem Energiefluss, da übermäßiger Druck den Tastsinn herabsetzt. Der Tastsinn spielt hier aber die Hauptrolle, denn wir zwingen dem anderen nichts auf, sondern lassen ihn machen.
Bei diesem zweiten Teil des Konzeptes, dem Königsweg im WT, geht es nicht mehr um Kontrolle des Angreifers. Stattdessen wird ihm erlaubt, sich selbst die Grube zu graben, in die er stürzen will. Unsere Arme (Man-Sao) fragen ihn: „Wohin möchtest Du, dass ich Dich schlage?“
Im „WT-Konzept für jedermann“ erlaubten wir dem Angreifer nur wenige Bewegungen, auf die wir dann nachgebend und ergänzend eingehen, weil wir das Drehbuch schon kennen und seinen Ausgang.
Das „Meister-Konzept“ des WT verbirgt sich aber auf der anderen Seite der Medaille. Hier schränken wir den Gegner nicht ein. Er darf alles und wir machen alles mit. Wir surfen wenige Millisekunden auf der Woge des Prozesses der Interaktion, bis der Umkipp-Punkt (Tipping Point) sich einstellt. Dann trennen (Lat-Sao) wir uns „mit einem Schlag“ von dem Gegner, mit dem wir bisher partnerschaftlich verbunden (Chi-Sao) waren.
Die „Bleib dran an dem, was kommt, begleite es, wenn es sich zurückzieht!“-Konzeption des WingTsun erfordert sehr viel größeres Können als die Vorwärtsverteidigung und das BlitzDefence-Hilfsprogramm. Es ist das, was der Yip-Man-Schüler Bruce Lee die „philosophische Kunst der Selbstverteidigung“ nannte.
Während mein BlitzDefence-Programm auch trotz der Anfangssteifheit der Arme unter Stresshormon-Einfluss anwendbar ist, setzt die Meister-Strategie des WT komplette Entspannung von Geist und Körper voraus.
Die taktilen Reaktionen müssen deshalb unter Stresshormon-Einfluss eingepflanzt werden, so dass sie auch trotz des Stresses des Kampfes abgerufen werden können.
Ebenso stellt ein Antizipieren des Angriffes mittels Anteperzeption und dann das anschmiegende Adaptieren an ihn und das Ausnutzen des richtigen Augenblicks zum vernichtenden Konter ungleich höhere Anforderungen an Distanzschätzen, Tastsinn und Timing des WT-Kämpfers.
Wie durch das taoistische Yin/Yang-Zeichen symbolisiert, ist weder Aktivität noch Passivität, weder Direktheit noch Indirektheit, weder Weichheit noch Härte, weder Angriff noch Verteidigung absolut richtig. Das eine darf das andere niemals ausschließen. So muss im Angriff der Keim der Abwehr und in der Abwehr schon der Keim des Angriffes enthalten sein.
Der wahre Könner muss die ganze Formel, die Gesamtkonzeption, zur Verfügung haben, alles zu seiner Zeit, wobei die anspruchsvollere Hälfte das zu verwirklichende Ideal darstellt.
Diese Meisterstrategie ist auch deshalb befriedigend, weil wir uns mittels Chi-Sao mit dem anderen zu einer Einheit verbinden und ihn in uns und uns in ihm fühlen. Wir tasten und spüren im gleichen Augenblick und sind nicht mehr vom anderen getrennt. Statt hochmütig verachtender „Splendid Isolation“ wie beim Blitz-Angriff, der uns trennt, lassen wir uns zwischenmenschlich auf ihn ein. Mehr noch – wir versetzen uns in ihn hinein: Er wird ich und ich werde er. Dass wir ihn trotzdem – wenn nötig – mit einem kräftigen Schlag zu Boden schicken, paradoxerweise, damit er zu „Bewusstsein“ kommt und sein Verhalten ändert, ist Ausdruck echter Menschlichkeit.