Der Einfluss von GM Kernspecht auf unser WingTsun in der EWTO – Teil 1
Wenn man auf die Anfänge des WingTsun in Europa zurückblickt und objektiv betrachtet, welche „traditionellen WingTsun-Techniken“ ursprünglich von SiGung aus Hongkong nach Europa gebracht wurden und was er nach 35 Jahren Training, Forschung und Wissenschaft aus diesen Techniken für ein geniales und für jeden leicht erlernbares Selbstverteidigungsystem gemacht hat, erübrigen sich die Fragen nach dem, was einen Großmeister ausmacht und was er an traditionell überlieferten Techniken und Formen im WingTsun ändern darf und was nicht.
Das sind Fragen, die bei vielen alteingesessenen WingTsun-Lehrern und -Meistern, vor allem aber bei anderen WingTsun-Stilen und Mitbewerbern, immer wieder auftauchen.
Jedoch denke ich persönlich, dass man nicht von Ändern oder Änderungen sprechen sollte, sondern vielmehr von der Einflussnahme auf die traditionellen Techniken anhand von wissenschaftlichem und experimentellem Ausprobieren und Untersuchen der immer als heilig und hoch gepriesenen WingTsun-Prinzipen.
Es macht aber den Eindruck, dass sich nur sehr wenige andere WingTsun-Stile an diese Prinzipien halten und diese als Leitfaden für ihre Techniken oder ihr System nehmen. Oder sie leiern sie nur so runter und machen dann aber etwas anderes. Ob dies mit Absicht, Unwissenheit oder sogar durch das sture Nicht-verändern-Wollen der traditionellen Techniken kommt, sei dahingestellt.
Es ist eben einfacher und nimmt weniger Zeit in Anspruch, etwas, das schon da ist, zu lobpreisen und einhundert Gründe zu erfinden, warum etwas nicht verändert oder hinterfragt werden sollte und darf, als sich selber einen Kopf darüber zu machen, was man all die vielen Jahre so beim Trainieren treibt.
Wer sich in diesem, meinem letzten Satz selbst wiederfindet, dem möchte ich ein Zitat von Adolf Holl ans Herz legen:
„Wer zweifelt, der denkt.“
Genau betrachtet, hat SiGung auch nicht eine einzige traditionelle Technik verändert. Das traditionelle Programm mit den traditionellen Formen ist nach wie vor Bestandteil unseres WingTsun innerhalb der EWTO. Ich bin mir auch sicher, dass SiGung nie vorhatte, dies zu ändern, denn wie heißt es doch so schön: „Egal, wo du auch hingehen magst, vergiss nicht, von wo du gekommen bist.“
Der Leitfaden, und nach wie vor der wichtigste Teil auch für die neuen Unterrichtsprogramme der EWTO von SiGung Kernspecht, sind die WingTsun-Prinzipien, wie sie seit jeher überliefert wurden.
Was verändert wurde, ist das Verständnis von den Prinzipien, deren Bedeutung und Anwendung innerhalb der Techniken. Es wurden keine Bewegungen weggelassen, es wurden aber auch keine hinzugefügt.
Es wurden keine Namen verändert, sie werden nur nicht mehr so oft genannt.
Durch die Namensgebung der „End“-Positionen in den Bewegungsabläufen, die eigentlich Reaktionen sind, kam es zu einer Reduzierung auf diese fixen Positionen, wodurch das Ganze ein eher statisches System wurde. Dabei ist die Namensgebung nur nötig, um einen anderen zu unterrichten, damit dieser etwas hat, woran er sich festhalten und sich orientieren kann, wenn der Meister mal nicht zur Hand ist.
Legt man den Fokus auf die WingTsun-Prinzipen und versucht, diese auf die Bewegungen und auf das Bewegungsmuster im WingTsun anzuwenden, wird man sehr schnell zugeben müssen, dass das ReakTsun mehr WingTsun ist, als das, was so manch alteingesessener und traditionell bewusster WingTsun-Lehrer oder -Meister bis jetzt an WingTsun praktiziert hat.
Wenn man SiGung einmal nicht als Großmeister betrachten, sondern ihn vielmehr als Wissenschaftler und Ingenieur sehen würde, der Althergebrachtes untersucht und durch seine Erkenntnisse, Arbeit und Forschung an unsere heutige Zeit anpasst, dann würde auch den größten Zweiflern und Neidern unter uns ein Licht aufgehen, dass es sich hier nicht um Veränderungen, Anmaßung oder Höhenwahn handelt, sondern einfach und allein um die Genialität eines Mannes, der seine Arbeit, Zeit und jahrzehntelanges Training dafür aufgebracht hat, dieses System zu verbessern und zu perfektionieren, für alle, die nach ihm kommen werden. Er hat sein Leben ganz und gar dem WingTsun verschrieben.
Man hört und liest so oft: „Ja, der Kernspecht, der spinnt jetzt komplett.“ Oder, was ich hier in Spanien oft zu hören bekomme, da hier leider das „BlitzDefence“ und „ReakTsun“ völlig fehlten, als ich kam – von den 4 Routinen möchte ich erst gar nicht sprechen: „Das, was die EWTO jetzt macht, ist kein WingTsun mehr.“
Ich bin mir sicher, und nicht nur ich, sondern insbesondere die, die schon länger als ich dabei sind, müssen zugeben, dass wir nie mehr WingTsun gemacht haben als mit dem WingTsun des 21. Jahrhundert, das, wie ich denke, mehr auf den Prinzipien des „traditionellen WingTsun“ beruht als jemals zuvor.
Man möge sich vorstellen, die Menschheit wäre mit allem, was wir heute so an Technik in unserer Welt haben, so umgegangen wie mit dem Tabuthema, „etwas am ‚traditionellen WingTsun‘ zu verändern“.
Nehmen wir als Beispiel die Fahrzeugindustrie: Die wenigsten Frauen könnten heute ein Auto selber fahren, nicht wegen ihrer Fahrkünste, nein, sondern vielmehr, weil die meisten Frauen mit dem Auto gar nicht loskämen, da sie die Kraft nicht hätten, es mit der 5 kg schweren Handkurbel zu starten.
Also sind wir dankbar, dass es Menschen wie SiGung gibt, die sich um bestehende Dinge einen Kopf machen, wie sie noch besser gemacht werden können.
Eines der besten Beispiele, das mir zu diesem Thema einfällt, kommt von Albert Einstein. Als einer seiner Studenten einmal zu ihm kam und sagte: „Herr Professor, wir haben uns mit einigen anderen Studenten über deren Fragen der letzten Prüfung unterhalten. Was mir dabei aufgefallen ist: Es sind dieselben Fragen gewesen, die ich vor vier Jahren hatte. Glauben Sie nicht, Herr Professor, dass Sie dadurch das Schwindeln erleichtern?“
Einstein schaute seinen Studenten mit einem Lächeln an und sagte: „Gut beobachtet, Sie haben recht, es sind genau dieselben Fragen wie vor vier Jahren. Jedoch es erleichtert keineswegs das Schwindeln, denn die Antworten auf die Fragen haben sich in den letzten vier Jahren geändert.“
Denn Wissenschaft und Forschung bleiben nicht stehen, es geht immer weiter. Neue Erkenntnisse geben neue und bessere Antworten auf jahrhundertealte Fragen, die allen zugutekommen.
Warum sollte das mit WingTsun anders sein?
Genauso, denke ich, hat SiGung das mit WingTsun und dessen Prinzipien gesehen: Das System ist jetzt über 250 Jahre alt. Mit Sicherheit sind die Gefahrensituationen von heute nicht mehr dieselben, die sie es damals waren. Und wahrscheinlich waren sie in China schon damals anders als in Europa.
Also sollte man auch das WingTsun danach anpassen.
Sprechen wir doch lieber von „Anpassen an neue Situationen“ als von „Verändern altbewährter Techniken“
Wer von den älteren Schülern – jetzt alles selber Lehrer und Meister –, mag sich an die Zeit zurückerinnern, als man von SiGung beim Versuch, den Ellbogen zu heben, mit einem PakSao auf den Ellbogen bestrafft wurde, dass es einem die Tränen in die Augen drückte und einen kurzzeitig vergessen ließ, was man eigentlich vorhatte. Lediglich auf einen mit tiefem Ellbogen ausgeführten Fauststoß war es erlaubt, einen BongSao auszuführen und so den Ellbogen über dem Handgelenk zu haben.
Wer SiGung von früher kennt, weiß sehr gut, dass er mal sehr, sehr viel dickere Arme hatte und auch wesentlich mehr auf die Waage brachte als heute. Da kam ganz schön was auf dich zu, wenn er seinen Armen freien Lauf ließ.
Wobei ich eines dazu sagen muss – und ich glaube, keiner wird mir widersprechen: „Obwohl er heute sicher 30 kg weniger wiegt als früher, merke ich nicht, dass seine Schläge weniger schmerzen als früher.“ Das heißt für mich, dass er irgendetwas beim Training richtig gemacht haben muss.
Wenn man heute, nach der Einführung von „BlitzDefence“ und „ReakTsun“ darüber nachdenkt, muss man lachen und es kommen einem wieder so schmerzhafte Erinnerungen in den Sinn.
Das mit dem tiefen Ellbogen ist auch heute noch so im „traditionellen WingTsun“. Was sich aber auch da geändert hat, ist, wenn man es mal nicht macht, wird es nicht gar so streng geahndet wie früher. Weil die Programme klarer strukturiert sind und man weiß, wo was hingehört. Der tiefe Ellbogen gehört ins LatSao-Programm, um seinem Schüler einen Widerstand zu geben, damit dieser seinen BongSao üben kann. Es ist nur ein Trainingselement für das ChiSao-Training. Es kommt eben drauf an, wer gerade was trainiert, und daraus ergibt sich, was mit dem tiefen Ellbogen gemacht wird.
Ja, das waren noch Zeiten mit dem tiefen Ellbogen …
Zurückschauend muss man auch erwähnen, dass alle mit den Programmen gut zu recht kamen, die bis dato in der EWTO eingeführt und trainiert wurden. Die Erfolge der Schüler waren beachtlich und nicht von der Hand zu weisen. Keiner hatte sich bis dahin überlegt, ob da etwas falsch verstanden worden sein könnte. Warum auch? Es gab nicht wirklich einen Grund dazu, irgendetwas von dem, was wir trainiert haben, in Frage zu stellen. Also war die WingTsun-Welt in Ordnung und es wurde fleißig trainiert – alles war gut.
Außer für einen: SiGung Kernspecht
Und hier geht es um seinen Einfluss auf das WingTsun der EWTO und seine Arbeit – die Neuinterpretierung der WingTsun-Prinzipien in den neuen Unterrichtsprogrammen wie BlitzDefence und ReakTsun.
„Danke, SiGung. Fortschritt hat auch seine guten Seiten …“
Als ich nach einem Jahr erst so richtig begriff, was SiGung da eigentlich eingeführt hatte, stellte ich mir die Frage, wann er damit begonnen hatte, sich darüber Gedanken zu machen und das Erdachte zu üben. Was mir gerade einfällt, das muss ich ihn auch nochmal fragen!
Es wissen alle, wann BlitzDefence in der EWTO eingeführt wurde, aber wann kam SiGung der erste Gedanke und vor allem warum? (Anm. der Redaktion: vgl. WTW 35, S. 44f.)
Die neuen Unterrichtsprogramme: BlitzDefence und ReakTsun
Für alle die WingTsun betreiben, egal ob mit uns, der EWTO, oder anderen Systemen und Mitbewerbern: Willkommen im 21. Jahrhundert!
Jedem sollte heute klar sein, dass WingTsun kein Sport ist, sondern ein Selbstverteidigungssystem für jeden Mann und jede Frau, welches sich selbstständig durch seine Prinzipien an jede Situation anpasst: egal, ob für zuhause gegen den handgreiflichen Ehemann oder die handgreifliche Ehefrau oder für das Schulkind, das auf dem Nachhauseweg belästigt wird, oder für alle, die es auch beruflich nutzen müssen, wie Polizei und Militär.
Aber auch, um einfach eine schöne Kampfkunst zu praktizieren und dabei mit vielen anderen Gleichgesinnten gemeinsam Spaß beim Trainieren zu haben. Jeder, für seinen Gebrauch, trainiert es auf seine Art nach Anwendungsgebiet mehr oder weniger aggressiv.
Was auch jedem klar sein sollte, der ehrlich zu sich selbst ist, ist, dass man in eine echte Selbstverteidigungssituation nicht mit herkömmlichen und für das Training konzipierten Methoden, wie das LatSao oder ChiSao, hineingehen kann oder sollte. Außer, man will schön traditionell auf den Boden gehen.
Wenn man sich im Zeitalter des Internet die Videos ansieht, die dort zu finden sind, könnte man meinen, dass viele noch im 18. Jahrhundert und in China leben.
Man hat mir oft die Frage gestellt, warum ich viele Techniken und Anwendungen aus der Holzpuppe usw. anders mache als andere Lehrer oder Meister. Die Frage ist ganz einfach zu beantworten:
Ich sehe im WingTsun zwei Wege, die zu beschreiten sind. Es gibt noch mehr, aber dies sind die beiden wichtigsten:
Der eine ist der Weg einer großartigen, vielfältigen und sehr traditionellen Kampfkunst, in der man nach 40 Jahren Training vermutlich immer noch keine Perfektion erlangt hat, da dies nicht möglich ist, egal wie lange man es trainiert und übt. Es geht immer besser. Aber das ist eben die Kampfkunst WingTsun, die viele Menschen fasziniert. Auch mich. Dabei geht es nicht darum, dass jede Bewegung wirklich Sinn macht und tödlich ist. Nein, sie muss harmonisch zusammengefügt sein und kunstvoll aussehen. Es geht dabei auch um Körperbeherrschung. Die Funktionalität ist hierbei zweitrangig.
Der zweite Weg, den es zu beschreiten gilt im WingTsun, ist der der Selbstverteidigung.
Hier geht es um die Effektivität, die Anwendbarkeit in der Selbstverteidigung, mit Berücksichtigung aller Faktoren, wie Angst und Adrenalin, in einer Situation, in der es vielleicht um mein Leben geht. Hier haben wir keine Zeit für überflüssige und kunstvolle Bewegungen; denn keiner will – da bin ich mir sicher – in einer solchen bedrohlichen Situation kunstvoll sterben.
Also müssen bei der Schönheit und Vielzahl der Techniken Abstriche gemacht werden.
Das muss man zuerst verstehen, und dann – was viel wichtiger ist – für sich selber entscheiden, was man wirklich machen will: Kampfkunst oder Selbstverteidigung.
Sicher gehören beide Teile zusammen bis zu einem gewissen Punkt, aber ewig beides zusammen zu tun und zu trainieren, braucht viel Zeit. Ich persönlich denke, dass man beide Wege zusammen beschreiten kann, aber dass dann keiner von beiden richtig gut werden wird.
Eine Entscheidung – entsprechend der eigenen Ansprüche – im Vorfeld ist daher notwendig, um einen zielgerechten persönlichen Trainingsplan aufzubauen: wird mehr Zeit in Schlagkraft und Anwendungen investiert, weil ich diese für meinen Beruf benötige, oder werden mehr Formen und Sektionen trainiert, um sie perfekt und schnell abspielen zu können in der Realität jedoch so nie angewandt werden – aber es Spaß macht und ich bewege mich viel dabei.
Es spielt aber auch keine Rolle; denn jeder trifft seine persönliche Entscheidung, welchen der zwei Wege er beschreiten möchte. Darüber hinaus hat WingTsun ja für beide Wege eine Lösung. Deshalb ist es dumm und töricht zu behaupten, wie so oft zu lesen ist, BlitzDefence und ReakTsun seien kein WingTsun mehr: Sie sind nur eben mehr für die reale Selbstverteidigung.
Wie hat SiGung gesagt: „Eine Kampfkunst- oder Selbstverteidigungsart soll anhand ihrer Prinzipien festgemacht werden und nicht an den festgelegten Techniken, die sie beinhaltet.
Wenn eine Bewegung den WingTsun-Prinzipien folgt, ist es WingTsun.“
Es spielt keine Rolle, wie die Bewegung aussieht, und es ist egal, was alle anderen sagen.
Ich möchte versuchen, mit meiner Sicht und den Erklärungen von SiGung und seiner Auffassung der Prinzipien und WingTsun-Techniken, einen Einblick zu geben, was wirklich hinter und in den neuen Unterrichtsprogrammen der EWTO verborgen ist.
Und danach soll jeder für sich selber entscheiden, ob es noch WingTsun ist oder nicht.
BlitzDefence – Gleichgewicht und die Einheit des Körpers
Welche Konzepte aus den höheren WingTsun-Programmen hat SiGung ins BlitzDefence einfließen lassen?
Wenn man das BlitzDefence-Programm betrachtet, könnte der Laie und auch manch fortgeschrittener WT-Schüler denken, es handle sich um simple Bewegungen, die zwar logisch, jedoch ohne feste Herkunft sind und von jedermann erfunden worden sein könnten. Betrachtet man das Ganze jedoch aus Sicht des Erfinders, wird einem erst nach genauer Erklärung durch diesen bewusst, welche höheren WT-Programme Einfluss darauf genommen haben.
Konzepte, Techniken und Anwendungen aus Holzpuppe, Langstock und Doppelmessern haben ihren Beitrag dazu geleistet, das BlitzDefence-Programm so effektiv und schnell erlernbar für Anfänger zu machen.
Aber auch Fortgeschrittene haben ihren Vorteil aus dem BlitzDefence gezogen und es sich zur Hilfe genommen bei einem Angriff, der überraschend und ohne jede Vorwarnung kommt, um damit die ersten zwei bis drei Sekunden zu überbrücken.
In dieser kurzen Zeit eines Angriffs sind wir durch Hormoneinfluss, Angst, Stress und Adrenalin nicht voll handlungsfähig. Unser ChiSao funktioniert in dieser Zeit spärlich bis überhaupt nicht, da durch die vorher genannten Faktoren der Körper ein Notprogramm fährt, das uns in den meisten Fällen erstarren lässt und sämtliche Funktionen wie Feinmotorik oder Gefühlssensoren außer Kraft setzt, sofern man sich nicht gerade jeden Tag mit Sparring und realistischem Kampftraining (Polizei, Sondereinheiten usw.) auseinandersetzt und es trainiert …
So mancher Fortgeschrittene wird dies nicht gern zugeben, jedoch hat die Praxis und auch das Training in der Schule anderes ans Tageslicht gebracht.
Doch kein Grund zur Blamage. Das ist menschlich und kann durch intensives Training und Rollenspiele unter Kontrolle gebracht werden, so dass dieser Reflex der Erstarrung in einen des Angriffs umtrainiert wird.
In den ersten Sekunden eines Angriffs stehen dem nicht geübten Menschen ca. 20 – 40 % seines Könnens zur Verfügung, bis nach Nachlassen der hormonellen Einflüsse die volle Handlungsfähigkeit wieder zurückkehrt. Angeborene Reflexe und menschliche Handlungen in diesem Fall können sein: die Flucht, sofern dies möglich ist, oder das Verharren (Schreckstarre) bis der hormonelle Einfluss (Angst, Stress, Adrenalin) nachlässt.
Wenn es noch nicht zu spät ist und Sie noch auf den Beinen stehen, werden Sie, wenn es Ihnen möglich ist und der Gegner noch auf Sie einschlägt, in die Verteidigung oder in den Angriff (Kampf) übergehen.
Die Angst und das Adrenalin lassen aber meist nur unsere Arme und den Oberkörper erstarren. Daher können die meisten Menschen bei extrem großer Angst zwar ihre Hände nicht bewegen, doch weglaufen können sie. Selbst wenn die Arme und der Oberkörper sich vor Angst nicht mehr bewegen können, die Füße scheinen davon nicht betroffen zu sein und können so den Körper aus der gefährlichen Zone in Sicherheit bringen.
Durch das Training an der Puppe entsteht für viele der Eindruck, dass man beim Kampf die Innenposition beim Gegner einnehmen soll bzw. muss!
Dasselbe ist auch beim ChiSao der Fall. Jedoch hat SiJo Leung Ting herausgefunden, dass beim Training, genau betrachtet, man auch hier bei der fortgeschrittensten waffenlosen Technik, immer die Außenposition sucht, und dies schon beim ersten Angriff, und nicht, wie bisher geglaubt, die Innenposition.
Sich in die Innenposition seines Gegners zu bringen und sich von dort nach außen zu kämpfen, ist ein riskantes Vorhaben und sei auch nur sehr erfahrenen und fortgeschrittenen Kämpfern vorbehalten.
Aber warum sich in Gefahr begeben, wenn es von vornherein vermieden werden kann?
So verhält es sich auch beim ChiSao. Man befindet sich beim ChiSao permanent zwischen den Armen des Gegners und trainiert so die Innenposition. Es sollte aber sowohl beim PoonSao als auch beim ChiSao mehr darauf geachtet werden, die Außenposition zu trainieren.
1. Holzpuppe
Prinzip: Positionierung/Außenposition suchen
Bei den WingTsun-Anfängern im Training des PoonSao und ChiSao wird darauf geachtet, dass die Arme so schnell wie möglich geschmeidig und gefühlvoll werden, um den Angriff beim ersten Kontakt beim Ausstrecken der Arme so schnell wie möglich ganzkörperlich zu erfühlen und zu ertasten.
Der Anfänger kann aber beim überraschenden Angriff in den ersten Sekunden nichts damit anfangen, weil dies durch den hormonellen Einfluss unterbunden wird. Um diese ersten Sekunden zu überbrücken, werden im BlitzDefence die Konzepte der Holzpuppe zunutze gemacht: um den Angriff zu vereiteln und einen Gegenangriff zu starten und dies mit starren Armen in kürzester Zeit.
Denn das Konzept der Holzpuppe beruht darauf, dass die Arme sich nicht wirklich bewegen, sondern man immer versucht, die Außenposition einzunehmen und das schon beim Angriff und man reagiert mit den Beinen auf den Druck, den man nicht an die Puppe weiterleiten kann. Nicht weil der Fortgeschrittene beim Üben an der Holzpuppe vor Angst erstarrt, sondern weil er sich schon so starke Arme und einen guten Stand antrainiert hat, dass er sich nur noch bewegt, sollte der Angreifer um einiges stärker sein. So bleiben die Arme verriegelt an den Händen des Angreifers kleben und der Gegner drückt ihn mit seiner Kraft aus dem Todesstreifen heraus, denn er kann ja auf den starken Druck mit den Beinen reagieren und sich vom Gegner weg in Sicherheit drücken. Arme/Ellbogen – unbeweglich, Beine (Körper) – beweglich.
Genau dieses Konzept der Holzpuppe ermöglicht es, obwohl es erst dort Anwendung findet, einen Anfänger mit dem BlitzDefence-Programm so schnell wie möglich verteidigungsfähig zu machen. Da genau dieser mit dem Problem des Verharrens und den starren Armen zu kämpfen hat, jedoch aus einem anderen Grund.
Daraus entsteht beim Training auch der Irrtum, den man bei manchen Schülern beobachten kann, dass sie bei den Sektionen die Arme und den Körper zu früh gleichzeitig bewegen. Genau das ist in diesem (!) Programm noch nicht erwünscht; denn wenn ich die Arme bewege, soll am Anfang der Körper (Beine) stillstehen, bewege ich die Arme nicht, soll sich der Körper (Beine) bewegen.
Wohl gemerkt, das ändert sich spätestens mit dem BiuDjie-Konzept, das da heißt: Bewegt sich ein Teil, bewegen sich alle Teile. Sifu bewegt immer alles zusammen und betont das auch. Zum Beispiel in der Fähigkeit der „Einheit des Körpers“ geht es genau darum, dass ich alle Gelenke nutze und nur dort kurz verriegle, wo ich will. Diese „Einheit des Körpers“ wird dann später bei den Fortgeschrittenen auch in der Holzpuppe wieder eingesetzt. Aber hier erst einmal sprechen wir von Schülern. Also Schritt für Schritt.
Genauso verwechseln viele Schüler bei den Sektionen das sparsame Verlagern des Gewichts mit einer Gewichtsverlagerung mit zusätzlicher Wendung. Wenn ich mich übermäßig wende, um einem Angriff zu entkommen, bewege ich mich auf der anderen Seite zum Gegner hin und bin so wieder in seiner Reichweite. Mit einer minimalen Gewichtsverlagerung kann ich dem Gegner aber genau so gut ausweichen, um dem Angriff auszuweichen, jedoch mit dem Vorteil, dass ich frontal und seitlich zum Angreifer stehe, und kontern kann, statt seitlich daneben.
Deshalb hätte man auch mit der reinen Gewichtsverlagerung einen erheblichen zeitlichen Vorsprung gegenüber dem Angreifer, da der Weg, den man zurücklegen muss, um in Sicherheit zu kommen, viel kürzer ist als bei der Wendung.
Ein weiterer Irrtum ist, dass viele WT-Schüler beim Angriff zuerst einen Schritt zur Seite machen und dann seitlich auf den Gegner zugehen. – Falsch.
Wenn ich Angreifer bin, bewege ich mich immer direkt auf den Gegner zu, das ist der kürzeste Weg und nicht zuerst seitlich. Der Weg über die Seite wird angewandt, wenn der Gegner als erster angreift. Da er seinen Angriff auf mich ausgerichtet hat und diesen schnell und effektiv ausführen möchte, kann er seinen Angriff gegen mich nicht ohne Weiteres abbrechen, denn er konnte ja nicht vorhersehen, dass ich mich zur Seite bewege, um seinem Angriff auszuweichen und seitlich zu kontern.
Der Reagierende (Angegriffene) ist immer schneller als der Agierende (Angreifer). Reagieren ist schneller, da es auf unserem Reflex beruht. Agieren wird überdacht und geplant und ist daher langsamer: Der Letzte wird der Erste sein.
2. Langstock
Prinzip: Kontakt aufnehmen so schnell und so früh wie möglich und immer in der Außenposition bleiben.
Das Prinzip des Langstocks im BlitzDefence wird deutlich erkennbar, daran dass der Anfänger schon so früh wie möglich seine Hände in Position bringt. die schwache Hand vorn, um den Angriff so früh wie möglich zu erfühlen und zu ertasten, die starke Hand hinten für den Gegner kaum zu erkennen, um im richtigen Moment zu zuschlagen und den Gegner außer Gefecht zu setzten.
Durch die Positionierung beim BlitzDefence lässt der Anfänger dem Gegner nur eine einzige Möglichkeit offen, ihn anzugreifen, für den Gegner gut sichtbar, verlockend und einladend. Alle anderen Möglichkeiten sind von vornherein gut gesichert und abgedeckt, so dass er genau durch diese eine offene Türe kommen muss. Das nennt SiFu das „Torwart- oder Fallenstellen-Prinzip“.
Dies ist jedoch beabsichtigt: eine Falle für den Gegner, dass er genau in diese hineintappt und welche dann gnadenlos zuschnappt, ohne eine Möglichkeit zu entkommen. So bietet der Anfänger seinem Gegenüber nur ein einziges, mögliches Ziel, wohl wissend, dass er dieses ausreichend abgesichert hat.
Der Langstock ist in diesem Sinne nichts anderes als eine Verlängerung der Arme. Durch seine Länge erreicht man eine ausreichende Distanz zum Gegner. Man hat die Möglichkeit, schon sehr früh Kontakt mit ihm aufzunehmen (Länge), und anders als bei den Doppelmessern kommt hier wieder das ChiSao (ChiKwan) zum Einsatz.
Der Tastsinn wird durch den Stock an die Hände weitergeleitet. Sicherlich erfordert dies viel Übung, um es effektiv anwenden zu können. Das Ganze setzt natürlich auch ein fast perfektes ChiSao voraus, denn wer das ChiSao nicht mit den bloßen Händen beherrscht, wird dies kaum auf den Langstock umsetzten können.
Ein Vorteil beim Erkennen und Ertasten ist sicherlich die Länge des Stockes: Aufgrund der Länge hat man etwas mehr Zeit nach Kontaktaufnahme, um auf den Angriff zu reagieren.
Dies ist auch einer der Gründe, weshalb der Langstock erst nach Abschluss des waffenlosen WingTsun-Systems zum Einsatz kommt.
3. Doppelmesser
Prinzip: Die starke Seite macht alles.
Das Prinzip der Doppelmesser, bei dem die starke Seite (Arm, Bein) alles erledigt, sieht man im BlitzDefence daran, dass der Anfänger – egal, ob er gegen einen Rechtsausleger oder einen Linksausleger kämpfen muss – sich immer so positioniert, dass er sich in der Außenposition befindet und seine starke Hand als Schlaghand einsetzt. Durch dieses Prinzip werden die Techniken auf ein Minimum herabgesetzt und diese speziell noch auf die schon starke Hand eintrainiert, um so dem Anfänger eine reale Chance bei einem Kampf einzuräumen.
Im WingTsun wird allgemein darauf geachtet, dass beide Arme die gleiche Technik beherrschen und ausführen können. Dies scheint im ersten Augenblick von Vorteil zu sein, bei genauer Betrachtung und unter Bedingungen eines echten und realistischen Kampfes auf der Straße jedoch, könnte sich dies zu einem Nachteil entwickeln, der uns eine Sekunde kosten könnte.
Im realen Kampf kann genau diese Sekunde über Sieg oder Niederlage entscheiden. Das Problem liegt darin, dass wenn man eine Technik auf beiden Seiten gleich gut und gleich stark ausführen kann, es im Kampf kurz zur Debatte stehen könnte, welche Hand ich denn jetzt nehme, um den Angriff abzuwehren. Das ist die vorher erwähnte Sekunde des Nachdenkens. Jedoch könnte sich diese Debatte schon erledigt haben, wenn nämlich Ihr Gegenüber das nicht tut und einfach zuschlägt, Sie noch unglücklich trifft und Sie noch vor Ende dieser Sekunde zu Boden gehen.
SiGung Kernspecht erwähnte bei diesem Thema, dass er sehr stolz sei, manche Techniken nur auf einer Seite zu beherrschen, aber dort dafür richtig gut und sehr schnell. Dies sei im Kampf besser als auf beiden Seiten und in keiner Situation richtig gut, somit bräuchte er keine Zeit zum Nachdenken und hat mehr Zeit zum Kämpfen.
Ein anderer Aspekt sei, dass wenn man die ganze Trainingszeit für eine Hand aufwenden kann, die Trainingszeit nicht halbiert werden muss. Somit sei auch gewährleistet, dass die Technik sauber, schnell und perfekt auf eine Hand eingeschliffen wird, um im Kampf keine Kompromisse eingehen zu müssen.
Was hierbei zu beachten ist, oder besser gesagt, dabei nicht außer Acht gelassen werden darf, ist der wissenschaftliche Aspekt beim Trainieren. Um den sich bisher niemand gekümmert hat. Nicht im WingTsun.
Denn fast in allen Sportarten, die im Spitzensport vertreten sind, werden heutzutage die Trainingsmethoden mit teuren und zeitaufwändigen wissenschaftlichen Untersuchungen erprobt und erforscht, mit denen die Sportler ihr Training noch besser und effizienter gestaltenden können.
Dabei wird nicht nur wissenschaftlich erforscht, wie welche Bewegungen für bestimmte Sportarten aus- und durchzuführen sind (Biomechanik und Neurophysiologie), um maximale Ausbeutung der vorhandenen Kraft für einen maximal effizienten Bewegungsablauf zu gewährleisten (siehe Schwimmkanal für Olympiaschwimmer), sondern auch mit welchen Trainingsmethoden Zeit eingespart werden kann, bei gleichem Wirkungsgrad. Nur trainieren geht nicht, die Ruhephasen sind im Spitzensport genauso wichtig wie die eigentliche Trainingszeit.
Warum sollte das im WingTsun nicht gemacht werden?
Das hat auch SiGung sich vermutlich gefragt und hat es dann auch gemacht.
Bei der Suche nach Möglichkeiten, sein Training im WingTsun zu optimieren, hat SiGung festgestellt, beim Austausch mit Sportwissenschaftlern, dass unser Körper mit einem sehr komplexen und sehr gut funktionierenden System ausgestattet ist, was das Lernen von Bewegungen betrifft. Es sind die taktil-kinästhetischen Fähigkeiten, die unser Körper besitzt, die wir uns zunutze machen können, was SiGung ja schon seit Längerem tut.
Was taktil-kinästhetische Fähigkeiten (wie z.B. Dribbeln und ChiSao) angeht, gehen diese, wenn sie von der linken Hand erlernt worden sind, fast automatisch auf die rechte Hand über, ohne dass man dabei dieselbe Trainingszeit aufbringen muss.
Dieses bedeutet natürlich eine immense Zeiteinsparung beim Training, so dass man es effizienter gestalten kann. Wenn man das weiß, kann man sein Training entsprechend umstellen.
Die Techniken der Doppelmesser sind in acht Sektionen („die 8 Wege der Messer“) eingeteilt. Jede dieser acht Sektionen hat einen festen Ablauf und feste Bewegungen. Sie werden nicht nach dem Prinzip des ChiSao ausgeführt.
Bei den Doppelmessern (und allgemein gegen Klingenwaffen, die eine gewisse Länge überschreiten) kann kein ChiSao angewandt werden. Die acht Sektionen sind auf acht verschiedene Waffen ausgerichtet. Beim Training mit den Doppelmessern wird darauf geachtet, dass die Techniken auf die starke Hand „eingeschliffen“ werden, um sie mit höchster Effizienz im Kampf einzusetzen und dabei keine Kompromisse einzugehen.
Durch Erkennen, was der Gegner im Schilde führt, und Studieren, welche Angriffe er aus seiner Position ausführen kann, ist es dem Fortgeschrittenen möglich, den Gegner angreifen zu lassen und ihn dann am Ansatz seines Angriffes konternd auszuschalten. Die Techniken der Doppelmesser finden Anwendung auf die erste Bewegung des Gegners.
Agieren ist (entgegen der Ansicht vieler) langsamer als Reagieren, daher ist auch der, der den Angriff als Erster startet, oft im Nachteil. Der Erfolg in jedem Kampf beruht auf dem frühzeitigen Erkennen, was mein Gegenüber geplant hat und welche Aktionen (Angriffe) er gegen mich setzten kann.
Wer dies beherrscht, gewinnt meistens.
Durch die Erläuterungen und Erklärungen der Prinzipien der höheren WingTsun-Programme wird uns klar vor Augen geführt, welche effektiven und gefährlichen Komponenten aus Holzpuppe, Doppelmesser und Langstock dazu beigetragen haben, das BlitzDefence so effektiv und schnell erlernbar für Anfänger und für Fortgeschrittene zu machen.
Es werden sich auch jetzt einige höher graduierte WingTsun-Schüler hüten, das BlitzDefence als reine Anfängersache abzutun, denn früher oder später werden sie darauf zurückgreifen müssen. Spätestens dann, wenn die Holzpuppenform zur Prüfung ansteht und noch weit weg von Doppelmesser und Langstock. In diesem Sinne sind uns die Anfänger schon einen Schritt voraus.
Als das BlitzDefence nach fast vier Jahren in der EWTO fester Bestandteil des Trainings war, dachten viele: „Mann, was für ein geniales Ding.“ Was wirklich drinsteckt, um das haben sich die wenigsten gekümmert. Hauptsache war, es funktioniert.
Kaum haben sich alle an das BlitzDefence gewöhnt, es trainiert und es begann zu funktionieren, da kam SiGung mit seiner nächsten Anpassung daher:
Diesmal mit „ReakTsun“ und „das Ziel ist WEG“.
Text: Stefan Črnko
Fotos: Hubert Ferroni